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18

Heiße ernteschwangere Augusttage kamen und gingen. Hochbeladene Weizenfuder schwankten über die Stoppelfelder. Sie wurden wegen ihrer Schwere von vier Pferden gezogen. Der Fahrer – meist ein jüngerer Knecht oder »Losbändiger«, worunter ein Unverheirateter zu verstehen war – ritt auf dem linken Hinterpferd, dem Sattelpferd, und schwang die knallende Peitsche. Sobald die Erntewagen von den Feldern auf einen der zum Dorf Führenden Triftwege gelangten, wurde ein schnellerer Trab angeschlagen. Staubwolken und Peitschenknallen zeigten die herannahenden Fuhren an. Mit überraschender, manchmal halsbrecherischer Gewandtheit wurden in flotter Fahrt Wegbiegungen, Brücken, Hof- und Scheuneneinfahrten genommen, so daß die schweren Fuder sich zur Seite neigten und im nächsten Augenblick umzuwerfen drohten, ohne daß dies jedoch geschah, denn die Kunst bestand eben darin, knapp vorher durch geschickte Handhabung der Kreuzleine das Viergespann nach der entgegengesetzten Richtung herumzureißen und so das gefährdete Gleichgewicht wiederherzustellen.

In Ellerndorf und überall in der Runde war der sanfte und doch kernige Duft des reifen Getreides, den der laue Sommerwind von den mit Hocken bedeckten Feldern herantrug. Schon erhoben sich hinter den Scheunen und auf den abgeernteten Stoppelfeldern die mächtigen Weizen- und Gerstenstaken: zylinder- oder würfelförmige Haufen, in denen die schweren Getreidegarben oft bis zu ansehnlicher Höhe übereinandergeschichtet wurden, weil die Scheunen zu klein waren, alle die Fülle des Erntesegens in ihren Fächern und Böden zu bergen. Von der Höhe des Deichs sah man bis an den Horizont diese überall verstreuten Getreidestaken, die wie eine andere Art von Pyramiden die sommerlichen Wahrzeichen des nordischen Stromdeltas darzustellen schienen.

Es war ein heißer und trockener Sommer geworden. Nur selten frischte ein Regenschauer aus einem rasch aufsteigenden Nordwestgewölk die staubdunstige Landschaft auf und unterbrach für eine kurze Weile den gleichmäßigen Ablauf des Erntetagewerks. Der unfreiwilligen und doch erwünschten Rast folgten bald wieder neue Arbeit, neues Schweißvergießen. Abermals begann die Reihe trockener, fast windstiller Augusttage. Jenes dünne, durchsichtige Federgewölk, das den Himmel blaugrau färbte und der Sonne ihren Glanz nahm, brütete von neuem über dem schwermütigen Tiefland. Die Zeit der hellen Nächte war vorbei. Die Tage begannen merklich abzunehmen. Im Köhlerschen Garten blühten Phlox und Rittersporn und die ersten Dahlien. Die Blätter der Obstbäume hingen schlaff und grau herab. Auf dem Rasen lagen rotbäckige Augustäpfel. Schon sah man zwischen dem schilfartigen Riedgras der Außendeichwiesen die Herbstzeitlose sprießen.

Johann Sebastian Stenzel entging mitten in seinen fortgesetzten und anstrengenden, aber auch erfolgreichen Kletterübungen der sichtliche Jahresabstieg der Natur nicht. Er liebte es, in den Pausen, die ihm seine zielbewußte Turnarbeit ließ, weite Spaziergänge über Wiesen, Stoppeläcker und oben auf dem Damm zu machen, von wo man meilenweit in das sommerreife Land hinaussah. Manchmal lenkte er seine Schritte auch noch weiter, über die Außendeichwiesen, zwischen grasenden und brüllenden Kuhherden, bis zum sandigen Ufer des großen Stromes hin. Hier saß es sich gut auf der Böschung, zwischen mannshohem Weidengestrüpp, Brombeergesträuch, Altwasserpfützen, mit dem Blick auf das schnell dahinschießende, gurgelnde Stromwasser, das manchmal lehmgelb gefärbt war, zu Zeiten helle Himmelsbläue spiegelte.

Johann Sebastian Stenzel erinnerte sich, daß er als achtjähriger Junge oft genug hier gesessen, sich Weidenruten geschnitten, aus denen der Saft spritzte, und barfuß in dem trügerisch blinkenden Brackwasser geplantscht hatte. Denn es verbargen sich manchmal so tiefe Löcher und Kaulen darunter, daß selbst Erwachsene schon darin ertrunken waren. Seine Mutter hatte ihm das Baden und Waten in diesen vom Strom vergessenen Lachen streng verboten, wie natürlich erst recht im Stromwasser selbst. Er hatte es aber, wenn er sich auf Herz und Nieren prüfte, trotzdem einige Male getan. Glücklicherweise nicht allzuoft! Er war ja, im Grunde und Gott sei Dank, immer ein Musterknabe gewesen, Eltern, Lehrern und Vorgesetzten ein Wohlgefallen.

Und was war nun das Fazit von dem allen? Die Endsumme aus der wohlgeordneten Zahlenreihe seines Erdenexempels? Die Prämie für den Musterknaben, der er nicht nur in der Schule, sondern auch im Leben gewesen war? Vergänglichkeit! Alles rings herum predigte sie ihm. Auf den Wiesen die Herbstzeitlosen, an denen die weidenden Kuhmäuler vorbeigrasten, ohne sie anzurühren. Die gelben Stoppelfelder, wo die letzten Erntefuder geladen wurden. Die rotschnabligen Storchenpaare, die klappernd sich vom Abschied unterhielten und von der Reise nach fremden Zonen. Die dahinschießenden Schwalbendreiecke in den Lüften, die gleichfalls zum großen Wanderzug riefen. Die abnehmenden Tage und das sinkende Licht des Spätsommers. Die vorüberhüpfenden, springenden, glucksenden Wellen des Stroms, die in unendlicher Folge sich ablösten und von denen keine sich Zeit ließ, zu verweilen. Vor fünfzig Jahren – oh! er entsann sich dessen genau! – waren sie mit der gleichen Rastlosigkeit an seinen Blicken vorbeigezogen. Das erste Grauen des Todes hatte sein Kinderherz erschüttert, als in einem dieser Strudel ein alter Kuhhirt untergegangen war. Damals hatte er den Tod für sich entdeckt, ohne ihn begreifen zu können. Und schnell war der Trost zur Hand gewesen, daß dies ja nur die alten Leute angehe, die eben den Platz räumen müßten. Er selbst habe noch unendlich lange Zeit, viele, viele, unabsehbare Jahre in den Nebel der Zukunft hinein. Und jetzt? Vergänglichkeit! Vergänglichkeit! Sah er nicht die Schere schon erhoben, um den Faden an seiner dünnsten Stelle zu zerschneiden?

Johann Sebastian Stenzel, Generalkonsul von Honduras und Präsident der Schwedisch-Baltischen Schiffahrtsgesellschaft vormals Wiedemann und Hopf, begriff heute und in seiner dermaligen Position ebensowenig wie als achtjähriger barfüßiger Dorfjunge, warum der Tod sein müsse und was er eigentlich in dieser sonst so zweckmäßig angeordneten Welt zu suchen habe. Wenn er diesen Gedanken zu Ende dachte, daß ein Mann wie er sterben müsse – daß ein Johann Sebastian Stenzel nach acht Monaten nicht mehr sein solle – weggewischt, ausgelöscht wie eine Kreidezahl vom Schwamm –, so glaubte er, die Scharniere, die seinen Verstand zusammenhielten, bersten zu fühlen.

Es war eine Art von geistigem oder seelischem Schwindelanfall, der ihn jedesmal bei der Vorstellung seines von Tag zu Tag schneller herannahenden Endes erfaßte. In der Hilflosigkeit und Hinfälligkeit derartiger Zustände ging ihm manchmal wie ein Blitzlicht die Erkenntnis auf, daß das eigentliche Übel, woran er leide, nicht die Furcht vor dem Tode sei, sondern die Tatsache des Vorhandenseins einer solchen Vorstellung überhaupt. Warum hatte jenes Traumgesicht seines achtundfünfzigsten Geburtstages eine solche Macht über ihn gewinnen können? Saß nicht die Wurzel der Krankheit eben hier, wie ein angefaulter Zahnnerv die ganze Umgebung vergiftet?

Aber diese Erleuchtungen eines Augenblicks verschwanden ebenso schnell, wie sie gekommen waren. Die Finsternis, die zurückblieb, war um so tiefer. Stenzel machte die Erfahrung, daß in solchen Verdunklungen, die ihn bis zur Verzweiflung peinigten, seine Kletterübungen sich noch als das probateste Gegenmittel erwiesen. Wenn er so mit Armen und Beinen sich an seinen borkigen Baumstämmen emporarbeitete, kam ein Gefühl von Leichtigkeit über ihn, ein Gefühl des Vergessens, ein Enthobensein seiner selbst und aller Erdenschwere. Kann es wundernehmen, daß Johann Sebastian Stenzel schließlich am liebsten auf dem Baum saß? Wenigstens in unbeobachteten Stunden, denn in dem immer schneller ablaufenden Räderwerk seiner Geistesuhr waren doch noch gewisse letzte Hemmungen da, die ihn auf seine Würde als Generalkonsul und Schifffahrtspräsident Bedacht nehmen ließen.

Ein Labsal in aller dieser Zerrissenheit und Selbstquälerei war die Art, wie Ginevra van Düren ihm seit einiger Zeit entgegentrat. Hatte sie ihn früher oft durch ihre Kälte und Unberechenbarkeit – ja, warum es nicht eingestehen? –, auch durch einen peinlichen Mangel an Ernst enttäuscht und verletzt, so schien sie mit einemmal wie umgewandelt und jeden seiner wohlerwogenen Wünsche zu erfüllen geneigt.

Stenzel glaubte freilich, berechtigten Anspruch darauf zu haben. War nicht auch er auf jede Weise bemüht, Ginevras Wünsche zu befriedigen, die doch bisweilen recht seltsame Gestalt annahmen? Da war vor allem ihr Einfall, Krispiens verrücktes Bühnenwerk auf die Bretter zu bringen, koste es, was es wolle. Und es kostete ihn wirklich eine schöne Stange Gold! Direktor Henrici vom Landestheater hatte das Erzeugnis, nachdem es mehrere Wochen bei ihm in Quarantäne gelegen hatte, mit dem vieldeutigen Urteil abgelehnt, es komme entweder um fünfundzwanzig Jahre zu früh oder um fünfundzwanzig Jahre zu spät. Um so feuriger war Augustin Haller in die Bresche gesprungen. Es handle sich um ein Säkularwerk, wie es in jedem Menschenalter nur einmal zutage gefördert werde. Er sei stolz darauf, es aus der Taufe zu heben und zu dauerndem Bühnenleben zu erwecken. Auf Stenzels forschende Frage nach dem Kostenpunkt hatte Haller zunächst mit einer bedeutenden Armbewegung abgewinkt, sich dann aber doch zu einem Voranschlag herbeigelassen, so daß Stenzel beinahe in die Knie gebrochen wäre, als er unten die Schlußzahl las. Auf seine Frage, ob nicht Abstriche möglich seien, wie bei jeder andern kaufmännischen Kalkulation, hatte Haller mit einem gewichtigen Nein geantwortet. Kunst sei nun mal kein Geschäft, aber wenn man ein Geschäft daraus machen wolle, so müsse auch der nötige Mammon hineingesteckt werden. »Denn wo nichts ist, da hat auch der Kaiser von China sein Recht verloren, und selbst ich kann aus einer Maus keinen Elefanten, machen, wenn ich ihr nicht die nötigen metallischen Einspritzungen verabreichen kann!«

Stenzel hatte seufzend den Vertrag unterschrieben und die erforderliche Garantiesumme – eine hohe vierstellige Zahl – für den Leiter des »Winkenden Känguruhs« sichergestellt. Im Spätherbst sollte der »Wanderer und die Sphinx« im Willominer Kurtheater zur ersten Aufführung gelangen. Augustin Haller würde die Spielleitung übernehmen. Adele Waldmann und Lasar Apfel waren für die beiden Hauptrollen ausersehen, vorausgesetzt, daß Direktor Henrici sie für diesen Zweck freigeben würde, was bei Henricis Hartleibigkeit allerdings noch sehr dahinstand.

Dies waren Sorgen für später. Stenzel konnte sich bei Ginevra darauf berufen, alles getan zu haben, was in seinen Kräften stand, um das Werk des Dichters würdig herauszubringen, wie Ginevra es als Preis für ihre Hand ausbedungen hatte. In seinem Innersten konnte Stenzel allerdings nach wie vor nicht begreifen, was seine Auserwählte derart für Krispiens Werk hatte einnehmen können. Er hatte das Manuskript in einer sommerlichen Stunde gelesen, ohne einen Zugang dazu zu finden. Es kam ihm dunkel, unklar, verworren vor. Wenn einer Generalversammlung ein ähnlich gearteter Geschäftsbericht vorgelegt worden wäre, so wäre der Vorstand unweigerlich geflogen. Warum sollten für ein Schauspiel andere Gesetze gelten?

Aber er hütete sich, solche Gedanken gegen Ginevra auszusprechen. Es stand bei ihrer Unberechenbarkeit zu viel auf dem Spiel. Ein unbesonnenes Wort konnte alles gefährden. Und er vermochte schon nicht mehr, sich vorzustellen, wie er ohne sie auch nur einen Tag weiterleben solle. Sie erschien ihm betörender als je. Alle scharfen, harten, eckigen Züge ihres Wesens aus den ersten Wochen ihrer Bekanntschaft waren wie weggezaubert, Alles an ihr war Liebenswürdigkeit, Drolligkeit, Anmut, Entgegenkommen, Charme, Witz ohne Spitze, Laune ohne Launen. Sie ist das bezauberndste Geschöpf, das je gelebt hat! sagte er sich im stillen und nahm in kunstgerechtem Aufschwung den nächsten erreichbaren Baumast, um sich leicht und frei wie ein Vogel zu fühlen, wenn auch nur für Augenblicke.

»Ich habe einen Plan für unsere Hochzeitsreise,« sagte er eines Tages zu Ginevra. »Ich hoffe, er wird deinen Beifall finden. Ich lasse ein Wohnauto für uns bauen. Es ist schon in Auftrag gegeben. Lieferfrist bis Ende August. Wir fahren vier Wochen durch die Lande. Wir essen, trinken, schlafen in unserm Wagen.«

»Schlafen auch?« zweifelte Ginevra.

»Grade schlafen!« betonte der Generalkonsul mit nachdrücklich erhobenem Zeigefinger. »Man soll sich unabhängig machen von Raum und Zeit! Man soll wie die Vögel werden!«

»Aber die fahren doch nicht im Wohnwagen herum!« spöttelte Ginevra.

»Natürlich im übertragenen Sinne!« erklärte Stenzel etwas geärgert, denn dies war wieder ein Rückfall Ginevras in ihre frühere Manier. Aber das kleine Gewölk schwand rasch. Ginevra fand den Plan im ganzen sehr originell und war gespannt, das von Stenzel bestellte neue Wagenmodell kennenzulernen.

Die Ernte ging zu Ende. Es war anfangs September. Aber die sommerliche Wärme schien eher noch zuzunehmen. Heiße Tage, weiche Nächte lösten sich ab. Zur Feier des Ernteschlusses hatte Stenzel seinen Bekanntenkreis nach Ellerndorf eingeladen. Fast alle hatten zugesagt: der Großfürst und Adele Waldmann, Geheimrat Herzigkeit, Direktor Henrici, Augustin Haller und Lasar Apfel. Nur Doktor Matthieu hatte sich mit dringenden Geschäften im Kasino entschuldigt.

Stenzel hatte bei seiner Einladung so etwas wie ein Erntefest vorgeschwebt, wie er sie noch aus seiner Jugend her kannte. Damals waren noch manche alten Bräuche im Dorf lebendig gewesen. Auf dem letzten Getreidefuder, das von den abgeernteten Feldern im Galopp heranjagte, schwankte obenauf eine große Strohpuppe. Schnitter und Schnitterinnen saßen um sie herum. An den Radspeichen waren Klappern angebracht, die das Herannahen des letzten Fuders schon von weither vernehmen ließen. Auf den Pfosten des offenen Hoftors hockten Knechte und Mägde mit gefüllten Wassereimern, um sie über dem einfahrenden Erntewagen und seine Insassen auszuschütten. Die Kunst bestand darin, Fahrer und Schnitter möglichst gründlich zu durchnässen, die Kunst des Fahrers wiederum darin, mit dem vollen Fuder so rasch und gewandt durch das Tor zu kommen, daß die geschwungenen Eimer ihr Ziel verfehlten. Das wiederholte sich beim Überqueren des Wirtschaftshofes und vor allem bei der Einfahrt in die Scheune. Sehr selten geschah es, daß Fuhrknecht und Schnittervolk ohne gehörigen Tribut an den Wassergott davonkamen, dessen Puppe man wie zum Hohn auf der höchsten Kuppe des Fuders tanzen ließ. War dies vorüber, so wurden Knechte und Mägde sowie das meist fremdsprachige Schnittervolk mit Fleisch, Speck, Keilchen, Schnaps bewirtet. In alter Zeit wurde am Abend auch getanzt. Stenzel hatte als Junge noch davon erzählen hören. Aber er selbst hatte das nicht mehr gesehen.

Es war ein Sonnabend im September, auf den die Festlichkeit in Ellerndorf angesetzt war. Infolge der Wetterbeständigkeit war es mit dem Abernten so über Erwarten schnell gegangen, daß bereits einen Tag vor dem in Aussicht genommenen Termin, also am Freitag vor jenem Sonnabend, das letzte Fuder – es waren Erbsen – unter Dach und Fach gelangte. Die drei Schwestern standen mit dem Generalkonsul auf dem Wirtschaftshof und sahen zu, wie es durch das offene Hoftor in scharfem Bogen hereinschwankte. Man hatte sein Geklapper schon weither von der Dorfstraße vernommen. Das gab es also noch! Nicht anders als in ihrer Kindheit! Auch die Wassertaufe war noch da. Aber nur noch gleichsam in symbolischer Andeutung. Ein paar Frauen standen mit Töpfen und schütteten sie gegen den vorüberknarrenden und klappernden Erntewagen aus. Es konnte niemandem bis auf die Haut gehen.

»Ich finde, sie sind ziemlich zimperlich hier geworden im Vergleich zu unserer Zeit!« meinte Helene. »Wenn sie damals mit dem letzten Fuder in der Scheune waren, konnten sie ihre Hemden auswinden! Es kostete viel Kornus mit Rum, bis sie wieder trocken wurden!«

»Bei uns in Schlesien ist es noch auf den Nachbargütern,« sagte die kleine verhutzelte Ottilie. »Remus hat es schon vor dem Kriege abgeschafft. Der ist ja immer voran! Es paßt nicht mehr in unsere Zeit, sagt er. Lokomobile und Kalidüngung und dazu Strohpuppen und Wasserplantscherei, das geht nicht zusammen! Bloß der Schnaps ist geblieben!«

»Die Liebe und der Schnaps, die gaben ihm einen Klapps,« trällerte die große brünette Olga, heute ausnahmsweise ohne ihre Zigarre und überhaupt mit ihrer Aufgeräumtheit kaum wiederzuerkennen. Vielleicht kam es daher, daß dieser Landaufenthalt, der sie im Grunde schrecklich gelangweilt hatte, nun endlich ein Ende nahm. Sie wollte Sonntag vormittags gleichzeitig mit ihrer Schwester Ottilie abreisen.

»Ein Schnäpschen in Ehren kann niemand verwehren!« bemerkte der Generalkonsul und lachte auf seine etwas befremdende Weise in sich hinein.

»Was muß man hören? Generalkonsul ...?! Du, Schnaps?« rief Olga.

»Ja, wo sind deine Grundsätze geblieben?« pflichtete Ottilie bei.

»Grundsätze?« rief Stenzel übermütig und schleuderte seine weiße Kapitänsmütze, die er in der Hand hielt, hoch in die Luft. »Das sind meine Grundsätze! ... Seht ihr, wie sie fliegen?«

»Von einem glücklichen Bräutigam kann man auch nichts andres erwarten,« kicherte Ottilie. Sie hatte wieder einen Anfall ihrer geräuschlosen Heiterkeit. »Wann läufst du denn in den Hafen ein?«

»Seht ihr das Storchenpaar dort, das gegenseitig die Schnäbel wetzt?« erwiderte Stenzel und zeigte nach dem Storchennest auf dem Scheunenfirst. »Sie rüsten sich zur Abreise! Eines Morgens sind sie fort! Wir wollen dem guten Beispiel folgen! Man muß von der Natur lernen! Vor allem von den Vögeln!«

»Aber die brauchen ja auch keine Papiere!« kicherte Ottilie. »Die bauen sich ihr Nest ohne Standesbeamten!«

»Ich nehme an,« warf Olga ein, »du willst damit sagen, daß ihr auf eine große offizielle Hochzeitsfeierlichkeit verzichtet, euch nur standesamtlich trauen laßt und euch gleich nachher auf den Zug setzt und abdampft?«

»In den Wohnwagen!« verbesserte Ottilie, leise kichernd.

»Was hältst du eigentlich von dem ganzen Einfall, Lene?« sagte Olga zu Helene, die solange geschwiegen und nur auf ihre Art die Lippen gekräuselt hatte.

»Ob sie meinen Segen haben oder nicht, bleibt sich gleich!« erwiderte Helene und wandte sich ab. Ein alter Knecht stand in der Nähe, der schon unter ihrem Vater gedient hatte, Petrikath mit Namen. Es war ein mittelgroßer sehniger Graukopf mit listig zwinkernden Augen, roten Bäckchen und tausend Fältchen im Gesicht, wie ein verschrumpelter Winterapfel anzusehen.

»Immer munter, Petrikath?« sagte sie zu ihm. »Sie werden auch nicht älter! Ich glaube, dazumal, wie wir alle drei noch Mädchen waren, haben Sie schon so ähnlich ausgesehen!«

Petrikath schüttelte gewichtig den Kopf. Seine wasserblauen Äuglein zwinkerten.

»I nein, gnädige Frau! Das weiß einer selbst am besten, was er so alles aufm Buckel hat! Die gnädige Frau is ja nu auch nich mehr die Allerjüngste! Wenn auch die Schönste von Ihnen drei! Ich hab' Sie doch alle drei auf'm Pferd reiten lassen! Lenchen wird mal die Schönste, hab' ich immer gesagt!«

»Hast du gehört?« sagte Ottilie, zu Olga gewandt. »Wir beide fallen ab! Lenchen macht das Rennen!«

Olga zuckte etwas gelangweilt die Achseln.

»Die Geschmacksrichtungen sind eben verschieden, meine gute Otti! Glücklicherweise war Aribert etwas anderer Ansicht als Herr Petrikath.«

»Wie alt sind Sie jetzt eigentlich, Petrikath?« fragte Helene und klopfte ihm auf die Schulter.

»I! Das is nu all zweiundsechzig Jahr', daß ich hier auf dem Goertzschen Hof einernten seh'! Ich bin zehn Jahr' gewesen, wie ich als Schweinjung' hergekommen bin! Noch unter Ihrem Großvater selig, gnädige Frau! Ja, ja, es wird Zeit, gnädige Frau! Hinter der Kirchhofspfort' warten all viele auf mich!«

»Unsinn! Wer wird solche Gedanken haben!«

»Ne! Ne! Das wird langsam Zeit! Solang' wie einer noch feste Knochen hat und einem das Essen noch schmeckt, solang' geht's ja! Es gibt welche in der Dorfskat', die möchten mit neunzig noch nicht weg! Aber wenn die Knochen nich mehr so recht wollen ... Ne, gnädige Frau! Glauben Sie mir! Da macht's keinen Spaß mehr!«

»Ich hoffe, wir sehen uns trotzdem noch oft, Petrikath! Das sind so Stunden ...! Wer hat das nicht

Petrikath zwinkerte mit seinen glashellen Augen und schneuzte sich umständlich in ein großes rotkariertes Schnupftuch, das er offenbar zu Ehren Helenes aus der Tasche geholt und entfaltet hatte.

»Ja, ja, das sind so Stunden!« wiederholte er mit bedächtigem Kopfnicken. »Da wird die gnädige Frau wohl recht haben! Das kommt einem so, wenn einer mal wieder das letzte Fuder einfahren sieht! ... I den Deiwel! Ein Weilchen geht's ja am End' noch! Einer lebt ja auch noch ganz gern! Warum nich? Der Herrgott wird all wissen, wann die Parole kommt!«

Er schulterte seine Forke, griff an seine Mütze und schlug die Richtung zur Scheune ein, um beim Abladen des letzten Erntefuders mitzuhelfen. Wie er sich so mit seinem schwankenden, breitbeinigen Gang entfernte, erinnerte er an alte Seebären, die über alle Ozeane gefahren sind und vielen Stürmen standgehalten haben. Dieses Werdervolk scheint für das Meereshandwerk geboren zu sein. Es ist, als wenn sie alle auf einer Schiffsplanke zur Welt gekommen seien.


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