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10

Helene van Düren war zumute, als seien die Tage ihrer Jugend wiedergekommen. Sie fuhr an der Seite des Generalkonsuls durch das grüne Niederungsland nach Ellerndorf, wo ihre Wiege – ja! noch eine wirkliche Wiege – gestanden hatte.

Im Führersitz des geschlossenen Wagens saß Jan Wilhelm Köhler, zu seiner Rechten Ginevra. Die beiden jungen Leute hatten sich nicht grade viel zu sagen, wie es schien. Dann und wann erkundigte sich das junge Mädchen nach dem Namen eines Werderdorfes, das sie gerade auf ihrer Fahrt berührten. Im allgemeinen war sie schweigsam. Aber ihre Blicke wanderten rastlos hin und her, um sich keine Einzelheit der ungewohnten, ihrem Gefühl beinahe fremdartigen, meeresnahen Landschaft entgehen zu lassen.

Wiesen breiteten sich aus, soweit das Auge reichte. Hartes, schilfartiges Gras bedeckte sie, das von vielen da und dort zerstreuten Kuhherden abgeweidet wurde. Merkwürdig groß hoben sich diese manchmal wiederkäuenden, meist regungslosen, schwarz und weiß gefleckten Rinder gegen den Horizont ab, als wären sie auf ein Postament gestellt. Ginevras Malerauge entging das Phänomen nicht. Als sie ihren Nachbarn nach der Ursache fragte, erklärte er ihr mit kurzen Worten, daß man sich hier, unweit der See, unter dem Meeresspiegel befinde, wodurch diese Luftspiegelungen zustandekommen. Die sumpfigen, verkrauteten Gräben, die moorigen, stockenden Wasserläufe entbehrten aus dem gleichen Grunde jedes Gefälls, ja sie schienen eher rückwärts zu fließen. Schwarze Windmühlen spiegelten sich in den trägen Kanälen und spreizten ihre bleichsüchtigen Flügel himmelwärts. Es hatte, als man die Stadt verließ, noch etwas geregnet. Jetzt hatte es aufgehört. Der Himmel war noch bedeckt, trübe, aber von der See her schien es sich lichten zu wollen. Melancholie breitete ihre lautlosen Schwingen über das weite, grüne, eintönige Land.

Große Bauerndörfer folgten sich in regelmäßigen Abständen an der manchmal weite Strecken schnurgerade durchlaufenden Landstraße. Breit ausladende Höfe in niedersächsischem oder fränkischem Fachwerkbau, mit hohen, steilen, wuchtigen Vorlauben und merkwürdig zierlichen Pfeilerstützen reihten sich jeweils zu beiden Seiten des Dorfangers aneinander. Haus, Stall, Scheune und Garten umschlossen rechteckige Hofräume, in denen Pflüge, Eggen, Leiterwagen um den Dunghaufen herumstanden und Geflügelvolk von allen möglichen Stämmen, Arten und Farben die Geschäftigkeit seines kurzen Daseins betätigte.

Jan Wilhelm, durch die fröhliche Lenkarbeit am Steuerrad sichtlich angeregt und aufgetaut, wies Ginevra auf einige besonders wohlhäbige Höfe hin und nannte alte, weithin bekannte Werderfamilien als deren jahrhundertelange Besitzer. Ginevra hinwiederum, von dem erwachenden Mitteilungsbedürfnis ihres Begleiters angesteckt, entzückte sich an manchen reizvollen und zierlichen Einzelheiten der Fachwerkschnitzerei, an idyllischen Dorfteichen und Tümpeln, an grünüberwucherten Friedhöfen oder efeuumsponnenen Dorfkirchen. Sie bat Jan Wilhelm, durch die Dörfer langsam zu fahren, um nichts von dieser fremden und neuen Welt zu verlieren, und jener konnte ihrem Wunsch um so leichter nachkommen, als das gröbliche Steinpflaster der Dörfer und der auch sonst nicht grade vorbildliche Zustand der Straße schon von selbst zu einer untern Geschwindigkeit zwang.

Man kam also verhältnismäßig nur langsam vorwärts. Es zeigte sich aber nachgerade eine merkliche Veränderung des Bildes. An Stelle des ausschließlichen Graswuchses der durch das Netzwerk der Gräben in unzählige Gevierte aufgeteilten Wiesen begannen grüne, vom Seewind gestreichelte Sommersaaten und die wogenden Teppichflächen schossender Roggen- und Weizenfelder aufzutreten. Grelle gelbe Kleckse meldeten dem Auge schon aus der Ferne blühenden Raps, dessen Honigduft bald auch die Nase mit Wonne einsog. Hellgrüne junge Pflänzchen in schnurgeraden endlosen Reihen bedeckten viele Morgen fruchtbaren schwarzen Ackerlandes. Es war die hierzulande vor fünfzig Jahren eingeführte und schnell heimisch gewordene Zuckerrübe, neben Weizen, Molkerei und Pferdezucht der eigentliche Reichtum dieses prangenden Stromdeltas. Denn jetzt war kein Zweifel mehr, daß hier die Natur aus üppiger Fülle spendete, mit fürstlicher Geberlaune das Werk von Menschenhand segnete. Zu beiden Seiten der weißen, von Ebereschen begleiteten Landstraße wuchs Feld um Feld in strotzendem Saft vor dem dahinschießenden Kraftwagen aus dem Boden: ein Bild überströmender, beglückender Fruchtbarkeit.

Helene van Düren wußte, daß sie nicht mehr weit vom Ziel war. Das vorletzte Dorf vor Ellerndorf – o wie gut kannte sie noch seinen Namen! – war durchfahren. Jetzt lief die Landstraße noch eine Zeitlang gradeaus, bis hinter dem nächsten Dorf, dem letzten vor Ellerndorf. Dann würde eine Biegung im rechten Winkel kommen, bald darauf eine zweite solche Biegung, die jetzige Fahrtrichtung wieder aufnehmend. Und dann, ja schon vorher, würde der nadelspitze Kirchturm sichtbar werden, zu dessen Füßen ihre Voreltern und Vorvoreltern schlummerten. Vater und Mutter freilich waren nicht dabei. Sie hatten ihre letzte Ruhestätte in der Stadt gefunden, auf einem der alten, heute beinahe schon verwilderten Friedhöfe zur Seite der großen Lindenallee. Helenes Mutter war eine Kaufmannstochter aus der alten stolzer Handelsstadt gewesen und hatte, als es ziemlich früh ans Sterben ging, wieder dorthin zurückgewollt. Ihr Mann, Helenes Vater, ein Entwurzelter und vor der Zeit Gebrochener, war neben seiner Frau gebettet worden. Die Tochter hatte in diesen Tagen zum erstenmal wieder an den Gräbern der Eltern gestanden. Mehr als fünfundzwanzig Jahre war es seit dem Tode ihres Vaters her. Wie es kam, daß sie nie wieder ihren Fuß hierher gesetzt hatte? Helene haßte diese ganze Welt und ihre Menschen dazu, die ihren Vater, den besten aller Väter, aber lebensunkundigen Phantasten, und ihre Schwestern und sie selbst auf die Straße gesetzt und, ins Elend gejagt hatten! Sie hatte beinahe dreißig Jahre lang selbst die Erinnerung an jene Welt, an ihre Jugend, an alles, was Heimat hieß, gehaßt! Und sie war eine gute Hasserin! Das konnte sie sich selbst mit Stolz bekennen! Aber war sie nicht doch vielleicht ungerecht gewesen? Wenigstens mit ihrer Verallgemeinerung? Mit der Einbeziehung auch der Menschen in ihren Rachedurst, die nichts für ihr Unglück konnten? Nicht zuletzt, des kleinen Mannes an ihrer Seite, dieses wunderlich irren Jugendfreundes, für den einmal ihr Backfischherz geschlagen hatte, und der jetzt mit ergrauenden Schläfen um ihre Tochter warb, immer noch der gleiche versponnene, verbiesterte Traumwandler bei aller kaufmännischen Nüchternheit, Zielbewußtheit, Pedanterie! Noch vor einem Jahr wäre sie eines solchen Eingeständnisses von der Torheit, der Übertriebenheit ihres Hasses nicht fähig gewesen. Sie hatte alles in den einen Topf geworfen, den sie auf dem nicht ganz gelinden Feuer ihres Hasses immer nah am Sieden erhielt, so viele, viele Jahre hindurch. Und jetzt plötzlich erkaltet? Woher mit einemmal der Wandel? Am Ende wirklich schon das Alter, von dem es ja heißt, daß es selbst die finsterste Jugend durch den Zauberstab der Erinnerung nachträglich zu vergolden vermöge?

Es schien, als habe der Generalkonsul auf magischem Wege etwas von ihren Gedanken und Grübeleien erraten. Er hatte während des größten Teils der Fahrt seinen eigenen Gedanken Gehör gegeben, nur soweit es die Höflichkeit gebot, ein halb gleichgültiges, öfters stockendes Gesellschaftsgespräch mit seiner Nachbarin aufrecht erhalten. Seine Augen verfolgten durch die geschlossene Glasscheibe jede Bewegung Ginevras vorne neben dem Führersitz. Er sah mit Genugtuung, daß die Aufmerksamkeit des schönen, im Sportkostüm noch besonders verführerischen Mädchens fast ausschließlich auf das Studium von Land und Leuten gerichtet war, und stellte anerkennend fest, daß auch der junge Mann, sein manchmal etwas anfechtbarer Neffe, sich der Führung des Steuerrades mit Ernst und Sammlung widmete, ohne sich durch die weibliche Nähe allzusehr ablenken zu lassen. Am liebsten hätte er ja selbst neben Ginevra gesessen und ihr die nötigen Aufschlüsse erteilt. Aber natürlich verbot das die Rücksicht auf Ginevras Mutter; abgesehen davon, daß es sich für einen Generalkonsul Stenzel wohl kaum geziemt hätte, in Gegenwart seines jungen Neffen vor aller Welt als Chauffeur aufzutreten. Solcherweise über den Stand der vorderen Dinge im ganzen beruhigt, konnte Stenzel seinen Eifer wieder mehr der reifen und schönen Nachbarin zuwenden, um auch sofort dem Mittelpunkt ihrer Gedanken nahezukommen.

»Warum hast du eigentlich in diesen dreißig Jahren, die du fort bist, dich so wenig um deine Heimat gekümmert, meine liebe Helene?« fragte er, indem er den Arm in die Seite stemmte und seine Nachbarin forschend musterte. »Ich habe oft darüber nachgedacht, aber ich habe es mir nie erklären können.«

»Wirklich nicht?« erwiderte Helene. »Na, denke mal weiter nach! Vielleicht kommst du noch darauf, wenn du dir Mühe gibst, mein lieber Freund!«

Ihr Ton klang ungewohnt kalt und hart. Es war ein trotziger Zug um ihren Mund, beinahe wie bei einem schmollenden Kind. Stenzel schüttelte den Kopf.

»Ich wäre dir sehr dankbar für einen Fingerzeig. Es hatte dir doch niemand etwas getan. Wenigstens keiner von deinen Freunden. Und ich zähle mich zu deinen Freunden!«

»Niemand etwas getan?« rief Helene leidenschaftlich. »Und daß man Vater von Haus und Hof gejagt hat, das war wohl nichts? Wenn du es wissen willst ... ich habe euch alle zusammen gehaßt! Eure ganze Bagage hier!«

»Um Himmels willen! War ich etwa schuld an eurem Unglück? Was hätte ich denn tun können? Ich war ein junger Mann, der Tag und Nacht zu arbeiten hatte!«

»Um so schlimmer für dich! Was hast du davon gehabt? Vor lauter Arbeit hast du das Leben vergessen! Vor lauter Bäumen hast du den Wald nicht gesehen!«

»Nein! Den habe ich allerdings nicht gesehen! Darin gebe ich dir recht!« schaltete Stenzel ein und nickte melancholisch. »Du bist eine kluge Frau! Ich habe immer viel von dir gehalten!«

Helene machte eine ungestüme Bewegung.

»Ach, was geht mich das alles an, wie du dein Leben verplempert hast mit lauter Nichtigkeiten! Mache das mit dir selber ab, wenn du kannst!«

Johann Sebastian schüttelte halb betroffen, halb mißbilligend den Kopf.

»Nichtigkeiten nennst du es, daß ich gearbeitet, gearbeitet und immer gearbeitet habe? Und die Schwedisch-Baltische Schiffahrtsgesellschaft, die ich kontrolliere? Und das Generalkonsulat von Honduras? Sind das etwa auch Nichtigkeiten in deinen Augen, meine liebe, gute Helene?«

»Ja, es sind Nichtigkeiten für mich!« rief Helene. »Ich pfeife auf den ganzen Kram!«

»Aber meine liebe, gute Freundin ...?!« bedauerte der Generalkonsul, ohne jedoch den Satz vollenden zu können, da der Wagen in diesem Augenblick auf der zerfurchten Chaussee einen solchen Hopser machte, daß der kleine Mann wie ein Gummiball gegen das Wagendach flog und sogleich wieder auf den Sitz zurückplumpste.

»Hoppla!« sagte er und rieb sich den Kopf. »Die Straße scheint hier nicht ganz auf der Höhe! Man müßte dafür sorgen, daß sie ausgebessert wird. Ich werde sofort eine Eingabe an das Straßenbauamt veranlassen.«

Er zog eifrig seinen Notizblock hervor und schrieb sich die nötigen Stichworte auf.

»Vergißt du in letzter Zeit auch so viel?« fragte er stirnrunzelnd. »Ich habe gar kein Gedächtnis mehr! Ich muß Tag und Nacht einen Block bei mir tragen!«

»Auch im Bett?« lachte Helene mit wiedergefundener Laune.

Stenzel lächelte säuerlich mit.

»Auch im Bett! Natürlich! Da am allermeisten! Ich habe mir neuerdings eine Vorrichtung an der Bettwand über dem Kopfkissen anbringen lassen. Block und Tintenstift hängen dicht über meinem Kopf. Ich brauche nur Licht zu machen und mich auf den Bauch zu legen ...«

»Auf den Bauch?« Helene lachte, daß sie sich schüttelte.

»Ja, wie denn sonst? ... Verletzt dich das Wort? ... Aber sage mir, wie ich auf andere Weise die Vorrichtung benutzen könnte? Und ich muß meine Gedanken zu Papier bringen! Es könnte mir sonst zu viel verloren gehen! Und der Welt immerhin auch!«

Helene lachte noch immer wortlos in sich hinein. Stenzel schien etwas empfindlich zu werden.

»Ich sehe, ich wirke ein wenig belustigend auf dich! Oder wenigstens meine Gewohnheiten, die aber alle reiflich erwogen sind!«

»Gewiß! Gewiß!« wehrte Helene noch lachend ab und atmete tief auf, um Luft zu schöpfen. »Es ist aber auch zu komisch! Wenn ich dich mir vorstelle ... im Bett ... auf dem Bauch ... mit der Vorrichtung ...«

»Lassen wir das!« unterbrach der merklich verschnupfte Generalkonsul. »Du würdest mich aber zu Dank verbinden, wenn du mir mit einem Wort erklären wolltest, warum du gegenüber meiner ernsten und schweren, aber erfolgreichen Lebensarbeit von Nichtigkeit sprichst?«

Helene hatte sich wieder gefaßt. Ihr Gesicht wurde ernst.

»Gut! Du willst es! Dein Leben und deine Arbeit und all dein äußerer Erfolg erscheint mir nichtig, weil du das einzige vergessen hast, was wichtig ist: nämlich Mensch zu sein!«

»Mensch zu sein?« fragte Stenzel verwundert. »Bin ich das etwa in deinen Augen nicht?«

»Nein!« rief Helene mit aller Entschiedenheit. »Denn dazu gehört zuerst und vor allem die Liebe!«

Stenzel, eben etwas zusammengesunken, schnellte mit einem Ruck empor. Sein Blick heftete sich durch die geschlossene Glasscheibe auf das rechts vor ihm sitzende schöne Mädchen, das ihm in diesem Augenblick – vielleicht infolge des letzten Hopsers – etwas näher, fast zu nahe bei Jan Wilhelm zu sitzen schien.

»Die Liebe!« wiederholte er mit mehrmaligem nachdrücklichem Kopfnicken. »Das ist ein großes und schönes Wort von dir, meine liebe Helene! Dafür verdienst du Dank! ... Die Liebe! ... Die Liebe! ... Herrlich! Herrlich!«

»Ja, aber die hast du nie gehabt!« rief Helene, sich von neuem erhitzend. »Zu niemand und zu nichts!«

»Doch! Doch! Zu den Menschen!« betonte Stenzel gewichtig.

»Nein! Höchstens zu einem Menschen!«

»Und wer sollte das gewesen sein?«

»Zu dir selbst, mein lieber Generalkonsul!«

Stenzel schüttelte den Kopf und machte eine abwehrende Bewegung.

»Du gehst sehr hart mit mir ins Gericht, meine liebe Jugendfreundin! Aber selbst wenn du recht hättest: es wäre ja noch immer nicht zu spät, es nachzuholen! Warum sollte es denn zu spät sein?«

Sein Blick glitt wiederum nach vorwärts durch die Glasscheibe und umfing Ginevras fließende Umrißlinien.

»Aber es ist zu spät!« erhitzte sich Helene, deren Augen den seinigen gefolgt waren. »Ihr bildet euch immer Schwachheiten ein! Ihr alten Männer! Was sollen denn wir alten Frauen sagen?«

Der Generalkonsul wiegte seinen Kopf in den Schultern.

»Du findest wirklich, daß ich ein alter Mann bin?«

»Ja, was denn sonst? Hast du dich für einen Konfirmanden gehalten?«

»Beinahe!« sagte Johann Sebastian und lachte in einer seiner plötzlichen Anwandlungen von Komik hell auf.

»Frage doch mal so ein junges Ding, wie die Ginevra, da vorn neben deinem Neffen,« rief Helene. »Frage sie doch mal, was sie von dir denkt! Aber aufs Gewissen! Siehst du, dein Neffe, der ist jung!«

»Und mich hältst du für einen alten Knacker?« lächelte Stenzel in plötzlich wiedererwachender Weisheit. »Du hast recht! Ich bin es!«

Helene zuckte mit den Achseln.

»Ich habe dich nicht so genannt. Du tust es selbst. Wir müssen uns eben damit abfinden! Mir macht das gar keine Schwierigkeiten. Ich bin doch auch alt und fühle mich trotzdem jung! Na also! Tu du das auch!«

Der Generalkonsul stemmte den rechten Arm in die Seite, klemmte sein Monokel in das linke Auge und richtete seinen Zeigefinger wie eine eingelegte Lanze gegen Helene.

»Du bist eine grundgescheite Frau! ... Ich hätte dich heiraten sollen! Dazumal!«

Frau van Düren lachte kurz auf.

»Warum hast du es nicht getan? ... Ich hätte dich vielleicht genommen ... in jener Zeit! ... Ehe das alles geschehen war! Und ehe Gotthard erschien!«

Stenzel legte nachdenklich den Finger an die Stirn.

»Warum ich dich nicht geheiratet habe? ... Weil ich keine Zeit gehabt habe dazu!«

»Keine Zeit?! Das ist es ja, was ich sage! ... Aber hättest du auch keine Zeit gehabt, wenn ich die Tochter aus reichem Hause geblieben wäre?«

Johann Sebastian richtete sich steif auf.

»Den Vorwurf muß ich weit von mir abweisen!«

Frau van Düren hatte den Kopf auf der Brust.

»Mag sein, daß ich dir unrecht tue! Aber man muß ja ungerecht werden, wenn man das alles erlebt! ... Begreifst du jetzt, daß ich euch Gesellschaft gehaßt habe, wie ihr hier seid? Dich mit! Und wäre mir nicht das Balg hierher durchgebrannt, mich hätte die Heimat nie wiedergesehen!«

»Und jetzt hast du sie dicht vor der Nasenspitze!« nickte Stenzel. »Aber ich hätte nie geglaubt, daß du solch einen Rachedurst mit dir herumtragen könntest! Es imponiert mir ja einerseits! Obwohl ich andrerseits fragen muß, wie sich das mit dem Sittengesetz verträgt?«

»Rachedurst! Sittengesetz!« rief Helene leidenschaftlich. »Wenn einem das Hemd vom Leibe gerissen wird!«

»Und jetzt ziehst du als Siegerin ebendort ein, wo sie euch einst fortgejagt haben! Bist du noch immer nicht zufrieden, meine liebe Helene?«

Sie schüttelte heftig den Kopf.

»Es kann mir gestohlen bleiben! Gotthard ist tot! Mein Leben ist verpfuscht!«

»Glaubst du nicht, daß du dich noch einmal ... wie soll ich sagen ...?«

»In meinem Alter ... Und dann laß dir bedeuten, mein lieber Hans: ich gehöre zu den Frauen, die nur einmal im Leben lieben können!«

Der Generalkonsul lehnte sich in seinen Sitz zurück. Er war von neuem zerstreut, abwesend. Vorne vor der Glasscheibe sprachen die beiden jungen Leute neuerdings reichlich viel miteinander.

»Dort sind die ersten Häuser von Ellerndorf!« bemerkte Jan Wilhelm zu Ginevra. »Ich war zum letztenmal vor fünfzehn Jahren hier. Damals stand hier links noch die Windmühle. Ein höchst origineller uralter Kauz von Windmüller trieb da sein Wesen. Jetzt sehen Sie nur noch den Stummel dort. Die Flügel sind weg! Die neue Zeit hat sie abrasiert! Man braucht sie nicht mehr! Es ist eine Gärtnerei oder ein Treibhaus daraus geworden.«

Ginevra blickte interessiert auf den merkwürdigen Stumpf von Mühle.

»Wie ein Vogel,« meinte sie mit traurigem Kopfnicken, »den man ratzekahl gerupft und gestutzt hat! Eigentlich jammervoll! Man sollte es in die Luft sprengen, das Wrack!«

»Es kommt mir vor wie unser aller Schicksal!« sagte Jan Wilhelm und schaltete auf der glatteren Straße die nächste Geschwindigkeit ein. »Sind uns jungen deutschen Menschen von heute nicht allen die Flügel abgeschnitten? Unser Leben ist entweder ein Treibhaus oder ein Wühlen im Boden!«

»Ist das Bild nicht etwas kühn?« zweifelte Ginevra, die Augenbrauen hochziehend. »Aus dem Boden oder aus dem Treibhaus kommt doch auch ganz was Nützliches heraus?«

Der junge Mann lachte, schien sich jedoch nicht beirren zu lassen.

»Aber unsere Eltern, die hinter uns im Fond sitzen,« sagte er, »hatten einmal das schöne weiße Mehl direkt aus der Windmühle! Wir müssen wieder von vorn anfangen! Wir müssen erst das Korn aus dem Boden ziehen! Vom Mehl sehen wir nichts!«

»Vielleicht wieder unsere Kinder?« meinte Ginevra, mit heiligem Ernst auf der Stirn.

»Ja, vielleicht die! Gesetzt, daß wir welche haben werden!«

»Arbeiten und nicht verzweifeln!« rief Ginevra voll Unternehmungsgeist. »Also los! Wir sind ja alle noch jung! Soeben erst aus dem Paradies entsprungen! Und die nötige Verrücktheit, die zum Leben gehört, Gott sei Dank, fehlt uns ja auch nicht!«

Der Wagen setzte mit einem jähen Sprung auf das wieder beginnende Kopfsteinpflaster der Dorfstraße. Beide Paare, das alte im Fond, das junge auf den Vordersitzen, flogen mit den Köpfen zusammen. Jan Wilhelm bändigte das wildgewordene Gefährt mit einem schnellen Druck der Hand. Sie waren in Ellerndorf.


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