Max Halbe
Jo
Max Halbe

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9

»Befehlen Frau Baronin das Frühstück vielleicht ans Bett?« fragte Marie, die Jungfer, als sie um sieben Uhr, zur gewohnten Stunde, wecken kam. Sie hatte die grünen Gitterläden geöffnet, die dunkelblauen Vorhänge zurückgezogen, deren dichtes Gewebe keinen Sonnenstrahl durchließ, und stand jetzt in besorgter Haltung vor Ninas Lager.

»Frau Baronin sehen angegriffen aus. Frau Baronin sollten sich schonen. Die Nacht war auch wieder zu heiß.«

Ninas blonder Kopf lag tief in die Spitzenkissen gebettet. Die blauseidene Decke ließ den schlanken Hals und die weißen runden Schultern frei. Ihre noch etwas schlaftrunkenen Augen, die sich vor der hereinbrechenden Lichtflut des Sommermorgens schmerzhaft geschlossen hatten, öffneten sich zögernd wieder, tasteten sich gleichsam aus dem Purpurmeer des Traumreichs zurück in diese hartkantige Körperwelt und blieben schließlich mit Wohlgefallen auf dem jungen Geschöpf dicht vor ihr haften.

Nina liebte hübsche Gesichter in ihrer Umgebung. Sie begriff nicht, wie so manche ihres Geschlechts nur Vogelscheuchen um sich dulden könne. Mädchen, Frauen, mit denen sie zu tun hatte, mußten auf irgendeine Weise reizvoll und anmutig sein. Das gehörte zum Beruf des Weibes. Männer ...? Naja! Aber ein Stubenmädchen oder eine Zofe oder selbst eine Freundin, die häßlich war ...? Nein! Hätte ihr etwa vor dem Wettbewerb bange sein sollen?

Marie mit ihren runden Kinderaugen, dem niedlichen Stumpfnäschen, der zartrosigen Hautfarbe und der Fülle weichen braunen Haars war in der Tat ungewöhnlich hübsch, so daß Nina immer wieder ein Vergnügen daran fand, sie anzusehen. Das achtzehnjährige Geschöpf war dankbar und vergalt ihrer Herrin die gute Behandlung durch unbedingte Anhänglichkeit und durch zuverlässige Verschwiegenheit. Nina wußte besonders das letztere zu schätzen. Vielleicht spielte auch ein dunkles Erinnern an eigene Schicksale mit. Zwischen Herrin und Zofe bestand – innerhalb der gegebenen Grenzen – eine Art von Zuneigungs- und Freundschaftsverhältnis.

Nina, die sonst sehr regelmäßig am Familienfrühstück teilnahm und es mit ihrer Hausfrauenstellung ziemlich genau hielt, beschloß heute eine Ausnahme zu machen. Die Nacht war wirklich zu heiß gewesen. Marie hatte recht. Man war so schwüle Sommernächte gar nicht gewöhnt. Hier in Dietramsried, unter diesen fatalen Großvaterbäumen – so nannte sie ja Brandstädter –, die einem alle Sonne und alles Licht nahmen, pflegte es in vergangenen Sommern schon gegen Abend kühl zu werden. Oft fror man nachts. Dieser Sommer hatte es anders vor. Die Natur schien auch ihre Launen zu haben, nur daß sie die entgegengesetzten Wege ging, wie die eigene Laune. Wenn man sich früher über die feuchte Kälte beklagt hatte, die kein Sommergefühl aufkommen ließ, so war es jetzt umgekehrt. Als ob plötzlich Italien über die Alpen gerutscht wäre!

Aber dort war man darauf eingerichtet. Am Lido, in Rimini, in Viareggio – o holde Zeiten! – lag man den ganzen Tag so gut wie nackt auf dem glühenden Sand wie auf einem Rost und trank Sonne und blauen Himmel und nicht zuletzt die werbenden Blicke der auf- und abwandelnden Männerwelt, die in ihrem Durcheinander von bunten Strandkostümen und weißen Kapuzenmänteln bald an die »Zauberflöte«, bald an die »Schöne Helena« erinnerte. Wie anders die kurze Badestunde hier am einsamen Seestrand! Man hüpfte wie eine Bachstelze auf dem harten Kiesgrund herum und die einzigen Zuschauer waren die Bäume des Parks, die gleich einer Garde von Großvätern mit würdigem Wipfelnicken dabeistanden ... Großer Gott!

Nina seufzte aus tiefer Brust auf und ließ sich von Marie, die sie währenddessen frisiert hatte, den kristallnen Handspiegel reichen. Blaß! Sehr blaß! Es war auch zu viel, was gleichzeitig auf sie einstürmte. Rudolfs verliebtes, immer ein wenig verrücktes Ungestüm, Hans Lebrechts verdächtige Hellsichtigkeit, Brandstädters dunkle Trauermarsch-Phantasien, Neubauers halb lächerliche, halb bedrohliche Bocksprünge, die Wirrnisse mit der Waldbühne und mit Rudolfs Jo – wer weiß, was da noch bevorstand! – und hinter dem allen die fortdauernde Ungewißheit über die eine Frage, an der die ganze Zukunft sich beschloß, auf die wie auf den Zielpunkt im Fernglase jeder ihrer Gedankenwege seit Tagen mündete. Was Wunder, daß ihr der boshafte Spiegel eine zerknitterte Leidensmiene zeigte, eine jämmerliche Fratze ihrer selbst! Man hätte sich anspucken mögen, wäre nicht doch wieder etwas darin gewesen ... Ja! Warum es leugnen? ... Etwas, was ganz allein ihr gehörte, was vielleicht gerade ihren Reiz ausmachte, so sehr sie sich im Augenblick darüber ärgerte. Worin lag es eigentlich? War es das gewisse Leidende, Unschuldsvolle, Engelhafte und doch wieder Pikante in dem Gesicht? War es der Heiligenschein der blonden Haare, gegen den die dunklen Brauen über den unbestimmt schillernden Augen merkwürdig abstachen, als wollten sie zu verstehen geben, daß auch Engel nicht vor dem Sündenfall behütet sind?

Kopfschüttelnd und doch nicht ganz unzufrieden ließ sie das Glas sinken und folgte mit den Blicken Marie, die gerade hinausging. Wie glücklich solch ein Geschöpf! Keine Sorgen. Keine bänglichen Fragen. Lauter klare, einfache, gradlinige Dinge im Kopf. Na gut! Liebesgedanken. Aber auch die wohlgeordnet und übersichtlich, wie die paar Habseligkeiten in der Kommode.

Wer es auch so hätte! Warum mußte das Leben, je höher man stieg, desto komplizierter werden, so wie sich dies weiche, kokette, mit lauter Spielereien angefüllte Boudoir von Maries bescheidener Schlafstube unterschied? Mußten die äußeren Umstände denn wirklich so unangenehm auf den innern Zustand abfärben?

Nina kreuzte die schlanken Arme unter dem Kopf, nicht ohne mit einem Blick ihren kühlen Marmorton festzustellen, und sah versonnen zu den Rosengewinden empor, mit denen die sonst schmucklose weiße Zimmerdecke bemalt war.

»Mit was für dummen Gedanken man sich quält!« dachte sie. »Was ist, ist. Als ob man sein Fuhrwerk zurückschieben könnte! Neidisch zu sein auf seine Kammerjungfer! Hast du nicht all deinen Willen, dein ganzes Glück nötig gehabt, um gerade das nicht zu werden, was Marie jetzt bei dir ist?«

Nina fröstelte es plötzlich. War es die Kühle des Hochlandmorgens, die durch die offenen Fenster schauerte? War es die Erinnerung an eine dunkle, gefahrvolle, abenteuerliche Jugend? Sie zog die weiche, blauseidene Decke dichter um die runden, weißen Schultern, so daß sie mit dem matten Blond der aufgelösten Haare auf dem blauen Grund der Decke nun ganz den büßenden Magdalenen alter italienischer Meister glich, atmete tief auf und schloß die Augen, wie um sich den Bildern jener drohenden und zweifelhaften Jugend zu entziehen.

Aber jene Bilder waren trotzdem da. Das innere Gesicht unterschied deutlich die einzelnen Züge und Gestalten. Sie schienen hinter den dunkelblauen Fenstervorhängen herzuhuschen wie Scharen von hungrigen Mäusen. Sie rieselten aus den Rosengirlanden der Zimmerdecke auf sie herunter gleich den braunen Wanzen, die in den Stuben ihrer Kindheit zu Hause gewesen waren. Pfui! Wie häßlich, wie abscheulich das alles! Graue, kahle Häuser, finstere Stiegen, schmutzige Höfe, ungewaschene Kinder, sie selbst mitten darunter, tags Gelärm, Gerauf in den Gassen, abends mit knurrendem Magen unter die buntkarrierte Bettdecke. Eine verhutzelte alte Frau, die ihr vielleicht nur alt erschienen war, an Mutters Stelle. Denn dies gehörte zu ihren frühesten Erinnerungen, daß es da noch eine andere Gestalt gegeben hatte, jung, hübsch, fesch, – so stand wenigstens das Bild vor ihrer Seele und so wollte sie es sich bewahren – dieses Bild ihrer wirklichen wahren Mutter. Jetzt wußte sie es ja, hatte im Grunde immer gewußt, irgend etwas stimme da nicht. Jene verhärmte, zermürbte, alte Frau, die eigentlich noch jung war, nicht viel älter, als sie selbst heute – auch das wußte sie jetzt – hatte unmöglich ihre wirkliche Mutter sein können. Nicht die Spur eines kindlichen Gefühls hatte sie für sie gehabt. Oder bildete sie sich das alles erst nachträglich ein? Weil es ihrer Eitelkeit schmeichelte? Nein, nein, es war kein Selbstbetrug. Wenn jene andere Gestalt einmal in der engen, dunklen Wohnung, dort in dem Vorstadtviertel am Stadtbach, drei Stiegen hoch nach rückwärts, erschien, so war es gewesen, als würde eine geheimnisvolle Tür aufgeriegelt, hinter der es von Samt und Seide raschelte und nach Weihnachten roch, und ihr früh erfahrenes Kinderherz hatte sich im Arm der fremden jungen Frau mit einer Weichheit und Zärtlichkeit durchtränkt gefühlt, wie gegen kein anderes Menschenwesen, nicht damals und nicht später.

Freilich, die Besuche waren immer nur kurz und auch selten gewesen, aber vielleicht hafteten sie gerade darum mit dem Phosphorlicht des Märchenhaften in ihrem Gedächtnis. Sie fühlte noch die seidenen Rüschen am braunen Straßenkleid, gegen die sie ihren Kopf gedrückt hatte, und sah zum Greifen deutlich den breitrandigen Florentinerhut, der etwas schief und verwogen auf dem hochgesteckten hellblonden Haar schwankte. Solche Hüte trug man heute gar nicht mehr und auch das Kleid war ganz unmodern für jetzige Begriffe. Vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren hatte man solche Kleider und Hüte getragen. Wenn man alte Jahrgänge von illustrierten Blättern aufschlug, so standen sie vor einem, die Frauen von damals, ganz ähnlich angezogen, wie die fremde und doch so vertraute Erscheinung in der Dachwohnung am Stadtbach.

Die Frauen von damals! Nina durchzuckte es plötzlich wie von einem glühenden Eisen, das sich in ihre Seele senkte. Sie fuhr mit einem jähen Schreck von ihrem Lager in die Höhe, die seidene Decke glitt herunter. Sie merkte es nicht, starrte aufrecht sitzend ins Leere. Die Frauen von damals! Wie das klang! Die waren auch jung und hübsch und lebenshungrig gewesen, hatten geliebt und getollt und sich gesehnt nach irgend etwas, was nie kam, vielleicht, ja, was es am Ende gar nicht gab. O, sie, Nina, kannte das gut! Und jetzt waren sie alt und welk und vielleicht schon tot, gleich der fremden jungen Frau mit dem Florentinerhut, die sie an ihrem Bett hatte sitzen sehen und die ihre Mutter gewesen war. Mein Gott! Das war doch erst gestern, daß die Fremde mit dem feinen, etwas blassen Gesicht dort gesessen und sie ein bißchen verwundert, ein bißchen verlegen betrachtet hatte. Und wie viele Jahre war die nun schon dahin! So rasend schnell flog es von dannen, das Leben. Neunundzwanzig Jahre sie selbst schon alt. Wohl älter als ihre Mutter dazumal. Neunundzwanzig Jahre!

Das heißt, sie wurde es morgen. Ein ganzer voller Tag fehlte noch daran. Weiß der Himmel! Das hatte sie in der Wirrnis dieser Zeit beinahe vergessen. Und der Tag sollte sogar mit besonderer Weihe gefeiert werden. So war es Hans Lebrechts Wunsch. Generalprobe des Tasso auf der Waldbühne am Nachmittag. Einige geladene Gäste aus der Stadt. Abends großes Fest vor der Waldschenke. Ein Fürstenhof der Hochrenaissance, frei nach Goethes Tasso oder nach Bartholdys Jo, als Leitmotiv.

Nina, die soeben noch gefroren hatte, ward es plötzlich heiß. Was für ein Einfall von Ewald! Rudolfs Jo als Festmotiv für ihre Geburtstagsfeier! Gerade Rudolfs Jo! War das eine Anspielung? Eine geheime Spitze? Es hätte Ewald schon ähnlich gesehen. Ein Scherz, der in jeder Weise auf seine Kosten ging. Gerade solche Scherze liebte Hans Lebrecht. Aber dann ahnte er doch...? Wußte er doch...?

Nina fühlte eine unbestimmte Angst aufsteigen. Sie lauschte bang in sich hinein. Klopfte ihr Herz? Still! Ja! Sie hörte es. Es ging in dumpfen, starken und doch raschen Schlägen. Als ob in ziemlich weiter Entfernung mit der Spitzhacke auf hartem Boden gearbeitet, etwa Erdschollen ausgehoben würden. Erdschollen! Vielleicht für ein Grab?

Sie stieß mit einer Gebärde fliegender Angst das silberne Tablett mit der halbgetrunkenen Schokolade auf dem Nachttisch beiseite, daß es zornig aufklirrte, und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Sie kannte diese Anfälle. Wenn sie noch um ein Wimpernzucken länger in sich hineinhorchte, so war das Grauenvolle, das Fürchterliche da. Nur jetzt nicht daran denken! Nur um Gottes willen sich ablenken! Sich auf andere Gedanken bringen!

Sie fühlte die Kühle des Zimmers an den nackten Füßen. Das tat gut. Das erfrischte, beruhigte. Sie schob das weiße Ziegenfell und den dicken Teppich mit einem hastigen Stoß zurück, um noch mehr von dieser erfrischenden Kühle zu haben, vielleicht auch nur, um sich etwas zu tun zu machen. O! Sie hatte Erfahrung darin. So leichten Kaufs kapitulierte sie nicht. Sie biß die Zähne Zusammen, wie um durch den körperlichen Druck den Denkprozeß auszuschalten. Die Kälte des Bodens tastete sich mit Eisfingern an ihren Beinen empor. Jetzt war es wie ein kalter Umschlag, der ihren Leib umfing. Und doch fühlte sie, wie ihr der Schweiß, auf die Stirn trat. War das der Anfang vom Ende? Eine plötzliche, ganz unfaßliche, gleichsam tödliche Schwäche war da. Ihr Herz arbeitete in kurzen, schnellen, spitzen Schlägen. Sie hörte es eigentlich nicht und wußte es trotzdem. Wenn jetzt noch die Atemnot käme...! Aber nur nicht nachgeben! Nur standhalten! Standhalten! Sie fuhr mit den Händen nach ihrer Frisur, die Marie so schön hergerichtet hatte, tastete wie blind, wie bewußtlos an sich herum.

Marie trat wieder ins Zimmer, warf einen Blick auf die zusammengekauerte Gestalt am Bettrand und erschrak.

»Gnädigste Baronin...?! Mein Gott! Was ist? ... Liebe Gnädigste...?!«

Mit einem Sprung war sie bei ihr. Nina sah wie aus einem grauenvollen Traum auf, der mit Leichenarmen sie umklammert hielt: Ein Mensch! Es gab noch Hilfe, Rettung! Sie fühlte, wie die unsägliche Angst in der Herzgegend zu weichen begann. Auch der kleine rastlose Apparat da innen, der eben noch so wild galoppierte, schien wieder ruhiger zu werden. Marie hatte sie im Arm, streichelte sie, reichte ihr von den Baldriantropfen, die stets irgendwo in der Nähe sein mußten, liebkoste sie von neuem, alle Zärtlichkeit ihres Mädchenherzens über sie ausschüttend.

Nina ließ alles mit sich geschehen. Was für eine wohlige Lebenswärme aus Mariens Busen quoll! Ihr war. wie dem Kinde an der Brust der Mutter. Bis hierher reichte die Macht des Todes nicht. Sie atmete tief auf. Dem Himmel sei Dank! Der Anfall war abgeschlagen. Was jetzt kam, war die große Stille, war fast ein Gefühl der Wollust, dies alles erlebt und überstanden zu haben. Vielleicht hatte man im Augenblick des Sterbens, wenn der Krampf vorüber, ein ähnliches Gefühl.

Aber hieran durfte sie nun doch wieder nicht denken. Es war ein Spiel mit dem Feuer. Die Kälte an den nackten Füßen begann übrigens empfindlich zu werden. Marie bettete sie wie eine Puppe in die Kissen zurück, breitete sorglich die seidene Decke aus, von deren dunkelblauem Grund das gelöste mattblonde Haar sich wie auf den Magdalenenbildern alter italienischer Meister abhob, und faltete, auf einem niedrigen Hocker vor dem Lager der rasch Einschlummernden sitzend, ihre Hände, wie wenn sie vor dem Altar dieser Magdalena ihre Andacht verrichten wolle.


Als Nina um halb Zehn erwachte, mußte sie sich erst besinnen, wo sie sei und was denn eigentlich geschehen. Sie hatte so fest geschlummert. Es war ein so leichtes, jugendliches Gefühl in ihren Gliedern. Man hätte sich recken und strecken mögen, wer weiß wohin! Wenn jetzt Rudolf auf dem Polsterstühlchen an ihrem Bett säße... Aber da hatte ja zuletzt Marie gesessen, mit gefalteten Händen, als ob sie betete. Wo war sie denn?

Mit einemmal kam die volle Erinnerung zurück. Sie schloß die Augen und krampfte die Hände zusammen, wie um das Bewußtsein wieder auszulöschen oder herunterzuschrauben. Aber die Flamme brannte hell und grell weiter. In Nina regte sich der Trotz.

Also gut! Es war so. Sie hatte wieder einen von ihren Anfällen gehabt. Hatte sie ihn denn nicht überstanden, nicht niedergekämpft? Eigentlich war er gar nicht zum Ausbruch gekommen. Ihr Wille, ihre Kraft waren stärker gewesen, als das Grauenvolle, was in der Herzgegend lauerte, wie ein Gespenst in seiner Ecke, und sie mit Uhu-Augen anstarrte.

Einerlei! Sie wollte jetzt nichts davon wissen. Auch dies hatte seine Zeit. Auch Gespenster müssen auf ihre Stunde warten. Jetzt war wieder das Leben an der Reihe. Noch lebte sie. Ja, und sie würde auch weiterleben, allen diesen Gespinsten und Gespenstern zum Trotz. Sie fühlte die Kraft und den Mut dazu. Ihr Herz – sie überzeugte sich mit einem kurzen Griff unter die linke Brust davon – schlug ganz ruhig, ganz kühl, ganz sachlich, als ob nicht das geringste geschehen wäre, eigentlich gänzlich unhörbar und unfühlbar, wenn man nicht fest die Hand auf die Rippen preßte. Da tickte sie in ihrem Gehäuse, still und gemessen, wie jemand, der viel Zeit hat, die kleine unscheinbare Uhr, die aufgezogen wurde in der Mitternacht, wo unser Tag begann, und durchlief, immer, immer weiterlief die vielen, vielen, vielen Jahre bis zu der andern Mitternacht, wo unser Tag aus war. Du starkes, dauerhaftes, unergründlich kunstvolles Werk! Wie mußte man dich preisen! Wie mußte man dir danken, daß du dies alles aushieltest, Krampf und Angst und Qual, und Liebe und Rausch dazu, daß du dies alles überstandest und still und bescheiden weiterticktest in deinem dunklen Gehäuse, so viele, viele Jahre ...

Ein lösendes Gefühl des Glücks durchrieselte die junge blonde Frau, wie sie so dalag und ihre Augen in dem weichen üppigen Zimmer umherspazieren ließ, auf den hundert Kleinigkeiten einer zärtlichen und verliebten Laune ringsherum: Dies alles gehörte ihr, würde noch viele, viele Jahre ihr gehören. War sie nicht doch ein Sonnenkind? Hatte das Geschick es nicht gut mit ihr gemeint? Hatte Sophie nicht recht, daß etwas Märchenhaftes in ihrem Leben sei?

Und wem verdankte sie das? Wer überschüttete sie mit allem, was das Leben bot, erfüllte ihr jeden Wunsch, fast noch ehe er geboren war? Welch ein einziger Mensch war das doch mit all seinen Schrullen und Absonderlichkeiten! Kein junger Mann mehr. Kein stürmischer Liebhaber, kein Rudolf Bartholdy oder seinesgleichen aus fernen Tagen, von denen man sich kaum noch zu erinnern wußte, ob sie Traum oder Wirklichkeit. Kein unterirdischer Vulkan wie Brandstädter, wo es fortwährend in der Tiefe grollte und rumorte und man keinen Augenblick seines Lebens sicher war. Nein! Ein Mann, um ihn gern zu haben, ihm zu vertrauen, auf ihn zu bauen, ohne Taumel, ohne Überschwang, – wurde sie nicht neunundzwanzig Jahre alt? – ein Berater, ein Führer, ein Freund, wie man ihn braucht, wenn man von Mutter und Vater her leichtes Blut, Zigeunerblut in seinen Adern hat und dennoch vor der Welt sein Gesicht wahren soll wie eine englische Gouvernante. Schwierig, sehr schwierig das für eine, die am Walhalla-Theater angefangen hatte und durch so manches Künstleratelier gewandert war, von Sorgius und von andern! (War es ihre Schuld, daß ihr Vater Maler gewesen war, kein sehr bekannter freilich, dazu war er vielleicht zu zeitig gestorben, und daß es die Tochter nun wie mit Zauberhand an die gleichen Stätten zog, in die hellen, hohen, immer etwas verträumten Ateliers mit dem blaugrauen Zigarettendunst, den bunten Gewandfetzen und Stoffresten, den Zinnkannen, Messingleuchtern, Wandschirmen und heimlichen Ecken?)

Aber das alles war einmal! Von heute ab, nein, von morgen ab sollte ein neues Leben anfangen. Ihr neunundzwanzigstes Jahr sollte würdig beginnen. Heute abend zum letztenmal mit Rudolf zusammen, der Abschied von Jugend, von Liebe... Dieser eine Tag noch sollte ihnen beiden gehören, der Liebe, der Jugend... Und morgen der Ernst und die Würde und das ... Alter. Hans Lebrecht sollte erfahren, daß er eine Frau hatte, die seiner wert war. Noch heute... gleich in dieser Stunde wollte sie sich mit ihm aussprechen. Es mußte anders zwischen ihnen werden. Hans Lebrecht mußte an sie glauben lernen, endlich.

Sie richtete sich mit einem entschlossenen Ruck in die Höhe.

»Was für ein Wetter ist draußen?« rief sie Marie entgegen, die auf den Zehenspitzen eingetreten war und ganz verblüfft an der Tür stehen blieb. »Ich will, daß es schön ist, heute, am Vorabend von meinem Geburtstag.«

Und als Marie sich noch nicht gleich von ihrem Erstaunen erholen konnte:

»Rasch, rasch, rasch, Mädchen! Zieh mich an. Die Zeit vergeht. Das Licht verbrennt. Eine Schande, so in den Sommermorgen zu schlafen! Man verschläft ja sein Glück.«

Marie, der freilich solcher Stimmungswechsel nichts Neues war, kam strahlend vor Freude näher und beeilte sich, Nina anzukleiden. Während sie ihr die durchbrochenen Seidenstrümpfe anzog und das Spißenleibchen um die Hüften legte, mußte Nina plötzlich an ihre Klosterschulzeit denken, an jene grauen dumpfen Jahre zwischen Zehn und Vierzehn, wo nach dem Tod ihrer Mutter irgendein dunkler Wille, wohl der ihres Vormundes, sie von dem gefährlichen Pflaster der Großstadt in die streng gebundene Enge des kleinen Marktfleckens, zu Füßen des Nonnenbergs, verbannt hatte. Brave, oft rauhe Pflegeeltern, harte Zucht in der Klosterschule, Gebet, Singsang, Augenverdrehen von früh bis in die Nacht, viel grobe Arbeit in Haus und Küche, was zwar die Backen rot machte, aber die Hände schmutzig, derbe, ländliche Kost, die sie gar nicht recht vertrug, dabei die Seele bis zum Rande voll von heißen Wünschen und schwülen Bildern, die niemand erfahren durfte, kaum in der Beichte der Herr Kurat mit den schwarzen, merkwürdig bohrenden Augen... Wer ihr damals prophezeit hätte, daß einmal eine richtige Kammerzofe vor ihr knien und ihr die Strümpfe anziehen würde! »Waren Sie nicht auch im Kloster, Marie?« fragte sie ganz in Gedanken, verbesserte sich aber sogleich. »Ich meine, ob Sie nicht im Kloster erzogen sind?«

Marie nickte eifrig.

»Oh! Die waren streng, die Schwestern! Nicht rechts und nicht links hat man schauen dürfen.«

»Also immer das gleiche!« dachte Nina und verweilte mit ihren Blicken auf der brokatenen Altardecke, drüben an der Zimmerwand, die Ewald aus einem Buddha-Tempel mitgebracht hatte und die tausend Jahre alt sein sollte.

»Aber ein Waisenkind muß halt zufrieden sein,« fuhr Marie zutraulich fort. »Gut waren sie ja doch zu einem. Lernen haben sie mich halt alles lassen. Sonst hätt' ich doch nimmer die Stelle bei der Frau Baronin haben können.«

»Wie verschieden die Naturen sind!« dachte Nina, während ihre Augen von der glatten weißen Fayencefüllung des Waschbeckens zu den bunten Gallévasen des Toilettentisches wanderten, in denen die Vormittagssonne ruhelos blitzte und sich spiegelte. »Sie ist froh, daß sie dir die Schuhe zuknöpfen darf. Und du, was verlangst du alles vom Leben?«

Es kratzte und schnüffelte hinter der Türe.

»Marquis! Armer Marquis!« rief Nina. »Dich habe ich wirklich zu schlecht behandelt, die letzten Tage!«

Marie öffnete und Marquis erschien auf der Schwelle, einen halb forschenden, halb mißgünstigen Blick um sich werfend. Es war ein kleines schwarzes Ungetüm mit steil aufstehenden Hasenohren, kiemenähnlichen Luftlöchern in der kaum angedeuteten Stülpnase, grünschillernden Augen und roter Zunge, eine richtige Teufelsfratze, während Wuchs und Bau an eine Robbe oder Kaulquappe oder auch an eine dicke, runde Kröte erinnerten: seines Zeichens ein französischer Zwergbull.

Er stellte, als er Nina erblickte, seine kurzen, tütenartigen Ohren noch steifer als sonst auf, gab ein helles lächerliches Quaken von sich, das eine Art von Gebell sein sollte, und stürzte sich mit einem geduckten Sprunge, der ihm plötzlich das Aussehen eines kleinen schwarzen Panthers verlieh, auf Ninas Fußspitzen, über die Marie gerade die schokoladebraunen Samtschuhe gezogen hatte. Ihnen galt die ganze Wut und Angriffslust – oder sollte man sagen, Verliebtheit? – des kleinen schwarzen Unholds. Mit kurzem, heiserem Gekläff, ächzend, schnaufend, prustend, niesend, suchte er sich bald des einen, bald des andern von Ninas Schuhen zu bemächtigen, die sie ihm abwechselnd hinhielt, aber sein rundes stumpfes Karpfenmaul, aus dem die weißen Zähne bedrohlich hervorspitzten, glitt immer wieder davon ab, so daß das stete Mißlingen ihn schließlich zu einem ganz selbstvergessenen Ingrimm aufstachelte.

Nina lachte herzlich.

»Ist er nicht süß?« rief sie Marie zu, die sich beeilte, diskret mitzulächeln. »Mausi! Liebling! Beiß! Beiß! Einen Marquis so zu behandeln! Einen richtigen, edelgeborenen French! Sind das Menschen? Dein Frauchen ist sehr schlecht. Beiß dein Frauchen! Beiß! Beiß!«

Marquis schien einer solchen Aufforderung nicht zu bedürfen. Er bellte in seiner quakenden, durchaus lächerlichen Weise, sprang von links nach rechts und von rechts nach links, bleckte die rote Zunge aus dem kleinen Raubtierrachen, schnaubte, nieste und schnappte nach Luft wie ein Karpfen, der zu lange unter Wasser geblieben ist. Plötzlich nahm er einen Ansatz und sprang ohne weitere Umstände auf Ninas Schoß, indem er die schwarzen Pfoten auf ihre Schultern legte und seine kleine Satansfratze mit der unermüdlich schnuppernden Knopfnase in vertrauliche Nähe ihres Gesichts brachte.

Von dieser erhöhten Warte aus war es nur noch ein Schritt zu dem Zwieback und den belegten Brötchen, die Nina neben der Frühstücksschokolade unberührt hatte liegen lassen. Marquis' ganze inbrünstige Aufmerksamkeit wandte sich dem neuen Angriffsfeld zu. Seine Augen funkelten wie hellgrüne Glaskugeln aus dem schwarzen Fell, ungezügelte schrankenlose Freßgier beseelte jeden Nerv des kleinen Ungeheuers.

»Feß! Feß!« rief Nina. »Feß! Feß!... Du goldiger, kleiner Kerl!«

Sie hielt seine beiden Vordertatzen mit ihren Händen fest und versenkte sich in den Anblick der tiefgerunzelten schwarzen Teufelsphysiognomie. Sah er nicht wirklich aus wie ein gutartiger Höllengeist in Seehunds- oder Fledermausgestalt? Wo mochte da wohl die unsterbliche Seele stecken, von der Brandstädter redete und die durch unzählige Leben weiterwandern sollte, bis sie endlich im Menschen ankäme, bis so etwas wie Brandstädter oder Ewald oder auch wie sie selbst daraus würde?

»Ein Einfall, echt Brandstädter,« dachte Nina. »Nicht genug, daß man einmal stirbt! Nein, tausendmal soll man sterben! Schöne Aussichten! Er ist und bleibt ein Raubtier.«

Sie erwachte. Marquis war es müde geworden, angesichts belegter Brötchen auf den Knien seiner Herrin zu balancieren und mit den Vorderpfoten in der Luft zu hängen. Er hatte mit einem plötzlichen Ruck sich allen weiteren Betrachtungen entzogen und war, da der Sprung zu kurz ausfiel, in den Abgrund zwischen Ninas Knien und dem Frühstückstablett hinabgeplumst.

Von dort erhob er nun in seiner quakenden, durchaus lächerlichen Weise ein sehr geärgertes Gebell, während der kurze, runde, gedrungene Rücken sich zu neuem Sprung duckte und die beiden hellgrünen Glaskugeln vor ungezügelter, schrankenloser Freßgier aus dem Kopf quollen, als wären sie auf Stiele gesteckt.

»Bubi! Liebling!... Du meine Sonne! Schwarze Sonne!« rief Nina gerührt und steckte ihm den Zwieback und die belegten Brötchen, eines nach dem andern, zwischen die weißen spitzen Zähne und in den aufbleckenden roten Raubtierrachen.


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