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11

Der ehedem Goertzsche Hof, jetzt im Besitz der Mitzlaffschen Erben, lag an einem Knie des ziemlich großen Dorfes, etwa gleich weit von dem Punkt, wo die Landstraße es von Norden her erreichte, wie von seinem Südende, wo sie es durch einen Schlagbaum wieder verließ. Denn Ellerndorf genoß den zweifelhaften Vorzug, nach Süden hin Grenzdorf des neugeschaffenen kleinen Stadtstaates gegen das wiedergeborene, nicht wenig sich in die Brust werfende große Nachbarstaatswesen zu sein. Ein träges Rinnsal, die Sipplau, Abfluß aus einem der sumpfigen Seen des der Niederung benachbarten Höhenzuges, durchkroch das Dorf seiner ganzen Länge nach von Süden bis Norden, parallel der Chaussee. Niemand, der ihn nur von hier kannte, hätte diesem fast unbeweglichen Wasserlauf prophezeit, daß er, nur wenige Meilen unterhalb, sich zu einen breiten schiffbaren Hafenfluß auswachsen werde, wie es in der Tat der Fall war. Hier in Ellerndorf reichte sein mooriges Wasser der hindurchwatenden Jugend kaum bis an die Knie, diente Pferden, Kühen, Schweinen als karge Schwemme und Tränke, Enten und Gänsen als Rudergelegenheit und war zuzeiten von einem dicken, grünlichen Pelz aus Wucherpflanzen bedeckt, den man volkstümlich Entenflott nannte. Vor noch nicht allzuferner Zeit hatten die Einwohner des Dorfes, ob arm, ob reich, aus diesem einladenden Flußgebilde ihr Trinkwasser entnommen, ohne daß seit Menschengedenken ein Typhusfall zu verzeichnen gewesen wäre. Dorfbewohner und Stadtbewohner scheinen doch zweierlei Menschengattungen zu sein. Spötter – und jeder Ellerndorfer war einer – behaupteten sogar, daß ihre weitbekannte Gesundheit und Langlebigkeit nur der besonderen Bekömmlichkeit dieses mehr eßbaren als trinkbaren Wassers zu verdanken, der bemerkbar werdende Niedergang aber genau seit der Anlegung eines Dorfbrunnens zu verzeichnen sei.

Die Sipplau, über die ein paar Brücken und Stege führten, teilte, wie gesagt, das Dorf seiner ganzen Länge nach in zwei Hälften, von denen die östliche als die aristokratische, die westliche als die plebejische galt. Es war wie mit einer halbierten und aufgeklappten Semmel, wovon die eine Hälfte trocken, die andere mit Butter bestrichen ist. Auf der Butterseite lagen vier oder fünf ansehnliche Höfe, mehrere jetzt in einer Hand vereinigt. Drüben, jenseits der Sipplau, befand sich, außer dem Pfarrhaus, nur ein einziger Hof, seiner ganzen Bauart nach der älteste des Dorfes, mit Fachwerkgiebel und schon etwas gichtbrüchiger, aber dennoch repräsentabler Werdervorlaube, wie ein alter Kriegsveteran, der vornübergebeugt sich auf seine Krücken stützt, im übrigen jedoch Kopf und Brust noch jedem Wetter darbietet.

Dies war der ehemalige Goertzsche Hof, dessen letzter Besitzer Mitzlaff vor einiger Zeit gestorben war. Seine Erben, ein studierter Sohn, Arzt seines Zeichens, und eine Tochter, mit einem Juristen verheiratet, waren des Besitzes satt, überdies uneins miteinander und nur in ihren Verkaufsabsichten einig. Die Verhandlung, die der Generalkonsul durch seinen Beauftragten, den Sekretär Bauhofer, mit ihnen aufgenommen hatte, stand günstig. Die heutige Besichtigung sollte, wenn sie befriedigend ausfiel, zum Abschluß führen. Dazu war freilich nötig, daß Jan Wilhelm Köhler nun endlich seine zaudernde Haltung aufgab, also dem Großfürsten absagte, was noch nicht geschehen war. Jedoch bestand hierüber bei Stenzel eigentlich kein Zweifel mehr. Wenn jemand ein Geschenk von einer halben Million gleichsam in den Schoß geworfen bekommt, so kann es wohl nicht viel mehr als Ziererei sein, wenn er nicht sofort mit beiden Händen zugreift. Unverständige konnten Stenzel partiell verrückt nennen und taten es wohl gelegentlich. Aber seine kaufmännische Nüchternheit war doch auf der andern Seite viel zu groß, als daß es ihn in den Kopf gegangen wäre, sein Neffe könne in der Wahl zwischen Ellerndorf und Ungarn, zwischen Freiheit und Abhängigkeit, zwischen Heimat und Fremde ernstlich schwanken. Und doch unterschätzte er damit die partielle Verrücktheit des Neffen (wenn man es so nennen wollte), die also offenbar eine Familieneigentümlichkeit war. Jan Wilhelm hatte in diesen Tagen schwer mit sich gerungen, welchem Angebot Folge zu geben sei. Für Ungarn sprach vieles. Vor allem die Unabhängigkeit (der Großfürst war weit!) und die Fremde. Gegen Ellerndorf manches: Die Gebundenheit der Heimat, die Nähe des Oheims, sein immer zu fürchtendes Dreinreden. Es war also genau der entgegengesetzte Gedankengang wie der des Onkels. Aber dann sprach der Trotz sein entscheidendes Wort: Trotz gegen den Großfürsten, der mit ihm schalten wollte wie mit seinen syrmischen Hammeldieben! Trotz gegen Ginevra, die ihm einen Besuch bei den Papuas empfohlen hatte! Empörend, dieses Benehmen des noch dazu rothaarigen Mädchens! Aber wäre es ihm bei einer Blondine, weniger schmerzlich gewesen? (Er entdeckte bei dieser Gelegenheit übrigens zum erstenmal, daß auch rote Haare ihren Reiz haben können.) Einerlei! Er war nun doch so gut wie entschlossen, für Ellerndorf zu optieren. Natürlich konnte erst die Besichtigung des Gutes den Ausschlag geben.

Die Mitzlaffschen Erben, die ja persönlich sich wenig ihres Besitzes annehmen konnten, hatten dessen Verwaltung in die Hände eines tüchtigen Inspektors gelegt. Es war ein breitschultriger, untersetzter Mann, mit krebsrotem Gesicht, martialischem Schnauzbart, gestiefelt, gespornt, meistens eine Reitpeitsche in der Hand, Fehlauer mit Namen. Er war Junggeselle und bewohnte im Hintergebäude zwei Zimmer auf den Hof hinaus, so daß seinem Falkenauge kein Vorgang zwischen Stall, Scheune und Haus entgehen konnte. Die Sorge für den innern Betrieb trug die Wirtin, eine harte, knochige, ungemütliche Person, die, nach ihrem Gejammer zu schließen, alle Hände voll mit dem Gesinde, den Schweinen, dem Geflügel, dem Garten zu tun hatte.

Man wird begreifen, daß Helene van Düren das Herz klopfte, als sie nach dreißig Jahren die Stätte wiedersah, die sie unter so traurigen und beschämenden Umständen hatte verlassen müssen. Ja, es klopfte ihr ganz fühlbar bis zum Halse herauf, und beinahe hätten ihr die Knie den Dienst versagt. Johann Sebastian mochte so etwas bemerken. Er reichte ihr seinen Arm und schien auch selbst merkwürdig aufgeregt zu sein. Sie stützte sich auf ihn und rang nach Atem. Der Anfall war bald vorüber. Der Generalkonsul murmelte irgend etwas Unverständliches, das wohl beruhigen und trösten sollte. Ginevra, die im Anschauen der dörflichen Kleinwelt versunken neben Jan Wilhelm einherschritt, nahm die Erregung der Mutter kaum wahr.

So waren sie durch den kleinen parkartigen Vorgarten unter die wacklige Vorlaube getreten. Helene lächelte, jetzt wieder vollständig gefaßt.

»Die Erlen und Birken sind große Herrschaften geworden,« sagte sie zu Stenzel. »Als wir Kinder waren, standen kleine Stämmchen hier. Jetzt überschatten sie das ganze Haus mit ihrem jungen Grün! Beinahe zu sehr! Es muß dunkel sein in den Stuben. Damals war es hell.«

Helene hatte recht. In dem breiten geräumigen Hausflur, der hinter der Vorlaube lag, empfing grüne Dämmerung die Eintretenden. Einzelne Sonnenlichter stahlen sich durch die Fenster und tanzten wie Irrwische über den gebohnerten Fußboden. Die Umrisse einer in das obere Stockwerk sich hinaufwindenden Treppe aus Eschenholz wurden sichtbar. Allmählich gewöhnte sich das Auge. Schwere, reichgeschnitzte Barockschränke, wie sie des Landes hier der Brauch, standen an den Wänden, den Raum noch mehr verdüsternd. Sie waren, wie Hausgötter, von den Mitzlaffschen Erben an Ort und Stelle gelassen worden. Als Schwergewichtler trotzten sie dem Wandel der Zeit und der Neuerungssucht eines andersdenkenden Geschlechts.

»Hier rechts war das Wohnzimmer der Eltern,« sagte Helene zu den Umstehenden. »Dahinter ist die Stube, wo wir zur Welt kamen, Olga, Ottilie und ich. Dort links war der Saal mit dem großen Kronleuchter. Da wurde getanzt, wenn Gesellschaft war. Auch der Sarg von Mutter stand dort. Ich war zwölf Jahre alt. Ich sehe ihn noch wie heute!«

Fehlauer führte die kleine Gesellschaft durch alle Räume des im Innern doch etwas vernachlässigten Hauses. Wie hätte es auch anders sein sollen? Seit dem Tode des letzten hier wohnenden Besitzers waren mehrere Jahre verflossen. Die Erben hatten einen ansehnlichen Teil des Hausrats in ihre Stadtwohnungen übernommen. Die meisten Zimmer waren abgeschlossen, verdunkelt, verstaubt, wenn auch bemerkbar war, daß auf die angekündigte Besichtigung hin untaugliche Versuche zu einer Reinigung und Auffrischung unternommen worden waren. In den Zimmern des Obergeschosses sah es vollends unwirtlich aus. Sie waren gänzlich ausgeräumt und leer. Alte Zeitungen und Packpapier lagen auf dem Fußboden herum. Es roch dumpf, stockig. Von einem ziemlich großen dreifenstrigen Giebelzimmer auf der Rückseite des Hauses hatte man eine weite Fernsicht über die saftgrünen Felder und Wiesen der Niederung bis zu den in silbrigen Dunst getauchten Höhenkämmen, die längs des ganzen westlichen Horizonts dahinzogen.

Beim Betreten dieses Zimmers wurde es Helene wieder ein bißchen schwach ums Herz. Irgend etwas würgte sie in der Kehle. Sie hatte Mühe, es herunterzuschlucken. Zum Glück bemerkte es niemand.

»Hier war unsere Kemenate!« sagte sie nach einem Weilchen, mit einem schwachen Lächeln, und trat ans Fenster, das Fehlauer geöffnet hatte.

Ginevra, die bis jetzt alle Räume im Hause mit einer gewissen kalten Hoheit gemustert hatte, als bestehe nicht die geringste innere Beziehung zwischen diesen Dingen und ihr, trat in einer plötzlichen warmen Regung zu ihrer Mutter und legte den Arm um ihre Schulter.

»Hier hast du gewohnt, Mumpili?« sagte sie. »Als junges Mädchen? Interessant!«

»Nicht ich allein! Wir drei!« nickte Frau van Düren. »Die Stube ist ja groß genug! An jeder von den drei Wänden stand ein Bett. Ganz schmale Nasenquetscher, wie damals überall hier ...«

»Wohl, um nicht auf schlechte Gedanken zu kommen?« warf Ginevra ein und hatte eine strenge Schulmeistermiene.

»Es kann schon sein! Aber solche Fragen stellten damals die jungen Mädchen noch nicht!«

»Auch nicht in Gedanken?«

»Nicht einmal im Traum! Aber ihr seid ja eine ganz angefaulte Gesellschaft!«

»Untergang des Abendlandes! Jawohl! Späte römische Kaiserzeit! Das Strafgericht ist nahe! Feuer und Schwefel über uns alle! ... Aber im Ernst, liebste Mumpili, es muß hübsch hier zu hausen gewesen sein für euch drei heranwachsende Jungfrauen! Natürlich hattet ihr euch alles nett und geschmackvoll eingerichtet?«

»Ja! Betten so hoch wie Häuser! Häkeldeckchen! Laubsägearbeiten!«

»Brrr!« machte Ginevra und schüttelte sich. »Dann schon lieber Pech und Schwefel und angefault!«

»Aber es war unsere Jugend!« sagte Frau van Düren. »Und das war der Glanz über den Häkeldeckchen und den Laubsägetischchen! Habe ich nicht recht, Generalkonsul?«

Stenzel hatte die Wendung, die Ginevra dem Gespräch zu geben beliebt hatte, nicht ohne ein gewisses Stirnrunzeln aufgenommen. Sollten die Grundsätze dieses merkwürdig undurchsichtigen Mädchens am Ende etwas frivol sein? Mußte das grade in Gegenwart seines Neffen gesagt werden? Auch die Anwesenheit des Inspektors genierte ihn, wenn auch auf dessen breitem Feldwebelgesicht kein besonderer Reflex wahrzunehmen war.

»Würde es dir Freude machen,« sagte er zu Helene, »wenn ich oder vielmehr mein Neffe ... denn er wird ja der Besitzer des Hauses sein, falls ich es kaufe ... du entschuldigst, lieber Willi, aber ich drücke mich rein sachlich und geschäftsmäßig aus ... ich bin kein Freund von Verklausulierungen ...«

Jan Wilhelm warf einen Blick auf Ginevra. Dann wandte er sich mit einem kurzen Kopfnicken an den Oheim.

»Falls du es mit deinem Gelde kaufst oder falls ich nicht mit meiner Arbeitskraft zum Großfürsten gehe!«

Der Generalkonsul wollte aufbrausen, aber dann fiel ihm zum Glück wieder seine junge Weisheit ein von der Hinfälligkeit alles Irdischen und von dem rasenden Fluge der Stunden und Tage. War nicht übers Jahr um diese Zeit doch alles gleich?

»Wir reden noch darüber!« sagte er zu Jan Wilhelm, dann mit einer Verbeugung zu Helene, »ich möchte dir dieses Zimmer zur Verfügung stellen, wenn ihr im Sommer unsere Gäste seid. Ich hoffe bestimmt darauf. Es handelt sich um die Erfüllung eines längst fälligen Versprechens. Aber bevor ich mich darüber auslasse, müssen wir erst hier ins reine kommen ...«

»Mit dem Haus sind wir ja sowieso fertig,« meldete Fehlauer in militärischer Haltung. »Jetzt sind Pferdestall, Kuhstall, Schweinestall an der Reihe!«

» Das überlassen wir den Männern!« meinte Frau van Düren zu ihrer Tochter. »Wir wollen unterdessen Onkel Berthold aufsuchen gehen. Vielleicht kommt ihr nachher vorbei, mein lieber Hans, und Sie, Herr Köhler, und holt uns ab?«

»Wenn du ihn nur schon auf findest!« äußerte der Generalkonsul mit unverkennbarer Ironie. »Es ist ja erst elf Uhr vormittags.«

»Ist er noch immer solch ein Langschläfer?« lachte Helene.

»Herr Krispien?« warf Fehlauer ein und grinste. »I! Der kommt doch nicht vor Klock' zwölf aus den Posen!«

»Dann holen wir ihn einfach 'raus!« entschied Ginevra. »Ein solches Original von Onkel muß besichtigt werden!«

»Ja, wenn man den ein Original nennen kann,« mißbilligte Stenzel, »der dem Herrgott den Tag wegstiehlt!«

»Er ist eben ein Dichter!« entschuldigte Helene. »Mein guter Vetter Berthold Krispien! Ich habe ihn auch an die dreißig Jahre nicht gesehen! Er ist ja nie mehr aus seinem Schneckenhaus 'rausgegangen!«

»Wenn Sie zu ihm wollen,« riet Fehlauer, »dann müssen Sie gehörig mit dem Türklopfer rumoren! Sonst wacht er Ihnen nicht auf! Und der Hausdrache hört erst recht nicht! Der will nicht hören!«

»Was? Ein Hausdrache ist auch da?« rief Ginevra.

»Und was für einer!« grinste Fehlauer. »Hörner und Klauen! Und giftig wie 'ne Wespe! Der Deiwel is nuscht dagegen! Dabei klein wie 'n Rehpinscher! Aber die haben's ja in sich. Die fahren einem direkt an die Beine!«

»Wollen wir's riskieren, Mumpili?« meinte Ginevra und zeigte ihr sorgenvolles Clowngesicht.

Frau van Düren nickte entschlossen.

»Wir gehen hin! Vielleicht braucht er solch einen Drachen! Wahrscheinlich wäre er ohne das Ungeheuer längst hinuntergeschwommen!«

»Wenigstens hält sie ihm die Dorfbofkes vom Leibe!« bestätigte Fehlauer und grinste über das ganze Gesicht. »Da traut sich keiner 'ran!«

»Na, seht ihr, meine Herrschaften!« triumphierte Helene. »Ihr seid eine komische Gesellschaft, ihr Männer! Erst stellt ihr euch an, als wenn ihr auf eigene Faust den Himmel stürmen wollt! Nachher plumpst ihr herunter und jammert, daß niemand euch hilft! Und dann bekommt ihr den Satan in Person!«

Ihre Worte waren an die drei anwesenden Männer im allgemeinen und an den Generalkonsul im besonderen gerichtet. Dieser quittierte denn auch mit einem säuerlichen Lächeln, dem ein Blick auf Ginevra vorausging, und mahnte zum Aufbruch.

Es geschah. Die Männer begaben sich zum Stall, um dort ihre Arbeit fortzusetzen, wie Stenzel mit mehrfachem r betonte. Mutter und Tochter machten sich auf den Weg zu Onkel Berthold, der in einem Häuschen unweit der Kirche wohnte.


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