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20
Epilog

Die Laune des Geschicks spielt mit uns flüchtigen Kindern der Erde wie der Jongleur mit seinen Bällen. Sie fliegen durcheinander, schnellen hierhin und dorthin, tanzen auf und ab und gehorchen doch schließlich alle dem gleichen Willen, dessen tieferer Sinn ihnen verborgen bleibt. Kann es einen zwingenderen Beweis geben als den, den diese wahrhaftige Geschichte uns bietet? Wäre nicht der Rasen des Köhlerschen Gartens auf Anordnung des Generalkonsuls kurz vor dem ländlichen Fest abgemäht worden und hätte nicht sein Neffe in angebornem Eigensinn sich geweigert, das unter dem Lindenbaum aufgehäufte Heu wegschaffen zu lassen, wie es sich eigentlich gehörte, so hätte Stenzel bei seinem Flugversuch ohne alle Apparate sich wahrscheinlich das Genick gebrochen und unsere Geschichte wäre auch ohne diesen Epilog zu Ende.

So aber ist zu berichten, daß der aus dem Verstandesgeleise geworfene, auf so besondere Weise gerettete Mann etwa binnen Frist eines halben Jahres allgemach wieder in seine Normalspur zurückfand. Ziegelbocks Buttermilchkur in sinngemäßer Verbindung mit Rettich, Radieschen und grünem Salat wirkte Wunder wie immer. Im März des folgenden Jahres verließ Johann Sebastian Stenzel das Sanatorium und trat eine mehrwöchige Seereise nach den Kanarischen Inseln an. Die heliotropfarbene Meeresflut und die Palmen des Südens taten ein Übriges, um auch das letzte Gewölk aus der verstörten Seele des wunderlichen Mannes zu scheuchen und ihr ihren Frieden zurückzugeben. Seit Ende April befand sich Johann Sebastian Stenzel wieder im Lande und nahm seinen gewohnten Platz in seiner Arbeitskajüte an der Promenade der alten Hansestadt ein.

Und weiter – denn unsere Rechnung mit dem Geschick ist noch nicht abgewickelt: Hätte Ginevra van Düren nicht ihr leichtfertiges Spiel (es soll nichts entschuldigt werden!) mit ihrem recht von sich eingenommenen Anbeter getrieben, so hätte dieser niemals den trügerischen, aber beseligenden Zauber der Liebe kennengelernt und mit ihren Schmerzen, ihrem Leid wäre ihm auch die Erleuchtung, die Läuterung durch sie für immer versagt geblieben. Er hätte fortgefahren, der kleine gottwohlgefällige Pharisäer und Puritaner zu bleiben, der er bis dahin gewesen war. Es mußte das Wunder der Liebe über ihn kommen und seine Seele umnachten, um die Todsünde des geistigen und moralischen Hochmuts von ihm zu nehmen und einen neuen, seiner irdischen Unzulänglichkeit bewußten Adam aus ihm zu machen.

Und ferner, denn unsere Rechnung läuft noch weiter: Hätte nicht Ginevra jenes teils mutwillige, teils kaltherzige Spiel mit der Liebe eines würdigen und ehrenhaften Mannes getrieben und ihn solcherweise auf den Baum hinauf und auf den Heuhaufen hinunter gelockt, so hätte sie vielleicht nie erfahren, wohin solche Gaukelkünste führen können und wie vorsichtig schöne Frauen mit dem Zauberstab umgehen müssen, der für eine kurze Weile (Vergänglichkeit! Vergänglichkeit!) in ihre wohlgepflegten Hände gelegt ist. Sie hätte vielleicht nach ihrem alten Verehrer auch noch dem jungen, der aber nicht mit sich hätte spaßen lassen, und so manchem älteren und jüngeren Nachfolger den Kopf zu verdrehen gesucht, um endlich nach tausend Enttäuschungen der andern und ihrer selbst unter die Frauenrechtlerinnen zu gehen und sich in den Reichstag wählen zu lassen.

So aber ist zu berichten – jedoch das weiß ja der aufmerksame Leser des Vorhergegangenen ohnehin von selbst. Nur soviel sei gesagt, daß Ginevra ob des Stenzelschen Unglücks, an dem sie sich mit Recht oder Unrecht die Hauptschuld zuschrieb, sich ehrliche Vorwürfe und Gewissensbisse machte, indem sie zugleich den Vorsatz in sich erweckte, nie wieder reiferer Männerherzen zu spotten, es sei denn ... Und hier zeigte es sich, daß eine junge schöne Frau sich immer gleich bleibt, solange sie es ist!

Und endlich – womit unsere Rechnung mit dem Geschick schließt: Hätte nicht Ginevra in einem Anfall ihres Steaplechaseübermuts sich in den Kopf gesetzt, das dichterisch gehaltvolle, aber bühnenunkundige Schauspiel eines weltabgewandten Schwärmers und Träumers durchaus vor das Rampenlicht zu bringen, so wäre der »Wanderer und die Sphinx« unaufgeführt und dem alten Dichter eine doch recht bitter empfundene Enttäuschung erspart geblieben.

So aber ist zu berichten, daß Augustin Haller trotz seiner hohen vierstelligen Garantiesumme nur eine recht schwache Vorstellung von dem innersten Wesen des schwierigen Werkes zu erwecken vermochte, während Lasar Apfel es war, der als Ahasver den Vogel abschoß, indem er – seine Ankündigung erfüllend – alles Leid der Welt in sich einschluckte und es dann »vor das Publikum spie«. Was Wunder, daß Apfel der eigentliche Held des seltsamen Theaterabends wurde und alle Lorbeeren ihm und seiner Partnerin Adele Waldmann als der Vertreterin der Sphinx zufielen, der grauhaarige Dichter aber bescheiden im Hintergrund blieb und am nächsten Tage in den Spalten der Blätter nur einen »geteilten Achtungserfolg« für sich verbucht fand, was also einem ungeteilten Durchfall ungefähr gleichkam. So hatte die Laune des Geschicks, verkörpert durch die Laune eines jungen Mädchens, einen schönen Dichtertraum zerstört, ohne es zu wollen, und der Meinung seiner Irrenwärterin von der Verrücktheit ihres Pfleglings zum Siege verholfen. Allerdings nicht für lange, denn in dem Augenblick, wo wir den Faden unserer wahrhaftigen Geschichte zu einer letzten Masche wieder aufnehmen, hatte der unverbesserliche alte Poet bereits ein neues Werk unter der Feder.

Am Spätnachmittag eines trüben Maitages saß Johann Sebastian Stenzel in seiner Arbeitskoje am Schreibtisch. Sein Henryquatre war schwarz wie je, das Haar an den Schläfen vielleicht um eine Schattierung lichter. Das Fenster mit dem berühmten Patentverschluß war weit geöffnet. Die gut funktionierende Dampfheizung erlaubte es trotz der Kühle des Tages. In dem verwilderten Gärtchen zwischen Haus und Umwallung schmetterten die Amseln oder Drosseln das alte, immer neubetörende Lied vom Frühling und von der Liebe. Sie tun das besonders gern bei bedecktem Frühjahrshimmel, und so taten sie es auch heute. Vor dem Generalkonsul stand Bauhofer, sein Prokurist. Sein Brustkasten schien sich beinahe noch stolzer zu wölben als vor einem Jahr. Nicht ohne Grund. Denn erstens hatte er während der Krankheit seines Chefs ihn mit so gutem Erfolg vertreten, daß dieser bei seiner Rückkehr des Lobes voll war, und zweitens hatte ihm eben jener Umstand die Möglichkeit geboten, den Übungen in der Männerturnriege »Stahlbrust« weit mehr Zeit zu widmen als bisher.

»Wir halten morgen das Kontor geschlossen,« sagte der kleine Mann, indem er den Kopf auf die Hand stützte und zu seinem stattlichen Prokuristen hinaufsah. »Ich fahre mit Frau und Fräulein van Düren nach Ellerndorf. Sagen Sie es nochmal Dombrowski, damit er den Wagen ordentlich instandsetzt. Wir müssen morgen doch natürlich Ehre einlegen. Es ist der Hochzeitstag meines Neffen. Sie wissen es wohl schon?«

Bauhofer knickte zum Zeichen der Zustimmung etwas ein.

»Und der Geburtstag des Herrn Generalkonsuls auch!« setzte er nach einem Augenblick ein bißchen zögernd hinzu. »Morgen vor einem Jahr ... ich entsinne mich genau ...« Er dachte an den Berg von Postsachen, der an jenem Frühlingsmorgen zum erstenmal liegengeblieben war. Seit Stenzels Rückkehr kam das öfters vor und war nichts neues mehr.

Johann Sebastian Stenzel nickte nachdenklich vor sich hin. »Ja, ich werde morgen neunundfünfzig Jahre alt. Geburtstage sind zwar nach wie vor in meinen Augen eine Privatangelegenheit. Aber da Sie ja schon solange mein treuer Mitarbeiter sind, so habe ich natürlich nichts dagegen, daß Sie darauf zu sprechen kommen.«

Bauhofer knickte von neuem und etwas tiefer ein. Der Generalkonsul musterte ihn prüfend von unten bis oben und fuhr fort:

»Sie haben mich während meiner Abwesenheit so gut vertreten, mein lieber Herr Bauhofer, daß ich Ihnen auch in Zukunft vollen Spielraum einräumen kann. Ich gedenke mir etwas mehr freie Zeit zu gönnen. Ihre Bezüge sind von morgen ab verdoppelt. Guten Abend, Herr Bauhofer!«

Am nächsten Vormittag um zehn trafen Helene, Ginevra und der Generalkonsul in dessen Wagen in Ellerndorf ein. Auf elfeinhalb war die standesamtliche Trauung Jan Wilhelms und Ginevras angesetzt. Das Standesamt war im Schulhause, das gleich neben Krispiens Behausung unweit des Kirchhofs lag. Der alte Dichter war auf ausdrücklichen Wunsch Ginevras als Trauzeuge neben dem Generalkonsul ausersehen. Florentine hatte zwar nach Kräften dagegen gezetert. Sie hatte seit dem halben Mißlingen jenes Theaterunternehmens wieder mehr Oberwasser bekommen. Krispien glaubte bald selbst an seine unheilbare Verrücktheit. Aber in diesem Fall erschien es ihm doch als Ehrenpflicht, gegen Florentines Stachel zu löken und sich bereits um zehn Uhr, wenn auch schwer ächzend, seinem Lager zu entwinden.

»Ich hätte mich niemals auf dieses Unternehmen einlassen sollen!« murmelte er, als er so im spiegelglatten Bratenrock an seinem eben verlassenen Lager stand. »Aber jetzt ist es zu spät! Ich habe es einmal versprochen und darf mich der offiziellen Weibwerdung meiner Sphinx nicht entziehen.«

Die standesamtliche Trauung vollzog sich wie immer mit der Pünktlichkeit, Nüchternheit, Sachlichkeit einer Hinrichtung. Ebenso einfach und sachlich war das junge Paar gekleidet. Jan Wilhelm erschien im dunklen Anzug, Ginevra im grauen Reisekostüm, das ihr übrigens sehr vorteilhaft stand. Die beiden waren bei ausgezeichneter Laune, die sie allerdings ein paarmal vergessen ließ, daß sie nicht allein in dem Amtslokal waren. Es muß der Genauigkeit halber gesagt werden, daß diese Unachtsamkeit mehr auf Seiten Jan Wilhelms lag.

Als die Trauung beurkundet war und die Beteiligten auf die Dorfstraße hinaustraten, zog Johann Sebastian Stenzel seine goldene Zylinderuhr.

»Es ist elf Uhr vierzig Minuten!« sagte er zu Helene, die ein wenig verweint neben ihm ging. »Vor fünf Minuten bin ich gestorben!«

Helene sah ihn von der Seite an und erhob ihren Finger.

»Hans! Hans! ... Fängst du von neuem an?«

Der Generalkonsul schien nicht auf sie zu hören.

»Es war der Augenblick ihrer Unterschrift! Jetzt verstehe ich den Sinn! ... Auf eine gewisse Art hin bin ich wirklich in diesem Augenblick gestorben. Ich habe von meiner Jugend Abschied genommen!«

Er wandte sich von neuem an Helene, die ihn mit ihrem bekannten Lippenkräuseln musterte.

»Wie ist es mit uns beiden, Helene?« sagte er. »Hättest du nicht Lust, die Zeremonie recht bald nachzumachen? Ich fand sie in ihrer Kürze und Sachlichkeit sehr ermunternd.«

»Hast du noch immer nicht genug?« rief Helene. »Nein, mein lieber Hans! Ich möchte mir gern deine Freundschaft für immer erhalten. Deshalb muß ich auf deine Liebe, so schmeichelhaft sie mir ist, verzichten!«

»Schade!« bemerkte Stenzel mit feurigem Ton. »Ich fände es wunderschön!«

»Ja, sehr schade!« erwiderte sie. »Hättest du es mir vor einem Jahr gesagt! ... Wer weiß! Vielleicht! ...«

»Aber da dachte ich doch an Ginevra!« rief Stenzel verwundert. »Wie konnte ich da an dich denken?«

»Ja, eben!« nickte Helene. »Und jetzt ist es zu spät!«

Das Hochzeitsmahl wurde in der alten Seestadt eingenommen. Der Generalkonsul, der es ausrichtete, hatte eine bekannte Weinstube dafür gewählt. Kasimir Wladimirowitsch verkehrte gern dort, weil Küche und Keller wirklich Ausgezeichnetes boten. Er war es auch, der die Speisenfolge entworfen hatte. Sie machte ihrem Erfinder und der Gaststätte gleicherweise Ehre. Der Kreis der Teilnehmer war nur klein. Außer dem jungen Paar und Stenzel sowie Helene als nächsten Angehörigen sah man noch Berthold Krispien, den das frühe Aufstehen sichtlich erschöpft hatte, Kasimir Wladimirowitsch und Adele Waldmann, Geheimrat Herzigkeit und zu aller Überraschung auch Balder Heydemann. Er vertrat die übrige Familie der Braut und war erst am Morgen angelangt. Auf seinen Wunsch hatte man ihn neben den alten Dichter gesetzt, für den er eine Art von wohlwollender Sympathie gewonnen hatte, wie der Kenner sie gegenüber einem seltenen Museumsstück empfindet.

»Habe ich es nicht gesagt?« rief er und klopfte Krispien überlegen auf die Schulter. »Es war nichts mit Ihrem Stück! Und es konnte nichts sein! Sie haben kein Verhältnis zu Ihrer Zeit! ... Aber trösten Sie sich! Keiner von uns hat es! Unsere Zeit ist ein Ozean! Es gibt keine Höhe, von der aus man ihn ganz übersehen kann! Nicht einmal ich vermag das, obwohl ich doch hundertmal mehr von ihr weiß als Sie!«

Krispien schwieg. Plötzlich sagte er mit ungewohntem Nachdruck, der vielleicht von dem genossenen Sekt herkam:

»Ich appelliere von der schlecht unterrichteten Mitwelt an die besser zu unterrichtende Nachwelt!«

Balder Heydemann lächelte nur, da er ja selbst am besten wußte, daß auch die Nachwelt ihr Urteil bereits fertig hatte.

Das junge Paar war sehr miteinander beschäftigt, gelegentlich auch unter dem Tisch. Es wurde aber in der allgemeinen Heiterkeit nicht bemerkt. Nur einmal passierte es, daß Jan Wilhelm sich irrte und Frau van Düren, seiner neuen Schwiegermutter, die links von ihm saß, auf den Fuß trat. Er wurde ordentlich rot und entschuldigte sich. Helene lachte herzlich.

Nach dem Geflügel klopfte Herzigkeit ans Glas. Er kam nun doch noch zu seiner Hochzeitsrede. Aber sie war nicht allzulang. Ein Satz darin wurde allgemein beachtet. Die Arbeit, so sagte er mit erhobener Stimme, sei wohl unser Brot und unser Salz im Leben und müsse es immer bleiben, aber sie dürfe nicht gleichsam zur Morphiumspritze werden, die den Morphinisten schließlich alles andere auf der Welt vergessen lasse.

»Sie sind ein gescheiter Mann!« rief Stenzel, als er nachher mit Herzigkeit anstieß. »Ich habe den Sinn Ihrer Worte wohl verstanden. Man hat von mir im Scherz gesagt, daß ich Arbeit mit drei r zu schreiben pflege. Ich will es in Zukunft nur mit einem r schreiben oder höchstens mit zwei!«

Da Johann Sebastian Stenzel ein Mann von Wort war, so wollen wir hoffen, daß er es gehalten hat.

»Wie weit sind Sie mit Ihrer monogamen Erziehungsmethode bei Fräulein Adele?« fragte der junge Ehemann den Großfürsten, als sie beim Kaffee saßen.

»Danke!« sagte Kasimir Wladimirowitsch. »Wir machen Fortschritte. Aber es geht natürlich langsam. Chinesisch würde sie schneller lernen.«

Adele hatte Ginevra in eine Fensternische gezogen.

»Du bist sehr glücklich!« sagte sie und legte ihren Arm um Ginevras Schulter. »Ich sehe es dir an!«

»Und du?« fragte Ginevra. »Wann steigst du zu ihm herab?«

Adele lächelte schwach.

»Ich möchte noch ein bis zwei Jahre etwas vom Leben haben. Ich denke, dann gehe ich ins Joch.«

Am Abend dieses wolkenlosen, wenn auch kühlen Maitages bestiegen Jan Wilhelm und Ginevra den Schlafwagen. Als modernes Mädchen hatte Ginevra getrennte Abteile verlangt, aber da Jan Wilhelm erklärte, daß ihm dies seine Mittel nicht erlaubten, so mußte Ginevra sich wohl oder übel fügen.

»Unsere Ehe fängt ja gut an! Muß die Frau denn immer noch gehorchen? Ist die Leibeigenschaft auch heute noch nicht abgeschafft?« meinte sie und sank ihrem Mann an die Brust. So fuhren die beiden in die helle Maiennacht hinaus, die das Gestern vom Morgen trennte oder die Brücke zwischen ihnen schlug.


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