Max Halbe
Jo
Max Halbe

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6

Hans Lebrecht von Ewald saß in dem geschnitzten Klosterstuhl, den Kaspar, der ältliche Diener, an eines der offenen Fenster der Bibliothek geschoben hatte, und stützte nachdenklich den Kopf auf die Armlehne. Ein leichter blauseidener Schlafanzug hing ihm nachlässig um die hageren Glieder. Ein Band seiner neuen Casanova-Ausgabe lag aufgeschlagen auf dem handlichen Lesepult, das an dem brauneichenen Chorstuhl befestigt war und sich beliebig verstellen ließ. Es war noch früh am Tage. Die alte englische Standuhr in ihrer beschaulichen Ecke zwischen den hohen Bücherregalen hatte vor kurzem Sieben geschlagen, und die schrägen Strahlen der Morgensonne bemalten die bunten Foliantenrücken und die Kupfer an der Wand mit ihrem grellen aufreizenden Licht.

Ewald war vom Oktober bis zum März Langschläfer, vom März bis zum Oktober Frühaufsteher. Er behauptete, daß man in seinen Lebensgewohnheiten nicht einrosten dürfe und sich nach Möglichkeit dem großen Pendelgang von Mutter Natur anpassen müsse. Der Zeitmesser seines täglichen Aufstehens stieg und fiel etwa im umgekehrten Verhältnis wie das Thermometer und hatte zur jetzigen Sommersonnwendzeit seinen niedrigsten Stand mit sechs Uhr morgens erreicht. Dabei ging er aber kaum früher schlafen als im Winter, so daß seine sommerliche Nachtruhe nur eine sehr kurze war, ebenfalls nach dem Beispiel des Sonnengestirns, als des großen Motors und Regulators unseres ganzen Weltsystems.

Ewald pflegte die Morgenstunden der hellen Jahreszeit meist in seinem Maleratelier zu verbringen, das er sich in dem Dachgeschoß des nördlichen Schloßflügels eingerichtet hatte. Für die dunklen und kurzen Tage des Jahres bestand in dem Giebelgeschoß des südlichen Flügels eine Arbeitsstätte von ganz anderer Art, ein Physikalisch-technisches Laboratorium mit Anlagen für drahtlose Telegraphie. Ewald hatte sein naturwissenschaftliches Herz eigentlich erst vor einigen Jahren entdeckt und gleich eine besondere Vorliebe für die junge Wissenschaft von den elektrischen Wellen gefaßt. Alle diese Dinge, die ungefähre Kenntnis ihres Wesens und ihrer praktischen Verwertung, gehörten ja doch schließlich in den Wirkungskreis, den man beherrschen mußte, wenn man dem Ideal eines Vollmenschentums im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts, nur eben mit zeitgemäßer Ummodelung, einigermaßen nahekommen wollte.

Vollmenschentum! Achtzehntes Jahrhundert! Ewald begannen die Augen zu leuchten und die Worte heller zu tönen, wenn er auf diese Begriffe zu sprechen kam. Sie erschienen ihm gleichbedeutend mit jeder höchsten Blüte des Menschengeistes. Nach dem Gesetz von Wellenberg und Wellental – so pflegte er sich zu äußern – war dem kultiviertesten Jahrhundert, dem achtzehnten, als Gegensatz das kulturloseste, das neunzehnte Jahrhundert gefolgt, worauf nun in dem angebrochenen neuen Jahrhundert bereits wieder ein Steigen der Flut sich ankündige. Man brauche ja nicht so weit zu gehen, wie es manche und nicht die schlechtesten Köpfe täten, daß man geradezu alles verleugne, was das vergangene Jahrhundert, dieses richtige Plebejerparadies, an Bereicherung und Vervollkommnung des äußeren Lebenszuschnitts, also der niedern Zivilisation im Gegensatz zur wahren innern Kultur, hervorgebracht habe. Wozu das Kind mit dem Bade ausschütten! Man könne das Gute nehmen, woher es komme, selbst wenn es eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts sei, wie Eisenbahn, Telegraph, Telephon, Automobil, Luftschiff und so vieles andere, wovon übrigens das meiste seine Keime bereits in jenem wahren Menschheitseden, dem achtzehnten Jahrhundert, habe. Weise man doch auch eine Geldzahlung nicht deshalb zurück, weil derjenige, der sie einem aushändige, schmutzige Finger habe. Nicht anders mit den sogenannten Errungenschaften der Neuzeit. Man benütze sie, mache sie sich dienstbar und bade seine Seele dann mit höheren, geistigeren Übungen von jenen äußerlichen Fingerfertigkeiten frei.

Zu den ganz großen Ungerechtigkeiten, die sich das vergangene Jahrhundert in seinem rationalistischen Dünkel hatte zuschulden kommen lassen, gehörte nach Ewalds Meinung die Entthronung und Absetzung der Astrologie, dieser königlichen Wissenschaft und Kunst zugleich, die so viele Jahrtausende ihren Platz in der Geistesgeschichte der Menschheit mit Ehren behauptet hatte. Auch hier habe verblendetes Plebejertum einer sich selbst überhebenden Wissenschaft die Weisheit der Vergangenheit Lügen strafen wollen. Das Ei habe wieder klüger sein wollen als die Henne. Ewald hielt es für seine Pflicht, gegen solche Ungebühr und Beschneidung, die man einem hochberühmten Zweig am Stammbaum des menschlichen Wissens antat, ganz öffentlich aufzutreten, indem er der verbannten und geächteten Wissenschaft eine Freistatt in seinem Hause eröffnete. Diese befand sich im Giebelgeschoß des Mittelgebäudes, zwischen dem Atelier und der Drahtlosen-Versuchsstätte, und war mit einem kleinen Astronomischen Observatorium stilgerecht vereinigt.

Sämtliche Dachräume des Schlosses, durch weitläufige Gange untereinander verbunden, dienten dergestalt den Liebhabereien des Hausherrn und versinnbildlichten in ihrem wunderlichen Nebeneinander die ganze geistige Spannweite und Vielfältigkeit des merkwürdigen Mannes, von dem die Volksmeinung mit hübscher Anspielung kurzweg behauptete, daß es in seinem Oberstübchen nicht ganz richtig sei. Ewald lächelte nur über derartige Urteile, die er eigentlich durchaus richtig fand, ja beinahe für sich in Anspruch nahm, als Beweis seines Andersseins gegenüber der großen Menge. Aber auch wenn Näherstehende ihre Verwunderung aussprachen über die kuriose Zusammenwürfelung von Astrologie und drahtloser Telegraphie, so pflegte er sich auf keine größere Debatte einzulassen, sondern nur mit ironischer Miene das Bibelwort heranzuziehen, daß in unseres Vaters Hause ja viele Wohnungen seien. Warum also nicht in der leiblichen Hülle des Menschen, diesem irdischen Ebenbild Gottes, viele Seelen?

Ewald hatte in der letzten Nacht noch weniger geschlafen als sonst. Eine dumpfe Schwüle erfüllte die Zimmer und legte sich wie ein schweres Daunenbett auf die Brust. Er war mehrmals aufgestanden und ans offene Fenster getreten, um Luft zu schöpfen. Eine seltsame Erregung hatte in seinen Nerven musiziert, wie wenn unsichtbare Finger über die Tasten glitten und irgend etwas Geheimnisvolles phantasierten. Der Bach, der durch den Park floß, hatte anders gerauscht als in andern Sommernächten, flinker, ferner, und doch auch wieder körperlicher, ja gleichsam sprechender, bedeutungsvoller, als ob er etwas sagen wolle, wofür nur den andern das Gehör fehle. Im Gegensatz dazu war die Stille der Nacht noch tiefer als sonst erschienen, das Rauschen des Wassers hatte sich als etwas ganz Getrenntes, Fürsichbestehendes, als eine streng isolierte Schallwoge von der ringsum wuchtenden Stille abgehoben, und dann war doch wieder ein unkörperliches, unfaßbares und dennoch fühlbares Murmeln von Stimmen, Gleiten von Schritten, Huschen von Schatten dagewesen. Eine Nacht so voll seufzenden Schweigens und gestorbenen Flüsterns, daß das Blut stoßweise gegen die Hirnschale klopfte, der Schweiß in dicken Perlen auf der Stirn stand und die Seele todesbang wie in einem Zwischenreich der Geister fror.

Erst der nahende Morgen hatte Entlastung, Kühle, kurzen Schlaf gebracht. Aber die überstandene Nervenspannung knisterte doch noch in allen Drähten wie ein soeben vorübergezogenes Gewitter, und ein weiches, lösendes Gefühl tropfte gleich einem warmen Regen auf die gepeitschten Sinne. Der junge taugetränkte Morgen quoll in starken Wellen durch die offenen Fenster der Bücherei, Vogelgezwitscher wiegte sich auf den feuchten Lindenzweigen und den buschigen Fichtenwedeln, ein Schwan ruderte wie eine lebendig gewordene Schiffsgallion auf dem kleinen Schloßweiher, dicht unter den Fenstern, und zog planlose Arabesken in die türkisblaue, von Sonnenklecksen übertupfte Flut.

Ewald genoß das alles mit der dankbaren, etwas lässigen und doch sinnenscharfen Hingebung eines gleichsam dem Leben Wiedergeschenkten. Er blätterte dabei in seinem Casanova-Band und ließ sein Auge auf den Kupfern ruhen. Wie erquickend diese klare, prickelnde Luft des achtzehnten Jahrhunderts, die ihn daraus anwehte, wie wohltuend die Sprache kühler, kluger Geistigkeit und zugleich weltumspannender Phantasie, in deren buntes Gewebe der große Abenteurer den Roman seiner Tage gekleidet hatte!

Sein Blick haftete an einem wahllos aufgeschlagenen Kupfer. Venedig... Der große Kanal ... Gondeln, Barken... Kleine Gärten mit Zypressen, zwischen die Häuser und Paläste eingezwängt... Ein Glockenturm mit Standarten, die aus den obersten Fenstern herabhingen ... Alles wie heute, scheinbar. Aber die Standarten hatten einen fremdartigen Charakter, und hier links, die kleinen zerstreuten Gruppen, das waren Gestalten aus einem andern Jahrhundert, Bürgermädchen in Reifröcken, Kavaliere mit Dreispitz, Zopf und Puderperücke: Menschen der Rokokozeit. War es nicht, als komme man im Traum in eine ganz fremde Gegend? Die Trachten sind alt, die Gesichter von ungewohntem Schnitt, die Sprache klingt fremd, und doch scheint alles vertraut. In einem von diesen Häusern könnte man wohnen. Hinter jenen verschlossenen Rundbogenfenstern, irgendwo, wartet die Liebe, das Glück. Alles erscheint leuchtender, geniehafter, schicksalsumzuckter. Leidenschaftlichere Herzen, vermessenere Taten, wilderes Begehren, heißeres Sichergeben, Leben und Tod enger verschwistert... Hier in den schwarzen schwankenden Gondelsärgen verschlungene Pärchen auf den weichen Polstern. Dort an den schlüpfrigen Marmorstufen der Häuser, der Paläste, zum Wasser hinab, der wartende Mord, wenn der Abend dämmert ...

Ewald strich sich über die Stirn. Seine Augen hafteten noch immer auf dem Kupfer, der aufgeschlagen vor ihm lag. Wohin war er entrückt gewesen? Hatte er gewacht, geträumt? Konnte es nicht sein, daß man wirklich für Augenblicke in eine andere Zeit zurückversetzt wurde? Wenn unser Ich, wie gestern erst wieder Brandstädter behauptete, unzerstörbar und unendlich war, durch ungezählte Formen, Gestalten, Zeiten gewandert war und weiter wandern würde, wenn es die Existenzen abwarf, wie die Schlangen ihre Haut, und in neue hineinschlüpfte: was verschlug es dann diesem Ich, das so allmächtig war über die Zeit, auch einmal für Augenblicke einen Sprung nach rückwärts zu machen und wieder zu sein, wie es vor Jahrhunderten war?

Ein abgründig wehes Gefühl durchzuckte den brütenden Mann in seinem brauneichenen Chorstuhl. Warum konnte man nicht zurückleben? Nicht umkehren, zu seinem Wunsch- und Wahljahrhundert zurück? Warum mußte man immer vorwärts, wie der Bauer auf dem Schachbrett? Weshalb durfte man nicht auch einmal Dame, Springer, Läufer sein in dem rätselhaften Schachspiel der Geisterwelt?

Ein breiter Schatten, der durch das offene Fenster hereinfiel, legte sich wie ein Riegel schräge über das sonnenbeschienene Buch auf dem Pult. Ewald schrak aus seiner Verschollenheit auf und sah Neubauer draußen vor dem Fenster stehen.

Er war ganz ländlich und sommerlich gekleidet, im cremefarbenen gestreiften Flanellanzug mit ziegelroter Krawatte, hellen Strandschuhen, ein rundes gelbes Strohhütchen auf dem würfelförmigen Kopf. Die Enden des kleinen schwarzen Galanteriebärtchens waren frisch in die Höhe gewichst und starrten wie Lanzenspitzen empor. Er hielt ein dickes Paket Zeitungen in der linken Hand und klopfte mit der rechten wohlgefällig darauf.

»Der Funkenturm hat sein zweites Signal gegeben,« rief er ins Zimmer hinein. »Das erste vor vierzehn Tagen kennen Sie, Baron. Hier haben wir das zweite.«

Er reichte Ewald das Paket durch das Fenster herein und fuhr fort:

»Die Zeitungen spitzen bereits die Ohren. Ich kenne meine Pappenheimer. Alles kommt auf die richtige Affiche an. Wenn ich Lebertran im großen Stil populär machen will, darf ich auch nicht einfach hingehen und ausrufen: Dort und dort ist Lebertran! Kauft Lebertran, ihr Leute! Das ist vieux jeu. Heutzutage muß man aufbauen, vorbereiten, Spannung erwecken. Ja, das ist das entscheidende Wort. Das Publikum, das Lebertran kaufen soll, muß in eine gewisse dramatische Spannung versetzt werden. Die Leute müssen geradezu fiebern nach Lebertran. Es muß wie ein Blutrausch über die Menschheit kommen. Richtiger gesagt, wie ein Lebertranrausch.«

Neubauer hatte sich in Hitze gesprochen. Er fuhr sich mit einem gelbseidenen Batisttuch über die mächtige Stirn und schnaubte wie ein Walroß, das an Land gestiegen ist.

Ewald hatte abwehrend beide Hände vor sich erhoben.

»Verschonen Sie mich mit weiterem Lebertran, Verehrtester!« sagte er trocken und schüttelte sich ein wenig. »Ich habe noch nicht gefrühstückt und bin überhaupt kein Freund von so fetten Sachen.«

Neubauer achtete kaum auf Ewalds Entgegnung. Er hatte ausgezeichnet geschlafen und fühlte das Bedürfnis, von der Fülle seiner Gesichte auch andern etwas abzugeben. Er fuhr also unbeirrt fort zu dozieren:

»Ich hätte natürlich statt Lebertran auch Rizinus oder Marmelade sagen können. Für den modernen Kulturpsychologen besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen einem Produkt der Materie wie Rizinus oder Marmelade oder Lebertran und einem Erzeugnis des Geistes, etwa dem ,Faust' von Goethe oder der ,Jo' von Rudolf Bartholdy. Das Entscheidende ist, daß alle diese Dinge hilflos in der Welt dastehen wie neugeborne Kinder, wenn ihnen nicht die Reklame beispringt und Ammendienste für sie übernimmt. Ja, mein lieber Baron, die Reklame, ich meine natürlich die ästhetisch und kulturell gehobene Reklame, ist die Nährmutter alles Großen in unserer heutigen Welt, und das ist nun der Punkt: Die Reklame vorher für ein Kunstwerk muß selber wieder ein kleines Kunstwerk sein, geradesogut wie die Kritik nachher.«

Er hielt einen Moment inne, um die Wirkung seiner Rede auf den andern festzustellen, und setzte dann hinzu, indem er seine weißgrünen Augäpfel hinter den großen blauen Gläsern schalkhaft rollen ließ: »Unter uns gesagt, Baron: meistens sind Reklame und Kritik zehnmal mehr wert als das betreffende Kunstwerk selbst. Das liegt in der Natur der heutigen Talentverteilung. Wir sind ein reproduzierendes Zeitalter. Die sogenannten Schaffenden sind meist nicht viel mehr als brave Schuster. Die Anwesenden p.p. natürlich ausgenommen.«

Ewald hatte zerstreut zugehört. Er blätterte in einer der Zeitungen und begann zu lesen.

Neubauer verfolgte interessiert den Eindruck auf dem Gesicht des andern.

»Was sagen Sie dazu?« fragte er schließlich. »Die Aufmachung! Die Spannungserweckung! Ein kleines Bijou! Was?«

Ewalds Stirn hatte sich verfinstert.

»Sie sind taktlos wie ein Commis-Voyageur, mein lieber Neubauer!« sagte er, nachdem er gelesen hatte, und legte das Zeitungspaket auf das Fensterbrett. »Wie kommt meine Frau in die Notiz hinein? Das frage ich Sie! Was hat die Baronin mit der Geschichte zu tun? Erklären Sie mir das.«

Neubauers käsiges Gesicht war noch um einen Ton blasser geworden.

»Ich verstehe nicht...,« stammelte er in einer Verwirrung, die ihm sonst fremd war und deren er zu seinem Ärger nicht sogleich Herr werden konnte. »Es wird doch nur auf eine ganz delikate Weise angedeutet, daß die Muse des Dichters, die ihn zu seinem Drama ,Jo' begeisterte...«

»Ihm dazu Modell gestanden,« fiel Ewald ziemlich heftig ein und griff von neuem nach den Zeitungen, wie um sie dem andern vorzuhalten. »In einzelnen Zügen vielleicht unbewußt als Modell gedient,« verbesserte Neubauer, der den Text auswendig wußte, mit Nachdruck. »Das ist ein himmelweiter Unterschied. Sie vergessen die Bedeutung der Valeurs. Der moderne Publizist, der zugleich Stilkünstler ist, arbeitet mit Schwebungen und Halbtönen.«

Ewalds lange, hagere Gestalt richtete sich aus ihrer Zusammengesunkenheit empor wie ein Taschenmesser, das aufgeklappt wird und seine Schneide zeigt. Seine Stimme hatte einen klirrenden Ton.

»Herr Neubauer! Die Baronin Ewald wünscht keine Verbindung mit der modernen Publizistik, auch nicht durch Schwebungen und Halbtöne. Und was mich betrifft, so schließe ich mich diesem Wunsche höflichst an.«

Neubauers bläulich bleiches Gesicht wechselte die Farbe wie der Kamm eines gereizten Puters.

»Gut! Gut! Gut!« keuchte er mit hochrotem Kopf. »Wenn man in Dietramsried keinen Wert mehr auf meine Bemühungen legt, so bedarf es nur eines Wortes. Habe die Ehre!«

Er zog sein Strohhütchen und ging seiner Wege.

»Sie haben Ihre Zeitungen vergessen,« wollte Ewald ihm nachrufen, aber Neubauer war schon hinter den Bäumen verschwunden.

Ewald hatte ein Gefühl des Ärgers. War er zu weit gegangen? Es hätte ihm um Rudolfs willen leid getan, wenn Neubauer Ernst machte und sich zurückzog. Um Rudolfs willen? Er lächelte bitter. Rudolf und Nina... Eine Wolke schattete plötzlich ins Zimmer. Wie stand es um die beiden? Wußten andere schon wieder besser Bescheid? Seine Hand griff mechanisch nach den Zeitungen, die Neubauer zurückgelassen hatte. Er blätterte und überlas die Notiz.

»Man spricht davon,« hieß es nach den einleitenden Sätzen, »daß die Muse des Dichters, die ihn zu seinem Drama begeisterte, ja ihm in einzelnen Zügen vielleicht unbewußt als Modell gedient, eine noch unvergessene und unersetzte ehemalige Künstlerin der Schaubühne sein soll, deren Stern, noch ehe er den Zenith erreichen konnte, vorzeitig für die Öffentlichkeit erlosch und jetzt nur mehr einem vornehmen und erlesenen Privatkreise mit seinem seltsam irritierenden Glanze leuchtet.«

Ewald ließ die Hand sinken.

Mit seinem seltsam irritierenden Glanze leuchtet... Er warf die Blätter weg. Ja, das waren in der Tat Schwebungen und Halbtöne, die sich hören lassen konnten! Wie mit Strychnin geschrieben erschien jedes Wort. Neubauer hatte nicht umsonst seine Lehrzeit in der Neuen Welt absolviert. Dort waren sie ja alle solche Meister des gedruckten Wortes, vom Arizonakicker und der Redaktion in Tennessee an bis hinauf zum Zeitungskönig in Neuyork. Man kannte die Leute. Vielleicht hatte der Herr Neubauer nebenbei auch eine kleine Studienreise zu jenen Indianern gemacht, die das Pfeilgift, das Kurare, handhabten. Ein Mann von vielen Graden jedenfalls! Warum sollte man ihm böse sein? Tat er nicht ganz das, was man von ihm erwartete, ja beinahe verlangte? Wenn man Schlangenbändiger war, so mußte man vor Schlangenbissen auf der Hut sein, und wenn man mit den Neubauers zu tun hatte, so galt es sich unverwundbar zu machen gegen Gift und Dolch. Wie? Er ein Forscher aller tödlich feinen Säfte und verlor die Fassung bei einem kleinen Experiment, nur weil es ihn selbst anging? Stellte die Eigenliebe solche Fallen? Wozu lebte man so viele Jahre in der dünnen Luft hoch über dem Menschengewürm, wenn man sich nun doch von seiner Moralpest anstecken ließ?

Er hatte sich geärgert? Es hatte ihm wehgetan? Das sollte nicht sein. Zuckt ein Arzt mit der Wimper, der Studien an sich selbst macht und dabei entdeckt, daß es ans Leben geht? Er griff wiederum nach den Blättern, überlas den Artikel von neuem und prüfte sich, ob er ruhig sei. Ja! Er war es. Er konnte beinahe lächeln. Also man zog bereits Schlüsse aus Rudolfs Dichtung? Vielleicht schon aus der Wirklichkeit? Wo war die Grenze zwischen beiden? Was wußte man? Was ahnte, munkelte man? Und was lag zwischen Wissen und Ahnen?...

Ewald erhob sich aus seinem Klosterstuhl und begann mit langsamen, etwas schleppenden Schritten, die Hände nach rückwärts gelegt, in der Bibliothek auf und ab zu gehen.

Vor allem, was sagte das Werk selbst? Rudolfs Werk? Welche Ausschlüsse etwa gab es? Correggio, der Meister auf der Höhe des Lebens, malt Parisina, die Gemahlin des Herzogs von Parma, seine heimliche Geliebte, in tiefster Verschwiegenheit als Jo von Jupiter umarmt. Niemand soll das Bild zu Gesicht bekommen, ehe nicht Parisina und Correggio vermodert sein werden. Aber im Rausch des Schaffens, des Vollendens vermag der Meister sein Geheimnis nicht zu wahren und entdeckt das Gemälde seinem Lieblingsschüler Francesco. Francesco verliebt sich in Parisina und entfremdet sie dem älteren Freunde und Meister. Der betrogene Gatte, der Herzog, kommt hinter den Betrug der drei: Parisinas Haupt fällt, indes Francesco flieht und Correggio als gebrochener Mann den letzten Trost in seiner Kunst findet. Über alles Menschenleid hinaus, unsterblich, bleibt das Bild selbst leben, die Gestaltung göttlicher Sinnenlust, das der Herzog vergebens in seinem Palast verschließt.

Ewald hielt inne und nickte vor sich hin. Die Herzogin, das war Nina, Francesco Rudolf. Correggio konnte er selbst sein. Vielleicht war auch Brandstädter gemeint. Dann kam die Rolle des Herzogs aus seinen Teil. Die Fäden verwirrten sich hier, waren vielleicht mit Absicht durcheinander gewirrt. Einerlei! Der Herzog oder Correggio: beide waren betrogen.

War man denn nicht stets der Betrogene, wenn man als alter Knabe ein junges Weib nahm und es auf seine eigene, sehr persönliche Weise liebte, sein begehrte, nicht von ihm lassen konnte?

»Wer liebt, hat immer die schlechteren Karten,« murmelte Ewald halblaut und setzte seinen Gang zwischen den hohen Büchergestellen fort. »Wer kalt bleibt im Spiel der Geschlechter, gewinnt, und wie sollte ein junges Weib nicht kalt bleiben gegenüber einem älteren Mann? Ausnahmen sind zu zählen. Die Nutzanwendung auf den eigenen Fall ist klar.«

Er schüttelte den Kopf. Was hatte das noch mit Rudolfs Gedicht zu tun? Hirngespinste! Sie stiegen wie Nebelfetzen auf, flogen hierhin, dorthin, flossen durcheinander, entwirrten sich, ballten sich neu. Niemand konnte sie greifen, sie festhalten. Warum verirrte man sich auch in das trügerische Sumpfland der Phantasie, der Dichtung? Wer wollte aus dem Gesprieße und Gewucher der Verse, aus all dem schillernden, klammernden, ineinander verschlungenen Seelengerank die einfachen klaren Linien der Wirklichkeit herausschälen?

Wo lag die Wahrheit? Und wo begann die Phantasie? Wieviel hatte die dichterische Eitelkeit, der Drang nach poetischer Erfüllung des im Leben Unerfüllten, dazu erfunden? Wie sahen die nackten Tatsachen aus, befreit vom Schlinggewächs der Wünsche?

Rudolf liebte Nina wie Francesco die Parisina. Dies war der Kern der Dichtung, ihre Urzelle. Hier war der sichere Boden der Wahrheit. Liebte sie auch ihn? Sehr wahrscheinlich. Beinahe gewiß. Und doch! Liebte denn in Rudolfs Gedicht die Parisina den Francesco? Ließ sie sich nicht eher nur bestimmen, überreden, fortreißen? Ihre Seele gehörte dem Meister, der sie malte, ihr Körper dem Gott, der sie in der Wolke besaß. War das nicht der Herzog? Was gehörte Francesco? Er bat, er schmeichelte, bestürmte, gewann am Ende. Was? Ihre Seele? Ihre Sinne? Beides? Wohl mehr ihre Sinne. Vielleicht nicht einmal die so ganz. Er war der Angreifer, sie die Leidende, die Geschobene, die Eroberte, die Besiegte, Verführte. Also doch erobert, besiegt, verführt?

Ewald fuhr zusammen. Ihm war, als stünde er auf einer schmalen Planke über einem Abgrund, und jemand hätte danach gegriffen, um sie ihm wegzuziehen. Er lehnte seinen Arm auf eines der Bücherbretter und legte den Kopf auf den Arm. Die Nähe der bunten, sonnenüberfleckten Folianten, in denen der Schmerz und die Weisheit der Jahrtausende wie in pergamentenen Sarkophagen beigesetzt waren, beruhigte ihn wieder.

»Haltung, alter Junge!« rief er sich selbst zu. »Besonnenheit! Wenn nicht anders, Resignation! Wer sagt dir denn, daß nicht eben dort, zwischen Angriff und Eroberung, die Grenze von Phantasie und Wirklichkeit liegt? Und wäre sie auch überschritten, wäre das, was im Stück geschieht, kein bloßer Wunschtraum des Dichters, sondern Wahrheit, Erlebnis, Erfüllung: warst du nicht auf das alles vorbereitet, als du sie nahmst? Wußtest du nicht im voraus, was kommen würde, nach allen gegebenen Bedingungen und Gesetzen? Du kanntest ihre Natur, ihre Anlagen, Vergangenheit, Herkunft. Alle die Fäden, die zum unzerreißbaren Halfterband zusammenschießen, womit das Schicksal uns gängelt, meistert, zur Schlachtbank schleppt? Du hast nichts übersehen, nicht einmal die Sternenkonstellation, als du ihr und dein Horoskop stelltest. Was kann es Unerwartetes, Überraschendes für dich geben? Du wolltest, was du hast. Also habe, was du wolltest.«

Er richtete sich auf, machte ein paar Schritte und blieb mitten im Zimmer wieder stehen.

Es gab eine Zeit, wo man anders dachte. Wo man, wenn es möglich gewesen wäre, ähnlich gehandelt hätte, wie der betrogene Sigismondo, der Herzog, in Rudolfs Drama. Er ließ der ungetreuen Parisina das blonde Haupt vor die Füße legen. Die Sitten hatten sich geändert. Ehebrecherinnen strafte man heute unblutig, doch nicht minder grausam: man ächtete sie, verstieß sie, bemakelte sie zeitlebens. In jungen Jahren war das auch sein Standpunkt gewesen. Damals hatte ihm die Pistole locker genug gesessen. Das Blut seines Bruders, der wegen Weibergeschichten im Duell fiel, war doch auch in ihm. Vielleicht war gerade jenes Ereignis sein Damaskus geworden. Langsam war der andere Mensch in ihm aufgewachsen, zu Macht gekommen. Es war die Arbeit seines Lebens geworden, sich selbst zu überwachen, keinen Augenblick die Zügel seines Willens aus der Hand zu lassen, alle die Vorurteile des Standes, des Blutes, der Zeit in sich auszujäten, wie der Gärtner das Unkraut. Es wächst zwar immer wieder neues, aber am Ende kämpft man um des Kampfes willen. Manchmal schien ihm der Hans Lebrecht, der er heute war, und jener, der er einst gewesen, durch Welten voneinander getrennt. Dann wieder kamen Augenblicke, wo er blitzartig sich genau so fühlte wie vor dreißig oder vierzig Jahren. Welches war nun der richtige? Sollte aller Kampf, Schmerz, alle Arbeit, Bitternis eines heiß durchrungenen Lebens vergebens das eingeborne Ich umspült haben, wie die Meeresbrandung den Granitfelsen? Als er Nina zur Frau nahm, hatte er es nicht wie zum Trotz gegen sich selbst, gegen den alten Menschen, den er immer noch in sich fühlte, getan? Sollte es nicht wie eine Probe auf sein eigenes Exempel sein? Gut! Jetzt galt es. Die komplizierte Rechenmaschine, Leben genannt, war nahe daran, die Summe des Exempels zu ziehen. Gewinn oder Bankerott? Noch konnte die Entscheidung in seiner Hand liegen. Vielleicht hing sie von diesen Tagen, diesen Stunden ab.

Seine zusammengesunkene Gestalt straffte sich, wie die Violinsaite, die zum Spiel angezogen wird. Man mußte Herr über das Instrument seiner Seele sein. Man hatte nach wohlbedachtem Grundriß, in mühsamer Arbeit mit sprödem Material, sein Lebensgebäude zurechtgezimmert. Es durfte nicht wie ein Haus aus dem Kinderbaukasten von dem ersten Stoß der Wirklichkeit zusammenstürzen. Er trat zum Fenster, griff mit spitzen, behutsamen Fingern, wie jemand, der sich zu beschmutzen fürchtet, nach dem Zeitungspaket und verschloß es in einem der unteren Fächer seines Schreibtisches. Vermodere du, dachte er, Nina soll dich jedenfalls nicht zu Gesicht bekommen.

Er klingelte nach Kaspar, dem ältlichen Diener, und ließ sich umkleiden. Im bequemen, hellgrauen Jackettanzug, der ihm wie immer ein wenig schlottrig um die Glieder hing, trat er in das dunkelgrün ausgeschlagene Frühstückszimmer, das nach rückwärts gegen den Garten zu lag.

Nina und Sophie saßen bereits am gedeckten Tisch. Rudolf hatte sich einen der braunledernen Klubsessel an die offenen Fenster gerückt und las, die Teetasse in der Hand, die Morgenzeitungen. Ein großer Mohnblumenstrauß stand in einer dunklen, irdenen Schale auf dem Tisch. Die Schiebetüren des Wintergartens, der neben dem Frühstückszimmer lag, waren weit geöffnet. Die würzige Kühle des Morgens mischte sich mit den Düften des frischgesprengten Gartens und dem feuchten Dunst der Palmen und Araukarien aus dem Gewächshaus zu einem lauen Bad, das den erhitzten Sinnen nach der schwülen Nacht wohltat.

Ewald küßte Sophie und Nina die Hand, nickte Rudolf zu, der aufstand, um ihn zu begrüßen, und nahm zwischen den beiden Frauen an der Breitseite Platz. Nina, die in einem dünnen, blaßrosa Empiremorgenkleid an der Stirnseite des Tisches gegenüber dem Wintergarten saß, war wieder auffallend bleich. Die achatgrauen Augen wirkten heute merkwürdig düster. Es war wie das Züngeln blauschwarzer Flämmchen darin, die umrahmt wurden von der Weiße des Gesichts, dem Aschblond der Haare und den dunklen Schatten der Brauen und Wimpern. Rudolf, der sie von seinem Sessel her über die Zeitung weg fortwährend im Auge behielt, gestand sich, daß er sie selten so apart und verführerisch gefunden habe, wie in diesem kühlen Morgenlicht nach der schwülen, trunkenen, taumeligen Sommernacht, die ihr wie ihm noch in den Gliedern zu zucken schien.

»Du hast schlecht geschlafen, mein Kind?« sagte Ewald zu Nina und richtete einen aufmerksamen Blick zu ihr hin. »Man sieht es dir an. Du bist von einer geisterhaften Blässe. Hattest du wieder einen von deinen Zuständen?«

Nina beugte sich tiefer über ihre Teetasse und spielte mit dem Löffel.

»Nein! Nichts Besonderes. Nur das Alte, was man schon kennt. Die Nacht war sehr drückend.«

Ewald nickte, mit einem flüchtigen Blick zu Rudolf hinüber.

»Die Nacht war sehr drückend. Ganz recht! Ich stand auch lange am offenen Fenster. Irgendwo in den Bergen muß ein Gewitter gewesen sein. Es wetterleuchtete manchmal. Die Stimmen der Nacht waren deutlicher zu hören als sonst.«

»Die Stimmen der Nacht?« fragte Nina unsicher.

Rudolf glaubte von seinem Platz her zu bemerken, daß sie leise zitterte und durch eine Bewegung mit dem Taschentuch wohl eine verräterische Blutwelle zu verdecken suchte.

»Die Stimmen der Nacht... O! Die gibt es!« fiel er eifrig ein. »Onkel Hans meint das geheime Geraune und Gewisper, was man in dem Schweigen der Nacht zu hören glaubt, manchmal leiser, manchmal lauter, und was doch nicht wirklich da ist, was nur den eigenen Sinnen entspringt.«

»Vielleicht ist es sogar wirklich, ohne daß wir es richtig rubrizieren können,« bemerkte Ewald. »Einfach weil die Zahl der Schwingungen über unser Wahrnehmungsvermögen hinausgeht oder dahinter zurückbleibt. Geradeso wie die Apparate der drahtlosen Telegraphie auf die genaue Wellenlänge eingestellt sein müssen, damit man abhören kann. Es ist immer dasselbe Gesetz, unter dem unser Dasein steht, ganz gleich, ob es elektrische oder akustische oder psychische Wellen sind. Man muß den Schlüssel dazu haben. Sonst merkt man wohl, daß etwas vorgeht, aber man kann es nicht deuten.«

Ein paar Augenblicke herrschte Schweigen. Nina klapperte mit dem Teller und schickte sich an, ein Brötchen für Ewald zurechtzumachen.

»Butter oder Honig?« fragte sie.

»Honig, wenn ich bitten darf,« erwiderte er mit einer eleganten Verbeugung. »Versüßen wir uns das Leben.«

Sophie legte ihre Zeitung weg, in die sie sich bisher versenkt hatte. Sie war im weinroten, bequemen Schlafrock und sah in der frischen Ausgeruhtheit des Morgens wie ein Augustapfel aus, dessen Bäckchen sich zu röten beginnen.

»In den Zeitungen steht aber auch gar nichts mehr,« sagte sie und gab dem Blatt einen kleinen unzufriedenen Schubbs. »Man braucht sie nächstens überhaupt nicht zu lesen.«

»Der Idealzustand der Menschheit sind Zeitungen, in denen nichts drin steht,« äußerte Ewald und führte sein Honigbrötchen zum Munde. »Das ist wie drahtlose Wellen, als man noch nichts von ihnen wußte.« Sophie schüttelte den Kopf.

»Du hast wieder deinen philosophischen Tag heute, mein lieber Hans. Am frühen Morgen drahtlose Wellen! Brr! Ein natürliches Wellenbad ist mir lieber. Wer geht mit zum Baden? Ich finde, ihr seid alle etwas überreizt, Kinder. Taucht eure Nervenschwingungen in kaltes Wasser.«

Er habe leider gleich Probe, bemerkte Rudolf, als weder Nina noch Ewald antworteten.

Ewald fragte in beiläufigem Ton nach dem Stande der Proben. Er selbst wolle lieber das fertige Werk auf sich wirken lassen. Rudolf berichtete, was ihm gerade einfiel. Es langweilte ihn, zwanzigmal Gesagtes von neuem zu wiederholen. Sein Ton klang müde und ein wenig verdrossen. Man kam auf die Schauspieler zu sprechen. Die Stimmung unter ihnen scheine gut zu sein, meinte Sophie.

»Kein günstiges Zeichen nach Theateraberglauben,« schaltete Ewald ein.

»Nina hat ja gestern einen Waldspaziergang mit Barbara Frantzius gemacht,« fuhr Sophie fort, die plötzlich sehr gesprächig schien. Was denn das sei, daß nun auf einmal nicht mit der ›Jo‹, sondern mit ›Tasso‹ oder ›Was ihr wollt‹ eröffnet werden solle? Es hinge mit Vorschlägen Neubauers zusammen, erklärten Rudolf und Ewald. Man kriege ja aus keinem Menschen etwas heraus, grollte wieder Sophie. Alle schienen ein Pflaster auf dem Munde zu haben. Brandstädter habe man seit vorgestern kaum zu Gesicht bekommen. Er scheine sich im Dickicht vergraben zu wollen, wie der Mönch von Heisterbach. Nina habe ihn gestern bei ihrem Spaziergang mit der Frantzius mutterseelenallein in der Schlucht bei der Hertahöhe auf einem Baumstumpf entdeckt. Was für ein Geist denn in alle gefahren sei?

»Vermutlich der Geist von Dietramsried, meine liebe Sophie,« erwiderte Ewald.

»Hoffentlich nicht der Geist des Gasparo Serbelloni, unseres Blaubarts aus dem siebzehnten Jahrhundert,« bemerkte Sophie und lachte etwas gezwungen. »Es ist genug, daß er die Ruine und den Strand unsicher macht, die Stätte seiner Untaten. Hier oben in unsern vier Wänden kann ich auf seine Gesellschaft verzichten.«

»Geister haften am Hause, wie die Katzen,« rief Rudolf mit einer Art von gemachtem Übermut. »Du hast nichts zu fürchten, liebe Mutter. Gasparo Serbelloni bleibt an seine Ruine und an seinen See gebannt, an die Orte, wo er gelebt und geliebt hat...«

»Und gemordet dazu! Dutzendweise! Alle die armen Dinger!« ergänzte Sophie. »Ein solches Ungeheuer!«

Rudolf lachte wieder und stand auf.

»Meinetwegen auch ein bißchen gemordet. Jedenfalls sei ohne Sorge: Gasparo Serbelloni wird niemals den Weg hier herauf finden, in unsere Stuben des zwanzigsten Jahrhunderts.«

»Es sind doch eigentlich Stuben des achtzehnten Jahrhunderts, nur ein bißchen renoviert und mit ein paar neuen Möbeln,« meinte Nina, die bisher kaum gesprochen hatte, mit einem abwesenden Ausdruck, als ginge sie das alles eigentlich nichts an.

Ewald hatte, zurückgelehnt, mit gekreuzten Armen in seinem Stuhl gesessen. Seine Gedanken schienen noch bei einem früheren Punkt des Gesprächs. Jetzt nahm er den Faden wieder auf. »Nina hat gar nicht so unrecht: Stuben des achtzehnten Jahrhunderts, wohnlich gemacht für uns Menschen des zwanzigsten. Ja, das ist das, was ich den Geist von Dietramsried nenne, im Gegensatz zu eurem Spukgeist des Gasparo Serbelloni. Der gehört zum See und zur Ruine und zum siebzehnten Jahrhundert. Als solcher hat er ja seine Reize. Er ist sozusagen mit in die Kaufurkunde aufgenommen. Aber unser wirklicher Hausgeist, der ist doch ein ganz anderer. Der ist von Fleisch und Blut meines achtzehnten Jahrhunderts und bedeutet mit einem Wort: Freiheit! Vollkommene innere und äußere Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will, für jeden, der in unseren Kreis hier, in unsere geweihte Gemeinschaft, in unsere Gralsburg eintritt...«

Er hatte seine Worte langsam und besonnen, aber ohne besonderen Nachdruck vor sich hin gesprochen und sah jetzt erst auf. Der Blick seiner scharfen, glashellen Augen wanderte ruhig im Halbkreis von Sophie über Rudolf zu Nina und blieb auf Ninas Gesicht haften. Sophie, die schon bei den letzten Sätzen etwas unruhig geworden war, bemerkte es und fiel nach einer Augenblickspause ein:

»Vollkommene Freiheit zu tun und zu lassen, was man will? Innerlich und äußerlich? Ist das nicht ein bißchen viel? Selbst für Menschen des achtzehnten Jahrhunderts?«

»Vollkommene Freiheit! Innerlich und äußerlich!« wiederholte Ewald, indem er Nina unverwandt ansah. »Ich lasse mir kein Haarbreit abhandeln. Das heißt, mit einer einzigen Ausnahme,« setzte er in verändertem Ton hinzu und erhob sich langsam.

»Nun also!« rief Sophie, als sei eine Last von ihr genommen. »Er muß die Abendmahlzeit einhalten,« sagte Ewald trocken. »Das ist suminum jus. Aber auch davon kann ihn das Machtwort der Hausherrin entbinden. Im übrigen bleibt es dabei: Wer unserem Kreise, unserer Kabbala angehört, darf leben und sterben nach seiner eigenen alleinseligmachenden Fasson. Und deshalb sei Rudolf jetzt zu den Proben beurlaubt. Du, liebe Sophie, kannst baden gehen. Ich werde mich auf mein Atelier begeben. Brandstädter mag im Waldesdickicht über die ewige Wiederkunft nachsinnen. Und unsere blasse Schloßfrau soll auch ferner das blonde Rätsel bleiben, bis... vielleicht etwas kommt, was das Rätsel löst.«

»Und Neubauer?« fragte Rudolf, den noch immer irgendwo der Schalk juckte.

»Neubauer?« sagte Ewald und blickte ernsthaft ins Weite. »Neubauer? Den soll unbedingt der Teufel holen!«


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