Max Halbe
Jo
Max Halbe

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11

Hans Lebrecht und Frau Sophie saßen sich oben im Atelier gegenüber. Sophie hatte unruhige und verstimmte Tage hinter sich. Neuerdings meldeten die Gedanken sich sogar des Nachts, und der sonst so getreue Schlaf begann auszubleiben. Was Rudolf und Nina taten, war eine schwere Schuld gegen ihren Bruder – es gab Stunden, wo sie es ein Verbrechen nannte – und sie war die Mitwisserin, die Helferin! Was Nina außerdem angedeutet hatte und worüber es noch immer keine Gewißheit zu geben schien – Nina wich allen Fragen aus –, das mochte sie erst recht nicht zu Ende denken. Hätte Nina nur schon den Mund gehalten und nicht Unschuldige und Unbeteiligte in ihre schamlosen Geschichten verwickelt! Ja, schamlos, das waren sie! Man mußte das Kind einmal beim richtigen Namen nennen. Nina war ein prächtiger Kerl, in gewissem Sinne sogar ein ganz merkwürdiges und wertvolles Menschenkind. Wie hätte sonst auch ihr Sohn sich so tief verstrickt! Aber im Punkt der Liebe, der Treue... Die Katze konnte eben das Mausen nicht lassen. Das Blut von Vater und Mutter, das Theater, die Malerateliers ...! Mußte das alles nicht immer wieder durchbrechen? Und Rudolf? Er war ihr Sohn und ein dummer Junge von sechsundzwanzig Jahren. Dies war seine Entschuldigung, wenn es eine gab. Trotzdem blieb es Sünde und Schande, wie er sich benahm und was er seinem Onkel und schließlich auch seiner Mutter antat! Sie konnte nicht länger dazu stillschweigen. Sie mußte irgendwie bei ihrem Bruder anklopfen. Ganz vorsichtig natürlich, ganz diplomatisch. Frauen haben ja eine so leichte Hand in solchen Dingen.

Aber als sie nun Hans Lebrecht in seinem Atelier gegenüber saß, da war das Wort, das die Brücke schlug, schwerer zu finden, als sie sich vorgestellt hatte. War es die Totenstille in dem großen und hohen Räume, die jeden Ton wie mit einer doppelten Resonanzschicht umgab? War es das seltsam kühle, traumhafte Oberlicht, das die Gegenstände ringsumher, die japanischen Lackarbeiten, die chinesischen Seiden und Porzellane, die indischen Bronzen, die afghanischen Decken, die Perserteppiche, diese ganze bunte fremdartige Welt noch unwirklicher, phantastischer machte? Kam es von den Bildern alter Meister an den Wänden, von aller dieser verblichenen oder nachgedunkelten Leinwand, den finstern Ratsherrnköpfen, den lichtumflossenen Frauenleibern, den verschollenen Landschaften, in deren jeder und jedem ein Stück gestorbenen und doch gespenstisch wachen Lebens umzugehen schien?

Wohl möglich, daß alles zusammenwirkte, um Sophien, die selten hier heraufkam, den Kopf zu benehmen. Sie versuchte mehrere Male einen Anlauf, aber der Sprung wollte nicht glücken. Hans Lebrecht machte es ihr auch gar zu schwer. Er saß mit einem langen rohseidenen Malerkittel angetan in seinem geblümten Großvaterstuhl, die mageren Beine nach seiner Art übergeschlagen, die Vormittagszigarette im Munde, und schien entschlossen, die Dinge an sich herankommen zu lassen. Sein spitzes, käsiges Gesicht verschwand beinahe in den blaugrauen Kringeln, die ununterbrochen aus seiner Zigarette aufquollen, und nur die scharfen hellen Jägeraugen durchdrangen den Qualm und hafteten beunruhigend auf dem Gesicht der Schwester.

Jupiter in der Wolke! dachte Sophie, mußte aber gleich darauf im stillen lächeln, denn eigentlich war die Situation Jupiters in der Wolke doch recht verschieden von dieser. Aber irgendeinem morgenländischen Magier konnte man ihn in seinem langen schlottrigen Seidenüberwurf mit den schwarzen japanischen Ornamenten wohl vergleichen. Sophie war in diesem Moment überzeugt, er sei imstande, mit seinen kalten klaren Augen ebenso ihre Gedanken zu durchdringen wie das Zigarettengewölk. Vielleicht war es auch nur das, und nichts anderes, was ihre sonst so frische Entschlußkraft lähmte, denn wenn er ja doch schon wußte, was sie sagen wollte, weshalb sollte man erst viel nach Worten suchen!

Sie ärgerte sich je länger je mehr über sich selbst, und am meisten, daß er auch dies zu bemerken und sich darüber zu amüsieren schien. Man sprach von Dingen der Wirtschaft und des Haushalts, vom Wetter, das merkwürdig beständig war, von den nicht ganz zweifelfreien Zeitläuften. Die Unterhaltung kam auf Brandstädter. Er schien wieder etwas umgänglicher geworden. Dies zeigte sich auch darin, daß er das bisher krampfhaft versteckte Manuskript seiner Trilogie Sophien – aber auch nur ihr allein – zu lesen gegeben. Sie hatte sich sogleich darüber gemacht, war aber noch nicht fertig. Bis jetzt war der Eindruck einer der größten und tiefsten, den sie je von irgend etwas gehabt hatte.

»Schade, daß solche Säkularwerke uns weniger begnadeten Zeitgenossen vorenthalten bleiben!« meinte Ewald und zündete sich eine neue Zigarette an.

»Ihr seid doch selbst schuld!« rief Sophie lebhaft. »Wer hat ihn denn in seine Verstocktheit, in seine Verbitterung hineingehetzt? Niemand als ihr mit eurer Unterschätzung, eurer Verkennung! Ihr alle! Auch du!«

Ewald lächelte in seiner dünnen Art.

»Es ist nicht das erstemal, daß man Sophie Ewald so reden hört.«

»Weil ich keine Ungerechtigkeiten leiden kann!... Er ist ja doch einer der Stärksten, die heute leben.«

»So lautete die Weise schon vor zwanzig Jahren.«

»Meinetwegen vor dreißig Jahren oder noch länger! Ihr habt euch schon auf der Schule alle an ihm gerieben.«

»Und Iphigenie mußte ihn verteidigen.«

Sophie warf heftig den Kopf zurück.

»Ich bin stolz darauf!... Im übrigen seid ihr mit eurer Iphigenie auf dem Holzweg.«

Ewald verbeugte sich ironisch.

»Es war des großen Brandstädters Erfindung, nicht die meine.«

»Ja, er war dumm genug, so etwas in mir zu sehen. Es wäre vielleicht besser gewesen, er hätte ein anderes Bild von mir gehabt.«

»Ei! Ei!« Ewald hatte drohend den Finger erhoben, was Sophies Ärger vollends zu entfachen schien.

»Brandstädter hat nie etwas von den Frauen verstanden!« rief sie errötend. »Das beweisen alle seine Schriften. Das beweist sein ganzes Leben. Wer von euch Männern versteht überhaupt etwas von uns Frauen!«

»Den Unterzeichneten hoffentlich ausgenommen,« warf Ewald ein und verbeugte sich wie vorher.

Sophie lachte gereizt.

»Du?... Du bist doch das allergrößte Kind den Frauen gegenüber!... Um aber nochmal von mir anzufangen... Ich bin keine Iphigenie und keine Prinzessin Leonore. Ich bin nichts als ein natürlich empfindendes Menschenkind. Und deshalb trete ich für den ein, der ungerecht angegriffen und verketzert wird. Basta!«

Eine kleine Pause entstand. Ewald strich nachdenklich sein Kinn. Nach einem Weilchen bemerkte er leichthin:

»Man hätte unter diesen Umständen vielleicht besser getan, Brandstädters Trilogie aufzuführen, statt Rudolfs ›Jo‹.«

Er hielt einen Augenblick inne, als erwarte er Sophies Antwort. Aber sie schwieg. Er warf ihr einen kurzen Blick zu und fuhr fort:

»Vielleicht läßt es sich jetzt noch umändern. Man sollte mit Benvoglio Rücksprache nehmen.«

Sophie hatte Ewalds Blick erwidert. Jetzt lachte sie auf:

»Wenn du glaubst, daß du mich damit fangen kannst, so irrst du dich, lieber Hans. Wo es notwendig ist, werde ich natürlich für meinen Jungen eintreten, dafür bin ich ja seine Mutter.«

Ewald verneigte sich.

»Bartholdy pflegte sogar von einer Löwenmutter zu sprechen. Wehe dem, der ihr Junges angreift!«

»Deshalb kann ich aber doch zwischen einem Erstlingswerk, wenn es auch noch so viele Schönheiten hat, und einer reifen Dichtung, einer Lebensarbeit unterscheiden. Eins schließt ja das andere nicht aus. Es können doch zwei bedeutende Dichter nebeneinander bestehen, einer, der erst anfängt, und einer, der schon auf der Höhe steht...«

Ewald hatte ein satirisches Lächeln um die schmalen Lippen.

»Sollte es das wirklich geben, liebe Sophie? Dann frage doch mal die Dichter selbst. Keiner betet zu einem andern Gott als zu sich.«

»Ich richte mich nach meinem eigenen Urteil,« erwiderte Sophie eifrig. »Ich bin die letzte, die sich etwas vormachen läßt. Ich kenne Brandstädter und ich kenne auch meinen Sohn.«

»Ob du dich da nicht täuschest?«

Ewalds Stimme hatte plötzlich einen merkwürdig hellen, schneidenden Klang. Sophie sah überrascht auf. Ihr Herz begann hörbar zu klopfen. Der Augenblick war da. Hans Lebrecht selber schien die Brücke zu schlagen.

»Glaube nicht,« sagte sie mit etwas geröteten Wangen, »daß mir die Fehler und Schwächen Rudolfs oder, wenn man es so nennen soll, seine Irrtümer unbekannt sind. Ich sehe sie am allerbesten, und wo er schuld hat, da werde ich ihn gewiß nicht verteidigen.«

Sie schwieg und blickte von der Seite her durch ihr Lorgnon, wie es manchmal ihre Art war, zu Ewald hinüber. Dieser schien fast in den blauen Ringeln und Kringeln seiner Zigarette zu verschwinden.

»Du scheinst anderer Ansicht zu sein?« meinte Sophie Nach einer Pause etwas unsicher.

»Findest du?«

»Ja. weil du keine Antwort gibst.«

Ewald erhob sich. Sophie kam es vor, als schwanke seine lange dürre Gestalt etwas, ehe sie festen Boden unter sich fand. Vielleicht war es auch nur der Zigarettenrauch, in dessen Wellen alle Umrisse durcheinander flossen.

»Verzeih', liebe Sophie!« sagte er. »Aber ich wüßte nicht, was das Thema im Augenblick für ein Interesse haben könnte.«

»Es scheint, du willst mich los sein,« entgegnete Sophie ein wenig verletzt. »Und ich hätte mich so gern einmal mit dir ausgesprochen! Es ist gar nicht mehr wie früher zwischen uns. Man hat wirklich keinen Menschen mehr.«

Ewald reichte ihr die Hand.

»Ich wollte dich nicht kränken. Aber zum Beichtvater habe ich wenig Talent.«

Sophie war ebenfalls aufgestanden. Ihr Groll war bereits geschwunden.

»Ich weiß nicht!« meinte sie lächelnd. »Früher...!«

»Das Beichteabnehmen war wohl stets mehr auf deiner Seite,« bemerkte Ewald ebenfalls lächelnd und mit einem ungewohnten Anflug von Wärme. »Das würde ja auch dem statistischen Verhältnis unserer Sündhaftigkeit gegenseitig entsprechen.«

Sophie lachte. »Ich bin kein Engel! Obwohl ihr mich alle dafür zu halten scheint. Ich kann auch meinen Kopf aufsetzen.«

Ewald stand vor ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. In seinem zerknitterten Gesicht lichterte es wie zwischen Ironie und Bewegung.

»Wir sind alle keine Engel, meine liebe Sophie. Selbst ich nicht. Aber das Leben ist, wie es ist. Jeder hat seine Schüssel auszulöffeln. Wem es nicht paßt, der kann hungern. Nachserviert wird nicht!«

Auf dem Wege zum Herrenhaus war Nina dem im Park lustwandelnden Neubauer begegnet. Sie wußte selbst nicht recht, ob ihr das Zusammentreffen erwünscht kam oder nicht. Doch da es nun einmal so war, war es vielleicht auch am besten so. Neubauer hatte während der Wochen seines Hierseins sich in einer gewissen Entfernung gehalten, aber die Art, wie es geschah, war beinahe schlimmer als ein offenes Sichgehenlassen, gegen das man sich hätte wehren können. Er hatte eine Manier, seinen Respekt vor der Dame des Hauses zur Schau zu tragen, die beleidigend wirkte. Seine weißen Augäpfel quollen unter den großen blauen Zwickergläsern über vor wohlwollendem Mitwissen, vielsagendem Begreifen. Auf seinem breiten grünlichen Gesicht malte sich ein so gütiges, priesterliches Verstehen, daß man Lust bekam, auf diese große, schöne, einladende Fläche ein recht kräftiges Handsiegel zu drücken. Was hatte das Monstrum sich damit zu brüsten, daß vor grauen Zeiten, die ihrem Bewußtsein so fern lagen, wie den Menschen von heute die Arche Noch, eine kaum erst flügge, leichtsinnige, unerfahrne Nina Wagner durch sein Atelier geflattert und halb schuldlos an seinen Leimruten hängengeblieben war! Für einige flüchtige Tage nur. Und mehr aus Not als aus Trieb und Neigung. Und jetzt gebürdete sich die Giftkröte, als hätten von jeher die intimsten Beziehungen zwischen ihnen bestanden und sein Wink genüge, um ihn wieder in seine alten Rechte treten zu lassen!

»Was soll eigentlich diese merkwürdige Miene bedeuten, Herr Neubauer, die Sie fortwährend gegen mich aufsetzen?« fragte sie plötzlich, nachdem Neubauer sie begrüßt und um die Erlaubnis gebeten hatte, sie zum Schloß begleiten zu dürfen.

»Nichts als den Tribut meiner Bewunderung, wie Gnädigste das Leben zu meistern verstehen,« erwiderte Neubauer mit glattem Lächeln und lüftete im Bühnenstil eines spanischen Granden sein grünes Hütchen, das er heute zum strohfarbenen Strandanzug trug.

Nina runzelte die Stirn.

»Ich brauche Ihre Bewunderung nicht. Ich erhebe gar keinen Anspruch darauf.«

»Die Bescheidenheit des echten Genies! Weiß der Diamant, daß er leuchtet, bezaubert, berückt? Er tut es einfach. Es ist ihm angeboren, zu bezaubern, zu berücken.«

»Mit Schmeicheleien fangen Sie mich nicht. Das Stadium habe ich hinter mir.«

»Und dann noch eine andere Relation zum Diamanten: einerlei, wer ihn an den Finger steckt, gestern der, heute jener, morgen vielleicht ein dritter: jedem spendet er sein Licht, seinen Zauber, seinen Reiz auf die gleiche Weise. Jeden, der ihn besitzt, beglückt er mit derselben holden Vorurteilslosigkeit.«

Nina fühlte, wie es ihr heiß über Wangen und Nacken floß.

»Es kommt nur darauf an,« rief sie, »wer ihn besitzen kann! Jedenfalls nicht der erste beste!«

Neubauer verbeugte sich.

»Natürlich immer nur der Starke! Diamanten und schöne Frauen fallen von Rechts wegen dem Stärksten im Leben zu.«

»Oder dem, der die längsten Finger hat!«

»Net übel pariert! Aber doch eigentlich ein ziemlich bürgerliches Niveau für eine Dame von Ihrer Überlegenheit, Baronin. Im Liebeskampf gelten alle Waffen. Darüber brauchen wir zwei uns doch keinen Dunst vorzumachen.«

Nina war stehengeblieben. Ihr Blick streifte Neubauern von der Seite.

»Ich weiß nicht, was das alles heißen soll. Vielleicht erklären Sie sich etwas deutlicher...«

»Aber mit Vergnügen, schönste Frau! Ich wart' ja die ganze Zeit nur auf die Gelegenheit. Sehr hübsch, daß Sie einem alten Freunde selbst die Hand bieten. Ich hätt' sonst schon so frei sein müssen, meinerseits herauszurücken...«

Neubauers Redeweise hatte wieder jenen Anflug von Dialekt, der ihr in lebhafteren Momenten zu eigen war und von dem man nicht genau sagen konnte, ob er unbewußt oder beabsichtigt sei. »Sie reden von uns zwei, als wenn wir Schweine zusammen gehütet hätten!« rief Nina heftig und setzte ihren Weg fort.

»Haben wir doch auch, sozusagen!« meckerte Neubauer, indem er sich bemühte, Schritt mit ihr zu halten. »Gehen's! Machen's keine Flausen, schöne Frau!«

»Mir ist nichts davon bekannt. Mir ist überhaupt Ihr ganzes Auftreten hier, wie gesagt, unverständlich.«

»Wird schon noch verständlich werden! Lassen's mich nur erst zu Wort kommen!«

»Sie gehen mit einer Miene herum, seit Sie hier sind, als wenn Sie jedem Menschen sagen wollten: Die da hab' ich in meinen Fingern gehabt! Was fällt Ihnen denn eigentlich ein?«

Neubauer starrte sie einen Augenblick verblüfft an. Plötzlich brach er aus:

»No! Vielleicht nicht?... Ich erinnere an das Atelier Barbarossastraße 37.«

»Und an die Räucherpfannen und die parfümierten Wachskerzen und die violetten Schleier und all das andere perverse Zeug, womit man einem blitzdummen siebzehnjährigen Ding den Kopf benebelt! Wenn schon erinnert werden soll, dann bitte auch an all das! Ich kann auch auspacken!«

Nina war wieder stehengeblieben. Ihr Herz klopfte heftig. Ihr Gesicht war von einer durchsichtigen Blässe bedeckt. Irgendwo lauerte wieder jene dunkle unbestimmte Angst von heute morgen wie ein böser Hund. Aber sie war entschlossen, sie nicht über die Schwelle zu lassen. Man durfte sich nicht zu viel auf einmal aufladen. Es würde nicht leicht sein, mit Neubauer fertig zu werden. Sie kannte ihn. Es gab keine Gnade und keinen Pardon, wenn man mit Menschen wie er Krieg führte. Und doch war sie froh, daß dies alles einmal über ihre Lippen kam. Wie viele Jahre hatte sie es in sich verschlossen! Es hatte gelegen wie alte Papiere im Geheimfach, an die man kaum mehr denkt. Erst Neubauers Erscheinen hatte alles wieder aufgerührt. Jetzt erst fühlte sie, wie es an ihr würgte, das Bewußtsein, sich einem Menschen wie er in die Hand gegeben zu haben, so kurz es auch gedauert hatte und so unverantwortlich jung sie gewesen war. Dafür hatte man nun aufzukommen. Viel stand auf dem Spiel. Es mußte ausgekämpft werden.

»Ist Ihnen nicht gut, Baronin?« fragte Neubauer, indem er den großen Goldknauf seines Bambusstockes unter seine breiten Nüstern gepreßt hielt und seine hervorquellenden weißen Augäpfel starr auf Nina gerichtet hielt.

Sie schüttelte nur den Kopf, drückte ihre Fingernägel gegen die Handflächen, um etwas zu haben, womit man sich gegen sich selbst zu Hilfe kam.

»Setzen wir uns, holde Feindin!« fuhr Neubauer fort und geleitete Nina zu einer nahestehenden Bank unter einer schön gewachsenen Ulme. »Sie sind etwas echauffiert. Kein Wunder! Bei der Hitze! Und auf den Turm gestiegen auch noch! Wollen Sie mich derweil ruhig anhören?«

Nina erhob keinen Widerspruch. Es mußte ausgekämpft werden. Ihre Blicke gingen in die Runde. Das Schloß lag ein gut Stück entfernt hinter ihrem Rücken. Also absichtlich einen falschen Weg geführt! dachte sie. Er scheint nach einem richtigen Kriegsplan vorzugehen. »Daß ich auf dem Turm war, wissen Sie auch schon?« begann sie, ihm rasch ins Wort fallend. »Es ist auch weiter kein Geheimnis. Ich steige ganz gern ab und zu hinauf. Die Aussicht ist heute besonders klar.«

Sie mußte im stillen lächeln, denn sie erinnerte sich aus dem Gespräch mit Brandstädter, daß das Gegenteil der Fall war.

»Was hat die alte Pulverkiste wieder für Raketen steigen lassen?« fragte Neubauer wie beiläufig und stützte seinen würfelförmigen Kopf auf den Goldknauf des Bambusstockes, den er zwischen den gekreuzten Armen auf den Boden gestemmt hielt.

Nina reizte es, die Unwissende zu spielen.

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte sie. »Wovon ist die Rede?«

»Ich verstehe Sie nicht, Nina!« rief Neubauer. »Ist denn der alte Narr noch immer nicht aus Ihrem Leben ausgestrichen? Ein ausgebrannter Krater, der nur noch in ohnmächtiger Wut um sich spuckt! Weil es zu einer wirklichen großen Eruption eben net mehr langt!... Seit wann gibt sich eine Frau wie Sie mit Ruinen ab? Eine Frau, die so nach dem Leben hungert. Und die auch ins Leben hineingehört, da, wo es am stärksten brandet. Ins Theater! Vors Publikum! Auf die Bretter! Das ist Ihre Welt, Nina. Dahin gehören Sie. Und nicht als melancholisches Mauerblümchen unter Ruinen!«

Nina hatte den Kopf ein wenig gesenkt. Neubauers Worte gaben doch mehr zu denken, als sie sich zugestehen mochte.

»Sie scheinen besser mit mir Bescheid zu wissen als ich selbst?« meinte sie mit einem unsichern Lächeln.

Neubauer nickte überlegen.

»Ich kenne Sie in- und auswendig, schönste Nina! Ich kenne Ihre Vergangenheit und ich weiß auch Ihre Zukunft.«

»Sie trauen sich ja nicht wenig zu.«

»An Selbstunterschätzung habe ich nie gelitten. Dazu dürfte für den geistigen Urheber und Leiter der »Funkenturm-Bewegung auch keine Veranlassung bestehen.«

Nina warf ihrem Nachbarn einen Blick zu. Der monströse Mensch, dem die Eitelkeit über das ganze Gesicht glänzte, als sei es mit Öl eingerieben, kam ihr mit einemmal wieder klein und lächerlich vor.

»Sie bilden sich ein, meine Vergangenheit zu kennen, weil Sie mich einmal als junges Ding in Ihrem Atelier gehabt haben...«

»Unter Assistenz von Räucherpfannen, parfümierten Wachskerzen und farbigen Schleiern!«

»Ja! Denn ohne das wären Sie selbst damals nicht mit mir fertig geworden.«

Neubauer verbeugte sich.

»Ein Beweis, daß ich Sie schon damals höher eingeschätzt habe, als es Ihrer äußern Situation entsprach, schöne Nina. Sonst pflegt man mit Aktmodellen weniger Umstände zu machen.«

Nina stampfte heftig mit dem Fuß auf.

»Ich war nicht Ihr Aktmodell! Ich verbitte mir das! Sie haben meinen Kopf und meinen Hals gemalt. Weiter nichts! Höchstens noch den violetten Schleier um die Schultern. Es war ein schöner Kitsch! Und ein solcher Mensch nennt ein Genie wie Brandstädter eine Ruine! Wirklich komisch!«

»Auch Sie, schöne Nina, sind reifer geworden, haben sich vom Aktmodell ... Pardon! vom Kopfmodell zur Baronin entwickelt. Vielleicht wäre es meinen Bildern ähnlich ergangen, wenn ich Maler geblieben wäre. Gott sei Dank habe ich Wichtigeres zu tun. Was im übrigen die Ruinen betrifft, unter denen Sie leben, so habe ich damit durchaus nicht nur Brandstädter gemeint.«

Nina lachte gereizt.

»Immer besser! Wohl auch meinen Mann?«

»Jedenfalls nicht Ihren Neffen,« erwiderte Neubauer und verbeugte sich.

Nina war rot geworden. Aber es war ihr in diesem Augenblick und Neubauer gegenüber gleichgültig. Sie wandte ihm ihr volles Gesicht zu. Ihre graugrünen Augen sprühten in feindseligem Glanz.

»Ich nehme an, daß Sie jetzt so weit sind, wie Sie es haben wollten.«

»Wenn ich offen sein soll, ja. Oder eigentlich vielmehr, nein. Worauf ich in Wirklichkeit hinaussteuere, das habe ich Ihnen schon gesagt.«

»Ich entsinne mich nicht.«

Neubauer nahm seinen Zwicker ab und putzte eifrig an den großen blauen Gläsern. Das grüne Hütchen war ihm etwas in das Genick gerutscht. Die schwarzen strähnigen Chinesenhaare schimmerten feucht. »Erst noch eine Frage, Nina, ehe ich zum eigentlichen Zweck unserer kleinen Unterhaltung komme?«

»Bitte!«

»Warum lassen Sie zu, daß die ›Jo‹ unseres gemeinsamen Freundes – ich darf ihn wohl so nennen, net wahr? – warum geben Sie zu, daß eine Rolle, die Ihnen so auf den Leib geschrieben ist, von einer Person wie der Frantzius verballhornt wird? Mit beiden Füßen zugleich müßten Sie auf die Bühne springen und selbst die Rolle spielen, wenn noch ein Atom von Ihrer alten Natur in Ihnen steckt! Also erklären Sie mir das gefälligst?«

Nina wandte unruhig den Kopf ab vor dem bohrenden Blick dieser weißen starren Glotzaugen.

»Weil ... weil ...,« stotterte sie, »na ja, weil wir unsere Gründe haben, Rudolf und ich ...«

»Ich danke für das Geständnis,« fiel Neubauer ein und verbeugte sich.

»Ich habe Ihnen nichts zu gestehen!« rief Nina und biß sich ärgerlich auf die Lippen. »Ich sage nur, es gibt Gründe! ... Es ist alles wohlüberlegt! ... Wenn Sie's denn wissen wollen, ich bin eben nicht mehr die Natur, die Sie und vielleicht auch andere in mir erblicken. Das war einmal. Dietramsried hat mich sehr verändert. Ihr seht alle noch die Nina von einst in mir.«

Neubauer hatte seinen Zwicker wieder auf die Nase gesetzt und wiegte nachdenklich den Kopf.

»Mit dem ›ihr‹ scheint außer meiner Wenigkeit noch die alte Pulverkiste gemeint zu sein?« bemerkte er.

Nina sprang heftig auf.

»Ach, verschonen Sie mich doch mit Ihren höhnischen Redensarten! Es ist überhaupt Zeit, daß wir aufhören. Ich werde sicher schon im Hause vermißt. Weit genug haben Sie mich ja verschleppt! Wollen Sie mich, bitte, heimführen!«

Neubauer hatte sich ebenfalls erhoben und stand in seiner großen massigen Gestalt vor ihr, das grüne Hütchen noch immer etwas im Genick.

»Ja, kommen wir zum Schluß!« sagte er. »Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen, auf den ich, wenn nicht gleich, so doch in kürzester Frist, sagen wir bis heute abend, Antwort erwarte.«

»Und was ist das? Sie verstehen einen neugierig zu machen.«

»Vorerst geben's mir die Hand, Ninerl, und schauen's mich an.«

Er streckte ihr seine beiden Hände entgegen, aber sie hatte die ihren auf den Rücken gelegt und sah mit halber Wendung des Kopfes zu ihm hinauf.

»Jetzt fehlt nur noch, daß Sie mich duzen,« meinte sie etwas lauernd.

»Es wäre nur die Wiederherstellung eines früheren unvergeßlich reizenden Zustands,« erwiderte er. »Du ... du ... verruchte schöne Schlange!«

Nina lachte kurz auf.

»Also eine Liebeserklärung in aller Form! Ist das alles?«

»Noch nicht alles!« keuchte er und legte seine beiden schweren Hände auf ihre Schultern. Nina war es, als seien es zwei Raubtiertatzen, aus deren Griff es kein Entkommen mehr gäbe.

»Noch nicht alles!« wiederholte er und beugte sein grünbleiches Gesicht zu ihr hinunter. »Weißt du auch, daß du in meiner Gewalt bist, du ... du ... Instrument der Lust? ... Daß ich auf dir spielen kann, wie es mir paßt?«

»Sie meinen, weil ich mich nicht wehren kann?« stammelte sie. »Weil ich hier allein bin? ... Sie könnten sich irren! Lassen Sie mich los!«

»Nicht weil du hier allein mit mir bist! ... Weil ich dein ganzes Leben kenne ... deine Vergangenheit ... alle deine Debauchen ... dein angebornes Hetärentum ... Und weil ich entschlossen bin, damit rücksichtslos vor alle diejenigen hinzutreten, die noch so naiv sind, sich wer weiß was für ein Bild von dir zu machen, und an deren Meinung dir vielleicht ziemlich viel gelegen sein könnte ...«

Neubauer hielt einen Moment inne. Die Erregung ließ seine Augäpfel noch weiter als sonst herausquellen.

Gleicht er nicht auf ein Haar einem wildgewordenen Schellfisch? dachte Nina bei sich und hätte unter dem Griff seiner Tatzen, die noch immer ihre Schultern gepackt hielten, beinahe lachen müssen.

»Was wollen Sie eigentlich von mir?« fragte sie und hatte ihre Ruhe vollständig wiedergefunden.

»Was ich will ... was ich will?« keuchte Neubauer. »Ich will, daß du mir gehören sollst, so gut wie du andern gehören kannst! Daß du mir zu Willen sein sollst, ohne Widerrede! Oder sonst ...«

»Nun?« fragte Nina, indem sie sich ein wenig auf den Zehenspitzen erhob und zu ihm hinauflächelte. »Oder es geschieht, was ich dir angekündigt habe, und was gewissen Personen erst deine wahre Natur enthüllen wird. Jetzt triff deine Entschlüsse! Aber triff sie bald! Ein Neubauer hält Wort.«

Er hatte seine Hände von ihren Schultern entfernt und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das grüne Hütchen war ihm weit in den Nacken gerutscht. Nina stand vor ihm und lächelte noch immer. Ihre weißen Zähne schimmerten feucht zwischen den leicht geöffneten Lippen.

»Und wenn es nun herauskäme ... zwischen uns?«

»Ein Betrug mehr oder weniger! ... Was spielt das bei einer Natur wie dir für eine Rolle!«

»Aber säße ich dann nicht erst recht da?«

»Um so besser! So sorge ich für dich. Ich nehme dein Schicksal ganz in meine Hand. Ich mache eine von den großen Frauen der Zeit aus dir. Dein Leben soll erst anfangen. Erblicke deinen künftigen Impresario in mir! Es ist kein kleiner Glücksfall, einen Neubauer zum Protektor zu bekommen. Du kannst eine Henriette Sontag werden! Eine Hamilton! Eine Lecouvreur! Nur erst fort aus dieser Atmosphäre von Heuduft und Ruinenmoder! Oder willst du wirklich hier als Landpomeranze verschrumpfen?«

Nina kam ein Gedanke, der nicht ohne Komik für sie war. Sie hatte sich mit Rudolf für heute abend im Parkhaus bestellt. Sie hatte soeben Brandstädtern für die gleiche Stunde ein Stelldichein in der Ruine zugesagt. Wie wäre es, wenn sie nun auch Neubauern ...? Es ging in einem hin.

»Erwarten Sie mich um Zehn oben am Tennisplatz!« sagte sie rasch. »Und jetzt lassen Sie mich voraus. Es ist besser, wenn wir jetzt nicht zusammen gesehen werden.«

»Baronin!«

Neubauer verneigte sich mit tadelloser Höflichkeit und lüftete grüßend sein grünes Hütchen im spanischen Grandenstil. Dann schlug er sich auf einen der seitlichen Parkwege und verschwand.


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