Max Halbe
Jo
Max Halbe

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13

Der Nachmittag war schwül. Die weiße, scharf gezackte Wolkenborte, die Mittags wie eine zweite höhere Bergkette über der ins verschwimmende Blau hinausgetürmten Alpenmauer erschienen war, hatte sich rötlich und ockergelb gefärbt und war jetzt als drohende Wand über die ganze Weite des Südhimmels aufgebaut. Das Gebirge selbst dunkelte auf ihrem Hintergrund in tiefblauen und violetten Tönen. Man hätte annehmen können, es stünde mit seinem waldumkränzten Sockel dicht an der Südspitze des finster gewordenen Sees, von der es doch noch mehrere Wegstunden trennten. Jeder einzelne seiner Schrunde, Abstürze, Schlüfte zeichnete sich in dem bleiernen Gewitterlicht ab wie die bleichenden Rippen eines zu Tode hingestreckten Urweltungetüms, dem man sich auf Sehweite genähert habe.

»Heute kommt doch ein Wetter,« sagte Sophie, die nach der Mittagtstafel an den See hinuntergeschlendert war, zu dem langsam vorbeischlurfenden Sebastian.

Der Alte schulterte den eschenen Harkenschaft nach links hinüber und legte die rechte Hand über die weißen Büschel seiner Brauen, um einen prüfenden Blick auf Himmel und Wasser hinauszusenden.

»Kann schon möglich sein,« sagte er dann kopfschüttelnd. »Kann vielleicht auch nicht.« »Aber Mann Gottes!« rief Sophie. »Sehen Sie doch nur den Himmel an! Und wie es dort über den Bergen steht! Wenn das kein Gewitter gibt ...!«

»Kann kommen. Kann auch wieder vorbeiziehen,« erwiderte Sebastian hartnäckig und kratzte sich den blanken Schädel unter der zerschlissenen Strohhutkrämpe. »In diesem Sommer ist alles möglich, Mord und Brand und Pestilenz ... Alles kann noch kommen in diesem Sommer.«

Sophie sah verwundert zu dem gerunzelten Gesicht des Alten auf, zwischen dessen hundert roten und blauen Äderchen es verdächtig zwinkerte.

»Sie machen wieder Ihren Spaß, Sebastian?«

»Aus Spaß wird Ernst. Die Zeichen stehen auf Blut. Heute rot, morgen tot.«

Er nickte nachdenklich vor sich hin und schlurfte auf dem kiesigen Fußweg längs des Sees weiter, die langgestielte Harke über der linken Schulter steil zum Himmel erhoben.

Sophie blickte ihm kopfschüttelnd nach, als der Alte sich noch einmal umwandte und bedeutsam den Finger erhob. »Mit dem Großtürken hat es angefangen. Der Moskowiter kommt nach. Eher wird keine Ruhe, bis daß er nicht Arabien in den Fingern hat.«

Sophie mußte über das wunderliche Gerede des Alten lächeln. Er schien wieder seinen verdrehten Tag zu haben. Und doch konnte sie sich eines Unbehagens nicht erwehren. Es lag so viel in der Luft! Nicht nur das Gewitter, das sich über den tiefblauen Bergen dort zusammenbraute. Sie starrte vor sich in das dunkelgraue tintige Wasser, das leise um die Pfähle des Landungsstegs gluckste. So wie das da unten murmelte und raunte von einem Sturm, der kommen würde, so war es auch über ihrem Leben: Rudolf ... Nina ... Hans Lebrecht ... Brandstädter ... Dinge bereiteten sich vor, Entscheidungen, Entschlüsse ...! Ihrer aller Glück, Ruhe, Dasein sogar, auch ihr eigenes, konnten davon abhängen. Man sah noch nichts, aber man fühlte es in den Fingerspitzen.

Wie das alles die Brust bedrückte! Und man war so ohnmächtig dagegen. Wie die kleinen glucksenden Wellen gegen den kommenden Sturm, der sie Tropfen für Tropfen auseinanderreißen und in alle Winde hinausschleudern würde.

Hätte man wenigstens aus einem dieser närrischen eigensinnigen Menschen etwas herausbringen können ...! Aber nirgends ein offenes vernünftiges Wort! Man mußte mit gebundenen Händen zusehen, wie sie einander zerfleischten und vernichteten. Es war ein Gefühl, als möchte man in einem erstickenden Raum die Fensterscheiben einschlagen und könne sich nicht von der Stelle bewegen. Im Traum erlebt man so etwas, aber hier war es Wirklichkeit.

Sie ballte zornig die Hände und schlug den Rückweg zum Herrenhaus ein. Ihre Blicke glitten verstimmt über die weiten Parkwiesen hin, die vor kurzem noch als ein einziger blühender Teppich sich ausgebreitet hatten und nun öde und nüchtern, wie ein kahlgeschorenes Haupt aussahen. Sebastians Sense hatte gründliche Arbeit verrichtet. In wenigen Wochen war eine Welt voll Blüten und Farben unter ihrem blitzenden Messer hingesunken. Noch lagen die Schwaden des gemähten Grases an vielen Stellen in langen Reihen da oder sie waren zu Haufen aufgeschichtet, die wie ein Heer von plumpen, halbvollen Säcken emporstanden. Anderswo war das Heu bereits eingebracht, aber die Luft war noch schwer und wie trächtig von all dem süßen Duft dieses Sterbens und Vergehens. Die dunklen Ulmen und Buchen hier und dort auf dem nackten Rasen glichen kleinen Gruppen von Trauernden, die sich irgend etwas Düsteres zuflüsterten.

Auf einer Bank unter einer Silberpappel saß Rudolf, ein Buch in den Händen. Sophie nickte ihm flüchtig zu und wollte vorübergehen. Rudolf sprang erregt auf.

»Du tust ja, als ob ich ein Fremder wäre!«

Frau Bartholdy zuckte unwillig die Achseln und wandte den Kopf ab.

»Wärst du's doch nur! ... Man möchte es manchmal wünschen.«

»Mutter! ... Was soll das heißen?«

»Frage dich selbst! Frage dein eigenes Gewissen!«

»Gewissen! Gewissen! ... Als ob man mit solchen Klischees weiterkäme! Man kämpft die schwersten menschlichen Konflikte durch, und als Stärkung, als Trost werden einem solche Attrappen wie Pflicht, wie Gewissen verabreicht! Und das von der eigenen Mutter!«

Er hatte seine Worte heftig herausgesprudelt und setzte sich, halb abgekehrt, auf die Bank zurück.

Frau Bartholdy, auf deren cholerisches Temperament Heftigkeit ansteckend wirkte, trat aufgeregt einen Schritt näher. »So? Also das nennt ihr Attrappen, ihr junge Welt, wenn man euch an eure selbstverständlichen Pflichten erinnert, die jeder Mensch hat, und wäre er das größte Genie unter der Sonne! Seine Liebsten, seine Allernächsten, seinen besten Freund zu bestehlen, zu hintergehen, das ist euch erlaubt, euch Kindern der neuen Zeit!... Dann bewahre mich Gott, daß man so etwas in die Welt gesetzt hat!«

»Mutter! Sprich kein Wort weiter!« gab Rudolf ebenso heftig zurück. »Du versündigst dich ja!«

»Aha!« triumphierte Frau Bartholdy. »An euch versündigt man sich! Aber ihr könnt tun, was ihr wollt! Ihr habt das Recht, euch auszuleben, wie es euch paßt, ganz gleich, ob andere darunter leiden oder nicht! Wenn ihr nur habt! Wenn ihr nur genießt!«

Rudolf war von neuem aufgestanden und legte seine Hand auf ihren Arm.

»Es gibt Kämpfe, Mutter, Konflikte, in denen alle recht haben ... und keiner. In denen jeder auf die gleiche Weise schuldig ist... oder niemand.«

Frau Bartholdy hatte ein ironisches Lächeln.

»Dein Fall, euer Fall ist natürlich ein solcher Fall, wo jeder recht hat und keiner schuld?... Jedenfalls sehr bequem!«

Rudolf nickte lebhaft.

»Ja! Und darin liegt eben die Tragik, oder wenn man sich auf den Standpunkt Gottes stellen könnte, vielleicht die Komik.«

»Ich denke, es gibt keinen Gott?« warf Frau Bartholdy satirisch ein. »Es gibt doch auch kein Gewissen und keine Pflicht!«

»Gott als Symbol,« erwiderte Rudolf ärgerlich. »Verstehst du denn so gar nicht mehr, was ich sagen will, Mutter?«

»Nein!« entschied Frau Bartholdy. »Ich verstehe nur, daß wir zwei verschiedene Sprachen reden und daß ich eine alte Frau bin, die mit euerer Weisheit nicht mehr mitkann.«

Sie nickte ihm kurz noch einmal zu und ging mit raschen Schritten ins Haus zurück.


Zum Nachmittagstee war heute der engere Kreis vollzählig im Wintergarten versammelt. Sogar Neubauer hatte sich eingestellt, der sonst nur an den Mittagsmahlzeiten – und auch da nicht regelmäßig – teilzunehmen pflegte, im übrigen meist auf der Naturbühne oder abends bei den Schauspielern in der Waldschenke zu finden war.

Man hatte von Ninas morgigem Geburtstag gesprochen, von der Generalprobe des »Tasso« und dem großen Sommernachtsfest hinterher. Auch einige geladene Gäste aus der Stadt wurden erwartet. Sie konnten dann gleich der für übermorgen angesetzten ersten öffentlichen Vorstellung der Waldbühne beiwohnen.

Wie es denn überhaupt mit dem Besuch aussehen werde, fragte Nina, die mit Sophie und Brandstädter an einem der beiden kleinen runden Teetische in der Nähe des Springbrunnens saß. Brandstädter schien die Frage zu überhören. Sophie ihrerseits zuckte mit den Achseln und deutete auf den andern Tisch jenseits des Wasserbeckens. Dort hatten sich Ewald, Neubauer und Rudolf niedergelassen, während Kaspar, der ältliche Diener, den fahrbaren Serviertisch geräuschlos zwischen den beiden Gruppen hin und her rollte und in seiner schattenhaften Weise hier eine Tasse nachfüllte, dort für das Gebäck sorgte oder die Konfitüren reichte.

»Der Funkenturm hat den Punkt natürlich längst geregelt,« rief Neubauer auf Ninas Frage von seiner Seite des Bassins herüber. »Es war sozusagen die Urzelle der ganzen Organisation hier draußen. Wenn man drüben in den United States eine Stadt aus der Erde stampfen will, so fragt man nicht, wo nehmen wir die Leute für die Stadt her, sondern wie führe ich die besten Verbindungen, die schnellsten Züge und Steamers zu ihr hin und mache sie dadurch lebens-, konkurrenz-, wirtschaftsfähig. Die Leute kommen dann schon. So auch in der Kunst, beim Theater. Kunst, Theater sind überhaupt weiter nichts als aufs Geistige, aufs Ästhetische angewandte ökonomische, wirtschaftliche Gesetze. Natürlich mit der nötigen kulturellen Aufmachung und Verbrämung für die große Masse. Sonst streikt uns der Herr Kunstphilister.«

»Pfui Spinne!« warf Rudolf ein und stand auf. »Da kann einem der ganze Dreck gestohlen werden!«

Neubauer hatte ein behagliches Grunzen.

»San's stad, Sie Grünspecht, Sie! Wer hat den Profit davon? Kein anderer als ihr Herren Genies! Als damals an den Funkenturm die Anregung mit der Waldbühne herantrat, da war meine erste Frage: Wie bringen wir das Publikum in die Einöde hinaus? Das nötige Genie mit dem nötigen Meisterwerk, das man aufführen kann, findet sich schon. Na! Und hat es sich vielleicht nicht gefunden?«

Er lachte geräuschvoll in die Runde und fuhr fort:

»Aber das Publikum! Das Publikum! Wie finden wir das? Wie locken wir den Parkettbesucher auf den Leim? Wie machen wir ihm klar, daß es seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, wöchentlich so und so oft zu den Meisterspielen des Funkenturms nach Dietramsried hinauszupilgern? Und last, not least, wie schaffen wir ihm überhaupt die äußere Möglichkeit dazu?«

Er hielt einen Augenblick inne, sah befriedigt wieder in die Runde und fuhr fort, indem er sich mit einem großen gelbkarierten Tuch den Schweiß von der Stirn wischte:

»Das letztere Problem war vielleicht das wichtigste, und ich kann sagen, gerade das ist restlos gelöst. Wir haben zwei Kanäle, um den Strom der Besucher herzuleiten, die Eisenbahn und das Dampfschiff.«

»Was das Dampfschiff betrifft,« bemerkte Ewald, »so hoffe ich, daß der Weg von der Landestelle durch meinen Park dem Parkettbesucher zu sonnig und zu steil sein wird. Ich empfehle durchaus den Weg mit der Eisenbahn.«

»Er ist ja auch der viel bequemere, schnellere und nähere,« bestätigte Neubauer. »Kaum zehn Minuten von der Station durch den Wald. Herrliche Schattenkühle! Bier vom Faß und exzeptionelle Bratwürste! Zehn Extrazüge an jedem Spieltag hin und zurück! Da kann die Kunst lachen. Ihre ›Jo‹, mein lieber Bartholdy, wird einer der größten Erfolge aller Zeiten. Bedanken Sie sich bei Thomas Neubauer dafür.«

Er entfaltete ein mächtiges rotgelbes Plakat, das er aus der Brusttasche gezogen hatte.

»Was menschenmöglich ist, geschieht! Man überzeuge sich selbst! Eine Garde von hundert überlebensgroßen Plakatträgern wandelt in diesem Augenblick damit durch die Straßen von München.«

Das riesige Blatt kreiste von Hand zu Hand. Am Kopf trug es die Vignette der »Funkenturm«-Gesellschaft: Eine nackte Frauengestalt, auf der Zinne eines Leuchtturms eine Fackel in die Weite schwingend, darunter in fußhohen Buchstaben die Aufschrift: Meisterspiele des Kulturbundes für ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts, »Der Funkenturm«, auf der Naturbühne Schloß Dietramsried.' Ein kurzgefaßtes Programm der Gesellschaft folgte. Den Schluß bildete die riesengroße Ankündigung der aufzuführenden Stücke: »Tasso« und »Iphigenie« von Goethe. »Was ihr wollt« und »Sommernachtstraum« von Shakespeare. »Jo« (Uraufführung) von Bartholdy.

»Ich hätte mir eigentlich eine etwas weniger geräuschvolle Einführung für dein erstes Werk gewünscht,« sagte Frau Bartholdy achselzuckend zu Rudolf, der mit den Händen auf dem Rücken an der offenen Schiebetüre des Wintergartens lehnte und versunken in die dumpfe Gewitterluft hinausstarrte.

»Wieso?« erwiderte dieser mit einem Anflug von Galgenhumor. »Erziehung geht nie ohne Geräusch ab. Nun noch gar des Menschengeschlechts! Unser erster Lateinlehrer erzog uns hörbar mit dem Lineal auf die Hinterfront. Wo man hobelt, fallen Späne.«

»Oder Klappern gehört zum Handwerk,« grunzte Neubauer. »Sehr richtig, mein Herzblatt! Und mitgefangen, mitgehangen.«

Ewald hatte das Plakat überflogen.

»Universalismus! Expression! Synthese! Diluvianisch! Gorgonisch! Astarothisch! Saturnisch!« bemerkte er in seinem trockenen Ton. »In drei Zeilen eine hübsche Wortkanonade! Das widerspricht ein bißchen meinem Geschmack und geht im Grunde auch gegen unsern Kontrakt, mein lieber Neubauer.«

»Ich habe eben mehr getan, als was kontraktlich vorgesehen war,« erwiderte Neubauer gekränkt.

»In diesem Falle wäre weniger mehr gewesen. Meine Absicht bei dem ganzen Unternehmen war auf Einfachheit, auf Schlichtheit gerichtet. Wäre es nicht wegen des Eklats, man müßte einen Rücktritt vom Vertrage in Erwägung ziehen.«

»Oho!« rief Neubauer erregt.

Rudolf wandte sich heftig um.

»Ich ziehe jedenfalls mein Stück zurück! Ich schäme mich!«

»Schämen Sie sich, wenn Sie durchgefallen sind,« meckerte Neubauer mit wiedergefundener Laune. »Oder vielmehr, dann schämen Sie sich erst recht nicht. Ein durchgefallener Autor, das ist erst die wahre Höhe des Erfolgs.«

Rudolfs Erbitterung schien zu wachsen.

»Ich habe es satt!« rief er und stampfte mit dem Fuße auf. »Das ganze Stück ist für die Katz! Ich bin ein elender Schmierant! Heute bei der Probe ist es mir zum Bewußtsein gekommen.«

Frau Bartholdy wandte sich an Brandstädter, der stumm und wie teilnahmslos über seiner Teetasse brütete.

»Und Sie, lieber Freund, schweigen sich aus?«

Brandstädter runzelte die Stirn.

»Ich bin nicht kompetent für die moderne Literatur. Oder womöglich für die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts.«

»Wer denn sonst?« fragte Sophie ein wenig gereizt. »Sie haben heute Rudolfs Stück auf der Probe gesehen. Warum sagen Sie uns nichts darüber? Ist es so schlecht?«

»Ja, frage nur den Doktor!« rief Rudolf. »Er hat noch kein einziges Wort darüber gesprochen! Das sagt genug!«

»Die üblichen Geburtswehen!« schmunzelte Neubauer. »Nur Mut! Der Karren wird schon schief gehen. Ich wäre ganz ohne Sorge, wenn wir statt der Frantzius die wirklich kongeniale Individualität für die Jo hätten.«

Er sah bedeutsam über das plätschernde Wasserbecken zu Nina hinüber und hustete vernehmlich.

»Daran läßt sich nun nichts mehr ändern,« erklärte Ewald mit ungewohnter Bestimmtheit. »Von der Aufführung der ›Jo‹ muß es wie seinerzeit vom Jesuitenorden heißen: sit ut est aut non sit. Entweder so wie sie ist oder gar nicht.«

»Also was ist Ihr Urteil?« drängte Frau Sophie ihr vor sich hinstarrendes Gegenüber. »Ist das Stück wirklich so schlecht, wie es jetzt von seinem eigenen Vater gemacht wird?«

Brandstädter richtete sich ein wenig auf.

»Es kann sogar ein Meisterwerk sein,« sagte er, in seiner stockenden Art nach Worten suchend. »Aber für mich ist es die Sprache eines andern Geschlechts, mit dem ich keine Gemeinschaft mehr habe. Und auch keine Gemeinschaft mehr haben will. So wenig wie sich ein Marsmensch und ein Zulukaffer verständigen können. Nehmen Sie an, der Zulukaffer wäre ich.«

»Wer so denkt, der schaltet sich doch selbst künstlich aus,« warf Nina aus ihrem beobachtenden Schweigen ein.

Brandstädter erhob sich und trat ein paar Schritte zurück, um sich mit gekreuzten Armen gegen den runzligen Stamm einer der alten Araukarien zu lehnen, die mit ihren fremdartigen Kronen wie aus einer vergangenen Welt herüberzublicken schienen.

»Ihr Wort, Frau Baronin, soll gelten,« sagte er. »Ich schalte mich selbst aus der Menschheit von heute aus. Ich zerschneide das letzte Band, das mich noch mit diesem Zeitalter verbindet. Sehen Sie mich als einen freiwillig Ausgetretenen an, meine Gnädige!«

»Sind das nicht etwas starke Worte, mein Bester?« meinte Ewald mit seinem trockenen Lächeln.

»Ich habe mich nie vor den starken Worten gefürchtet,« entgegnete Brandstädter. »Wenn den Worten nur auch die Taten entsprechen. Vielleicht ist es gerade das, was mich von dem heutigen Geschlecht unterscheidet, das nur noch durch die Blume reden kann, das mit Glacéhandschuhen zu Bett geht.«

Die Stimmung des kleinen Kreises war schwül geworden, wie die Luft in dem hohen, dunstigen Raum, zu dem ein Weilchen nur das verschlafene Näseln des Springbrunnens zu vernehmen war.

Neubauer stand auf und verabschiedete sich. Es gelang ihm, Nina für einen Moment etwas von den übrigen abzuschneiden.

»Um Zehn am Tennisplatz!« raunte er, während er ihr mit bedeutsamem Augenrollen die Hand küßte. »Die Sache duldet keinen Aufschub.«

Sie nickte nur und glitt an Sophie vorbei unauffällig zu Brandstädter, der noch regungslos am Stamm des Araukarienbaums lehnte.

»Erwarte mich heute nicht in der Ruine,« flüsterte sie hastig. »Man ahnt etwas.«

»Und deine Antwort auf meine Frage?« murmelte er finster.

»Morgen, wann du willst! Nur nicht heute! Sei nicht böse!«

»Also bis morgen! Nicht länger! Es drängt zur Entscheidung.«

Ewald war zu Rudolf auf die Gartentreppe getreten und legte ihm die Hand auf die Schulter. Rudolf zuckte unter seiner Berührung wie unter einem elektrischen Schlag zusammen.

»Ah! Du bist's?« sagte er dann verwirrt. »Entschuldige!«

»Ja! Ich bin's!« bestätigte Ewald.

»Gibt es etwas?« fragte Rudolf, indem er nervös über sein Jackett strich und dabei nach irgend etwas im Garten auszublicken schien.

Ewald schüttelte den Kopf.

»Du scheinst mir etwas überreizt, mein lieber Rudolf. Wenn deine Premiere vorbei ist, was hoffentlich in acht Tagen der Fall sein kann, dürfte sich eine kleine Luftveränderung für dich empfehlen.«

»Wie du befiehlst, Onkel Hans!« erwiderte Rudolf und verneigte sich.

»Ich hätte so gern einmal über Ihre Trilogie mit Ihnen gesprochen!« sagte Sophie am Araukarienbanm zu Brandstädter. »Ich habe sie jetzt gelesen.«

»Legen Sie's zum übrigen,« antwortete Brandstädter.

»Sie müssen sie zu Ende führen! Es ist Ihr größtes Werk!«

»Ich werde keinen Strich mehr daran tun. Die Welt wird auch ohne sie weiter leben.«

Er machte ihr eine kurze Verbeugung und ging.

»Das ist ja heute, als wenn alle mit Pulver geladen wären!« sagte Sophie ärgerlich zu Nina, die nachdenklich ihre Finger über die fetten Ranken der Schlinggewächse am Marmorbecken gleiten ließ. »Wo man anrührt, geht es los. Jetzt fehlt nur noch, daß man von dir irgend etwas Schreckliches zu hören bekommt.«

Sie trat näher, wie um in Ninas wieder sehr bleichem Gesicht zu forschen, aber diese schien die Anspielung zu überhören.

»Ich habe in letzter Zeit«, erwiderte Nina, »viel über das nachgedacht, was du mir vor einigen Wochen über die zwei Klassen von Frauen sagtest, die einen, die zur Mutter, und die andern, die zur... Geliebten geboren sein sollen...«

»Und wo immer die eine es der andern nicht so recht gönnt, daß sie es nicht auch so hat wie die,« fiel Sophie ein und nickte eifrig. »Na, stimmt es nicht? Wenn ich so denke, was das Leben hätte sein können, wäre man nicht so kindisch gewesen mit den tausend Rücksichten und hätte ein bißchen mehr Mut gehabt, als das Glück vor der Tür stand und sagte: Hier bin ich! Greife zu!...

Ach ja! Und jetzt ist man alt. Prügeln könnte ich mich manchmal.«

Sie hielt inne und blickte Nina aufmerksam an, als müßte in deren Zügen irgendwo das wahre Rezept für das Leben zu finden sein. Und als ob sie es gefunden, brach sie plötzlich aus:

»So wie du, so hätte man sein müssen!... Glaube nicht, daß ich dir einen Vorwurf mache. Du hast vollständig recht gehabt. Du warst die Klügere von uns beiden.«

»Ich weiß nicht, ob ich die Klügere war,« entgegnete Nina und senkte den Kopf. »Ich glaube es auch nicht. Ich weiß nur, daß du die Glücklichere von uns beiden bist.«


Sebastian hatte mit seinem Orakel recht behalten. Das aufziehende Wetter kam nicht zum Ausbruch. Die tintige Wolkenwand, die stundenlang am Südhimmel gestanden hatte, begann gegen Abend sich sachte wieder abzubauen. Nur über den Bergen schien das Ungewitter sich zu entladen. Vom Seegestade und von den höher gelegenen Punkten des Parkes sah man die blauen Blitze um die schwarzverhangenen Häupter aufzucken und hörte das ferne Rollen, das aber nicht näher kam, vielmehr langsam sich zu entfernen schien, je mehr es zum Abend ging.

So war keine Entlastung der stickigen Luft, kaum eine Abkühlung eingetreten. Der Abend blieb schwül und drückend. Der volle Mond schwamm über den unruhigen und zerrissenen Nachthimmel wie durch eine Brandung von Wogenkämmen, die sich ihm immer von neuem entgegenwarfen und die er immer wieder zerteilte und durchschnitt. Minutenlang schien sein bleichsüchtiges Antlitz in die tiefsten Schlünde der dunklen Wolkenungetüme hinabgesunken. Dann stieg es fast blendend wieder empor und verschwand abermals in einem gleichsam rhythmischen Auf und Ab. Ein schwüles, kaum fühlbares Lüftchen, das kam und ging und wieder kam, trug Wellen von Lindenblütenduft auf seinen Schwingen, gemischt mit der starken Würze des frischen Heus. Unter den schwarzen Parkbäumen schwirrten und glitten die Lichter der Sommernacht gleich in der Ferne geschwungenen Fackeln: Glühwürmchen, ihre kurze Eintagstrunkenheit verfunkelnd und versprühend.

»Still! Hörst du nichts?« flüsterte Rudolf und richtete sich hastig auf. »Mir war, als ob Schritte...!«

»Es wird Sebastian sein,« erwiderte Nina, ohne ihre Stellung auf der Ottomane zu verändern. »Er macht seinen Rundgang um das Haus.«

»Wenn jetzt dein Mann hereinträte...!«

In Ninas Stimme war ein schwaches Lächeln, während ihre nackten Arme über dem Kopf gekreuzt blieben.

»Hast du Angst?«

»Sonst warst du es, die Angst hatte.«

»Sei unbesorgt, Liebling! Er kommt nicht. Er sitzt oben in seinem Observatorium. Er hält seine Stunde mit den Sternen ab.«

»Bist du dessen so sicher?«

»So sicher, wie daß wir sterben werden.«

Rudolf sah erstaunt auf sie nieder.

»Seit wann sprichst du vom Tod, Nina? Du fürchtest ihn doch?« »In diesem Augenblick nicht! Vielleicht nie mehr!«

Die halb heruntergebrannten Kerzen des dreiarmigen Leuchters auf dem Kamin flackerten leise wie von etwas Unsichtbarem, das vielleicht durch einen Türspalt aus der Parktiefe hereinwehte.

»Du ...! Du ...!« stammelte Rudolf und beugte sich auf sie hinab. »Was bist du für ein Wesen? Was ist das, was aus dir spricht? Bist du das selbst? Oder wer sonst?«

»Küsse mich!« flüsterte sie.

»Was ist das an dir, was einen toll macht? Wer bist du? Woher stammst du?«

»Küsse mich!«

»Von welchem Stern bist du entsprungen? Und wie nennt man dich dort?«

»Vielleicht von der Venus, die jetzt so weiß an den Abenden leuchtet.«

»Ich könnte jede Untat für dich begehen! ... Und begeh' ich sie nicht in diesem Augenblick?«

Seine Küsse brannten auf ihren durstigen Lippen, während ihre Arme seinen Nacken umschlungen hielten. Die drei kleinen gelben Flammen der Kerzen auf dem Kamin starrten regungslos aus dem Halbdunkel des Raums wie gestorbene Augen. Die hohen weißen Lilien auf dem Tischchen vor der Ottomane dufteten feierlich und rätselhaft.

Es war ein schmales, aber tiefes Zimmer mit wenigen altväterischen Kirschbaummöbeln, wo sie sich befanden. Das gelbe ebenerdige Gartenhaus mit dem italienischen Säulenvorbau vom und rückwärts und den Rundbogenfenstern, zu dem der Raum gehörte und dessen eine Seitenfront er bildete, stammte aus des Grafen Ferdinand Serbelloni, des Ministers, späteren Tagen und war noch ganz im Zeitgeschmack erhalten. Der Minister hatte es sich als Sommerwohnung tiefer im Park erbaut, wohl eine halbe Stunde vom Schloß weg. Hierher zog er sich zurück, wenn er der Feste und Gastereien müde war oder wenn die Staatsgeschäfte seine volle Sammlung erheischten. Der Überlieferung nach sollte auch die Stätte seiner allerletzten Sammlung, sein Sterbezimmer hier sein. Später waren Haus und Platz in Vergessenheit geraten. Dichtes Schlehdorngebüsch und Taxusgestrüpp hatten ihr wucherndes Astwerk darum gebreitet wie zum Schutz gegen den Einbruch einer zerstörungssüchtigen Nachwelt. So kam es, daß Hans Lebrecht von Ewald hier noch alles ziemlich so vorfand, wie vor fast hundert Jahren, und es nun auch weiter so ließ. Neuerdings hatte Rudolf sein Arbeitsquartier unter den Kirschbaummöbeln und verblichenen Ripspolstern aufgeschlagen. An dem kleinen Schreibsekretär vor den hohen Rundbogenfenstern, durch die man in die tiefe, grüne Parkstille hinausblickte, waren ihm die Verse seiner »Jo« erwachsen, und nur der Schlag der Finken und Amseln oder der verschollene Ruf des Kuckucks hatte ihn zuweilen aus seinen innern Gesichten erweckt.

»Ninerl! Ninerl! Was wird das mit uns?« rief Rudolf und sprang auf. Seine Brust ging schnell. Seine Finger strichen mechanisch die heiße Stirn, als müßten sie irgend etwas Lästiges, Quälendes fortwischen.

Nina hatte wieder dieses schwache Lächeln um die halbgeöffneten roten Lippen, während ihr rechter Arm auf der blonden Flut ihres nach rückwärts gelösten Haares ruhte.

»Gestern sprachst du anders,« sagte sie. »Gestern konntest du diese Stunde kaum erwarten.«

»Gefiebert hab' ich danach! Wie betrunken bin ich herumgegangen! Jedem hätt' ich ins Gesicht schreien mögen: Morgen kommt sie! Morgen kommt das Glück! Die Minuten hab' ich gezählt! Ich hätte sie peitschen mögen!«

»Und jetzt ist er da, der Augenblick. Fast schon vorüber. Jetzt zählst du die Minuten, bis ich wieder fort bin.«

»Ninerl! Was ist das für ein Wahnsinn, den du selber nicht glaubst!«

Er war vor der Ottomane in die Knie gesunken und küßte mit seinen brennenden Lippen ihren Leib. Nina durchzuckte es, als wolle eine Flamme sie verzehren, aber ihre Stimme verriet nichts davon.

»Es ist kein Wahnsinn,« erwiderte sie. »Das ist der Rausch der Männer! So liebt ihr!«

»Und ihr? Wie liebt ihr? ... Sollte es nicht morgen aus sein zwischen uns? Wer sprach das gestern?«

Er hielt noch immer seinen Kopf in ihren Schoß gedrückt und fuhr fort, sie zu küssen.

»So liebt ihr!« wiederholte Nina. »Das ist die Art von Rausch bei euch Männern.«

»Was weißt du von den Männern?« stammelte er halb besinnungslos. »Was darfst du davon wissen? Nur einen darfst du kennen! ... Mich! Mich!« »Oder vielleicht nur bei euch Dichtern,« grübelte sie, indem sie mit ihren Fingern durch sein störrisches Haar fuhr. »Aber nein! Es sind nicht alle so. Es gibt auch Dichter, die festhalten. Nur zu sehr!«

Rudolf erhob seinen Kopf.

»Was murmelst du da, Nina?«

»Nichts! Nichts!« wehrte sie ab und fühlte wieder dieses verräterische Erröten, das ihr als leise Welle über den Nacken floß.

Rudolf bemerkte es nicht. Oder es war nur ein Entzücken mehr für ihn. Seine Blicke versanken in dem weichen Fluß ihrer Glieder.

»Wie schön du bist!«

Nina wandte neugierig ihren Kopf.

»Bin ich schön?... Glaubst du wirklich, daß ich schön bin?«

»Nein! Nicht schön! Schön ist alltäglich gegen das, was du bist.«

»Und was bin ich?«

»Das Wort muß erst gefunden werden. Wie für alles, was zum erstenmal da ist.«

»Du willst ein Dichter sein? Der Dichter der Jo, der Parisina, die von Correggio geliebt wurde und von dem kalten finstern Herzog, ihrem Mann, und zu guter Letzt von dem schönen Francesco, dem einzigen, den sie wiedergeliebt hat?«

»Den sie wiedergeliebt hat!« jubelte Rudolf. »Ja!' Dem einzigen!« und nach einem Weilchen, da seine Küsse verraucht waren: »Sieh, Ninerl!« – indem er auf den Schreibsekretär deutete – »dort drüben bin ich vielleicht ein Dichter gewesen, als ich unsere Jo schrieb. Aber jetzt, hier, bei dir, und in dieser Sommernacht, da bin ich nichts als ein armes, stammelndes Menschenkind, das keine Worte findet. Das nur vor all dem Wunderbaren in die Knie sinken kann. Oder glaubst du, als Adam zum erstenmal Eva sah, daß er da auf der Stelle wußte, wie er sie nennen sollte? Er hatte etwas unendlich viel Besseres Zu tun.«

Nina lächelte. Ihre halb geöffneten Lippen schienen zu warten.

»Nun! Und?«

»Er nahm sie in den Arm und küßte sie, bis sie alle beide den Verstand verloren.«

Nach einer Weile richtete er sich auf. »Und das... das alles hätte ich heute zum letztenmal haben sollen!« flüsterte er. »Wie wahnsinnig doch die Menschen sind!«

»Ja!« nickte sie. »Ich wollte, daß es aus sein sollte nach dieser Nacht, zwischen uns. Ich wollte einen neuen Lebenstag anfangen mit morgen früh.«

»Nicht mehr?«

Nina schüttelte den Kopf.

»Das war gestern. Aber zwischen gestern und heute...! Hältst du es für möglich, daß man an einem Tag so viel erleben kann, wie andere in vielen Jahren?«

»Tausend Jahre sind ihm wie ein Tag,« murmelte Rudolf vor sich hin und nickte. Nina dachte etwas nach, dann fuhr sie fort:

»Jemand hat mir einmal ein Wort gesagt.«

»Wie heißt das?«

»Eine jede Flamme verbrennt nach ihrem Gesetz.«

»Das könnte von Brandstädter sein?«

»Auf den Namen kommt es nicht an. Aber das Wort ist wahr. Man kann nicht, wie man möchte. Man muß! Also gut! So will ich denn auf meine Art brennen, so lange wie es dauert.«

Rudolf hatte sich von neuem in Ninas Betrachtung versenkt. Seine Augen hingen an diesen schmalen, blassen, vom Glück der Stunde leise geröteten Zügen, über denen es, aller Sünde zum Trotz, wie ein Glanz von Reinheit und Unschuld zu liegen schien.

»Ninerl! Ninerl!« wiederholte er flüsternd. »Was wird das mit uns zweien?«

Nina hatte sich aufgerichtet und blickte ihm starr ins Gesicht. Ein seltsames Glimmen war in ihren Augen, die jetzt im Schatten der dunklen Brauen wie in einem tiefen Meeresgrau schwammen.

»Weißt du, was mir heute begegnet ist?« sagte sie in einem merkwürdig abwesenden Ton. »Etwas ganz Besonderes unter dem vielen, was ich erlebt habe.«

»Nun?«

»Meine Jugend ist mir begegnet. Ich sah mich, wie ich mit Achtzehn war.«

Rudolf betrachtete sie kopfschüttelnd.

»Deine Jugend ist dir begegnet?«

»Es hat sie jemand gekauft, um schweres Geld. Vielleicht lernst du sie noch kennen.« »Was sind das für Rätsel, Nina?«

»Und weißt du, was sie mir zugerufen hat?«

Sie sank mit geöffneten Armen auf die Ottomane zurück.

»Ninerl!« rief Rudolf mit trunkenen Augen. »Jetzt hast du den Blick der Parisina, wie sie als Jo von Correggio gemalt wird!... War es das, was dir deine Jugend zugerufen hat?«

Sie antwortete nicht. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn an ihre weiße Brust.


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