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15

Ginevra saß in Berthold Krispiens Wohnstube, zu deren Fenstern die Kreuze und Steine des Kirchhofs über die niedrige Einfriedung hereinschauten. Es war sehr still zwischen den hellen Birnbaummöbeln aus Urgroßvaters Tagen. Der Dichter hatte soeben das letzte Bild seiner Tragödie »Der Wanderer und die Sphinx« vorgelesen. Heute früh um fünf war die »Phantasmagorie« fertig geworden. So sollte der Untertitel des Werkes lauten. Krispien war nach vollbrachter Arbeit vollständig erschöpft auf sein Bett gesunken, ohne Schlaf finden zu können. Erst gegen Mittag hatte die fiebrige Spannung dieser letzten Stunden sich in einem kurzen Schlummer etwas gelöst. Fräulein Florentine hatte mit Drohworten und Gewaltmitteln ihren »jungen Herrn«, den sie verrückter als je fand, im Bett halten wollen. Aber all ihr Schelten hatte nichts genützt. Der Dichter war aufgestanden, hatte seinem Pegasus mit schwarzem Kaffee gleichsam die Sporen gegeben und war von neuem in die Welt seiner Träume gesprengt, indem er das soeben beendigte Schlußbild der Phantasmagorie noch einmal durchnahm und überarbeitete. Es sollte Ginevra, die sich für den späten Nachmittag angemeldet hatte, in möglichst ausgereifter Form dargeboten werden. Fräulein Florentine war ernstlich versucht, diese rothaarige Hexe, die ihren armen Herrn um den letzten Rest seines Verstandes gebracht hatte, dorthin zu wünschen, wo der Pfeffer wächst. Umsonst! Krispien – ausgemergelt und schlotternden Gebeins wie noch nie – war in seinen lotosgeblümten Magiermantel geschlüpft und mit der Tiara des Zoroaster auf dem grauen Haupt fiebernd hin und her gewandert, des Kommens seiner Muse gewärtig.

Und jetzt war es vorüber. Auch dieser stolze und heißersehnte Augenblick war in den Stromschnellen der Zeitlichkeit verschwunden. Der Dichter lag wie entseelt in seiner Sofaecke. Er war kein schlechter Dolmetsch seiner Sachen, wenn auch jede Vortragsgewandtheit fehlte. Vielleicht war gerade das der Vorzug. Ginevra klangen ein paar Sätze vom Ende des Werkes in der Seele nach. »Es war die Liebe! Zu spät gefunden das Wort! Ich reise ihr nach! Ich hole sie ein! Und wär's in Äonen!«

»Glauben Sie wirklich, Onkel Berthold, daß die Liebe eine solche Wichtigkeit besitzt, wie Sie ihr beilegen?« sagte das junge Mädchen, nachdem eine Weile tiefe Stille im Zimmer gewesen war. Sie zündete sich eine Zigarette an und schlug die Beine übereinander, die Antwort des Dichters erwartend. Aber der schwieg. Seine Brust hob sich in kurzen Stößen. Rote Flecken brannten um seine spitzigen Backenknochen. Es war das Bild eines mit dem Tode Ringenden. Ginevra stand auf, beugte sich über den Daliegenden und strich mit ihrer Hand behutsam über sein wirres graues Haar.

»Sie haben sich überanstrengt, Onkel Berthold! Es hat Sie zu sehr aufgeregt! ... Sie hätten das nicht tun sollen! Ich mache mir Vorwürfe!«

Der Dichter schüttelte das Haupt und machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Ginevra hielt ihm ein Glas Wasser an die Lippen und stützte seinen Kopf. Er richtete sich in ihren Armen halb auf und trank. Es schien ihm gut zu tun. Sein Atem wurde ruhiger.

»Dank, mein Kind! Dank! ... Mache dir keine Sorge um mich! Es wäre schlimm, wenn das alte Gebäude solch eine kleine Erschütterung nicht mehr vertrüge! ... Alles oder nichts! Wir haben keinen höheren Einsatz in der Lebenslotterie als uns selbst! Nur wer sich ganz einsetzt, gewinnt das große Los!«

Die Stimme des Dichters hatte sich gekräftigt. Er schlug seinen Magiermantel dichter um die dürren Lenden und sog den Atem des wiedererwachenden Lebens in tiefen Zügen ein. Ginevra hockte sich neben ihn auf das Sofa.

»Aber wenn es nun in der Urne bleibt, das große Los?« meinte sie und wiegte nachdenklich den Kopf.

»Dann haben wir wenigstens die Hoffnung gehabt!« erwiderte Krispien. »Und außerdem das Vergnügen des Spiels! Beide Rauschmittel zusammen genügen, um den Trauermarsch zwischen Wiege und Grab in eine Tanzmelodie umzuzaubern! ... Aber du wolltest meine Ansicht über die Liebe?«

Ginevra nickte.

»Ja! Ist sie wirklich so wichtig, Onkel Berthold?«

»Das Wichtigste, unbedingt, was es zwischen Himmel und Erde für uns Menschenkinder gibt!«

Ginevra schüttelte abwehrend den Kopf.

»Merkwürdig, daß so viele ältere Leute, denen man ein Urteil zutrauen kann, das behaupten! Zum Beispiel auch meine Mutter!«

»Ich habe nie etwas anderes von Helene Goertz angenommen! Sie war immer eine Lebensbezwingerin! Schon damals, als ich ihr mein erstes Poem vorlas!«

Das junge Mädchen legte seine weiche Hand auf die knochige des alten Dichters.

»Ihr auch, Onkel Berthold? Gradeso wie jetzt mir?«

»Ja! Ihr das erste! Dir das letzte!«

»Onkel Berthold ...?!« Sie drohte ihm mit erhobenem Finger.

»Du hast recht! Halten wir uns an unsere Abmachung und werden wir nicht sentimental! ... Aber um bei deiner Mutter zu bleiben: Ich nenne sie eine Lebensbezwingerin, weil sie von je die Liebe in sich gehabt hat, allerdings keine schwächliche, keine weichliche! Und nur wer die Liebe hat, kann das Leben bezwingen!«

Ginevra erhob sich und machte einige Schritte durch das Zimmer. Gleich darauf stand sie wieder vor Krispien und schüttelte energisch den Kopf.

»Wir jungen Menschen von heute, Onkel Berthold, halten nicht allzuviel von der Liebe! Schon von der Erotik! Wenn man einander sympathisch ist, vor allem auch körperlich, warum nicht? Aber die große, die tiefe, die alles bezwingende, die leidenschaftliche, die selbstvergessene Liebe ... nein! Bei Gott! An die glauben wir nicht! Das ist so eine Erfindung irgendeiner Blaublümeleinzeit, die es nicht mehr gibt! Vielleicht nur in den Gehirnen von euch Dichtern gegeben hat!«

Berthold Krispien legte seine Skeletthand auf das düsterrote Haar des vor ihm stehenden jungen Mädchens, das wie von einem andern Planeten zu ihm sprach.

»Du armes, armes Kind!« sagte er mit seiner hohlen traurigen Stimme.

»Arm? Wieso arm?« fragte Ginevra und warf mit einer jähen Bewegung ihr Haar in den Nacken.

»So arm ... so arm ... so arm,« wiederholte der Dichter, »daß ihr gar nicht einmal wißt, wie arm ihr seid, du und ihr alle zusammen ... in eurer Herzenssahara, in der ihr niemals den Urquell des Lebens murmeln hört!«

»Dafür haben wir die Kameradschaft!« rief Ginevra. »Die Freundschaft! Die Interessengemeinschaft! Das gegenseitige Vertrauen zwischen Mann und Frau! Und natürlich Sport und Tanz! Das sind auch sehr schöne Quellen, an denen man sich laben kann, oder ganz hübsche Oasen, wo man in der Sahara rasten kann mit seinen Kamelen! ... Die Liebe ...?! Du großer Gott! Man kann doch nicht fortwährend mit den Ohren am Boden liegen und horchen, ob irgendwo in der Tiefe der Urquell des Lebens murmelt!«

Der alte Dichter schnellte vom Sofa auf wie von einer Sprungfeder emporgeschleudert.

»Hier! Hier! Hier!« gurgelte er und schlug sich mit den Handknöcheln gegen die morschen Rippen. »Hier ... in eurer eignen Brust ... müßt ihr ihn rauschen hören! Oder ihr seid nichts als tönendes Erz und eine klingende Schelle!«

Er fiel gegen die Sofalehne zurück, daß das hundertjährige Gestell in allen Fugen krachte. Ginevra kauerte sich halb vor ihm nieder und kreuzte die Arme.

»Zum Beispiel Sie selbst, Onkel Berthold! Was haben Sie selbst von Ihrem Urquell gehabt? Von Ihrer allbeherrschenden Liebe? Haben Sie eine von all den Frauen gekannt, die Sie in Ihrer Phantasmagorie, Ihrer wundervollen, gedichtet haben? Haben Sie auch nur eine davon im Arm gehalten? Hat auch nur eine davon Ihre unendliche Liebe erwidert? Nun bitte! Bekennen Sie!«

Der Dichter lag mit halbgeschlossenen Augen im Sofa. Er schien wieder sehr angegriffen. Seine Stimme klang hohl und dumpf wie aus der Tiefe eines Kerkerverlieses.

»Nein! Ich habe keine von meinen Frauen jemals im Arm gehalten, wenn man es rein körperlich betrachtet! Ich habe auch keine von ihnen je gekannt ... außer der einen, die jetzt jung und blühend vor mir am Boden kauert! Und ebenso unerreichbar ist wie die andern, deren Bild niemals in mein sterbliches Auge gedrungen ist! Und dennoch! ... Und trotzdem! ... Sie sind alle mein gewesen! Ich habe sie alle geliebt und bin von ihnen geliebt worden! Ich habe sie alle besessen und betrogen und bin von ihnen allen betrogen worden!«

Er hielt schweratmend inne und schien nach Luft zu ringen.

»Von ihnen allen?« fragte Ginevra leise. »Auch von der, die zu Ihren Füßen kauert?«

Krispien griff nach seiner Tiara, die ihm wieder einmal heruntergerutscht war, und stülpte sie wie eine tragikomische Krone aufs Haupt. Er mußte erst wieder etwas zu Atem kommen.

»Jawohl! Auch von der!« stieß er heraus. »Von der vielleicht am allermeisten, weil sie die wirklichste und greifbarste war! Und doch auch wieder die fremdeste und unerforschlichste! Weil sie die Zukunft war! Aber einerlei! Auch sie war mein! In dem Zauberwald der Liebe hat auch diese Gestalt mir begegnen müssen! Und ohne sie wäre die Phantasmagorie meines Erdenweges nur Stückwerk geblieben!«

Krispien schwieg. Seine Augen hatten sich geschlossen, wie um in innere Gesichte hinabzutauchen. Ginevra glitt aus ihrer kauernden Stellung mit einem geschmeidigen Dehnen ihrer Glieder empor und beugte sich über den greisen Dichter. Ihr heißer Atem hauchte über sein Gesicht. Ihre Brust hob und senkte sich dicht über der seinen. Wenn er die Augen aufgeschlagen hätte, so hätte er die ihrigen in den seinen brennen sehen. Ihre schlanken Arme waren wie in einer symbolischen Anvermählung über ihn gebreitet. Er hätte mit einer Handbewegung diese blühende Erdenpracht zu sich niederziehen können, und wer weiß, ob ihm gewehrt worden wäre. Aber Berthold Krispien, der nie ein Weib im Arm gehalten hatte, wenn seinem Wort zu glauben war, spürte nichts, merkte nichts von dem Glück, das einige Augenblicke auf ihn wartete und nur genommen werden wollte. Ein Leben lang hatte er danach gerufen, und jetzt, wo es sich über ihn beugte, war der alte Dichter eingeschlafen.

»Sehr begreiflich nach all der Aufregung und Überanstrengung!« sagte sich Ginevra, indem sie mit einem leichten Seufzer sich auf ihre Füße stellte. »Sehr begreiflich und gleichzeitig auch ein bißchen komisch wie alles, was mit Onkel Berthold zusammenhängt! Es scheint, daß die Dichter die entscheidenden Augenblicke ihres Lebens verschlafen! Aber wahrscheinlich muß das so sein, damit sie um so intensiver davon träumen können!«

Sie lächelte, und es muß gesagt werden, daß ihr Lächeln nicht nur spöttisch, sondern auch ein wenig bitter war. Sie richtete ihr Haar und ihr Kleid, die beide etwas in Unordnung geraten waren, und warf einen letzten Blick auf den schlafenden Dichter. Auch auf seinem Antlitz war ein Lächeln, jedoch nicht des Spottes oder der Bitterkeit. Man hätte es bei einem Toten Verklärung nennen können. Aber Berthold Krispien war nicht tot, sondern nur im Zustand eines so bewußtlosen Schlafes, daß er nicht einmal merkte, wie Ginevra ihm sein Allerheiligstes, das Manuskript seiner Phantasmagorie »Der Wanderer und die Sphinx«, aus der Tasche zog und damit auf den Zehenspitzen zur Tür ging. Als sie sie mit einer raschen Handbewegung öffnete, fand sie draußen auf dem Flur Fräulein Florentine, die offenbar an der Tür gehorcht oder durchs Schlüsselloch gespäht hatte. Das junge Mädchen legte bedeutsam den Finger auf den Mund und war, ehe noch Florentine den ihrigen auftun konnte, mit dem Manuskript des Dichters auf der Dorfstraße.

»I! Da schlag doch einer lang hin! So ein rothaariger Deiwel!« rief Florentine, als sie nach einigen Augenblicken die Sprache wiedergefunden hatte. Aber da war die, die es anging, bereits verschwunden.

Noch an demselben Abend tat Ginevra die nötigen Schritte, um ihren Plan zur Ausführung zu bringen. Der Generalkonsul befand sich in diesen Frühsommertagen noch in seiner Stadtwohnung, die er allerdings bald mit dem Ellerndorfer Sommerquartier vertauschen wollte. Natürlich benutzte er schon jetzt jede Gelegenheit, um draußen zu erscheinen und mit den beiden Frauen, namentlich mit Ginevra, zusammenzutreffen. Gewöhnlich kam er zum Wochenende und blieb bis Montag früh. Manchmal fuhr sein Wagen auch noch in später Abendstunde vor dem Landhause vor. Es wurde ein Plauderstündchen abgehalten, an dem sich übrigens Jan Wilhelm grundsätzlich nicht beteiligte, indem er sich auf schriftliche Arbeiten oder auf Übermüdung berief. Noch in der Nacht pflegte Stenzel dann in die Stadt zurückzukehren, bald auf dem Gipfel des Glücks, bald in den Abgründen des Weltschmerzes. Seit einigen Tagen war er zur Verwunderung der beiden Frauen und zur unverhohlenen Befriedigung Jan Wilhelms nicht in Erscheinung getreten. Aus kurzen telephonischen Gesprächen schien hervorzugehen, daß außer dringenden Geschäften auch Stimmungstrübungen, Depressionen ihn zu Hause hielten. Nach dem Grund dieser Trübungen gefragt, hatte er sich mit ziemlich allgemeinen und nichtssagenden Redensarten einer klaren, bündigen Auskunft entzogen.

So kam es, daß Ginevra sich entschloß, den Generalkonsul ihrerseits in der Stadt aufzusuchen. Sie rief noch am Abend nach Krispiens Vorlesung bei Stenzel an und meldete ihr Erscheinen für den nächsten Tag. Er möge ihr Dombrowski mit dem Wagen herausschicken. Ihrer Mutter gab sie an, sie wolle einmal nach ihrem Atelier sehen – es war für den Sommer eine Vertretung gefunden worden – und notwendige Besorgungen machen. Auch mit Adele und vielleicht mit dem Großfürsten gedenke sie ein Stelldichein herbeizuführen.

»Und mit dem Generalkonsul willst du dich nicht treffen?« fragte Frau van Düren nicht ohne Ironie.

»Eine gute Idee von dir, Mumpili!« entgegnete Ginevra, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich hätte es wirklich beinahe vergessen! Der arme Kerl wäre sicher sehr gekränkt gewesen und hätte es mir mit Recht übelgenommen! Ich werde also unsern gemeinsamen Freund aufsuchen und ihn von dir grüßen!«

Ich habe doch eine richtige Schlange von Tochter! dachte Helene bei sich, aber sie sagte es ausnahmsweise nicht.

Kurz bevor am nächsten Morgen Ginevra sich ins Auto setzen wollte, erhielt sie ein zartduftendes Briefchen von Adele. Die Schauspielerin schrieb in ihrer steilen Rundschrift, daß sie sich in Sehnsucht nach Ginevra verzehre, die leider noch nichts von sich habe hören lassen. Um so mehr höre man in der Stadt von kommenden großen Dingen, die mit dem Generalkonsul in Zusammenhang ständen. Es sei ein offenes Geheimnis, daß Johann Sebastian sich mit Heiratsplänen trage. Alle Welt finde ihn merkwürdig verändert. Ob zum Vorteil oder zum Nachteil, darüber seien die Ansichten allerdings geteilt. Aber das sei nun mal der Lauf der Welt. Als ob nicht auch in der Brust von älteren Herren ein heißes und jugendliches Herz schlagen könne! Heutzutage vielleicht mehr als je zuvor! Denn es erscheine ihr geradezu als ein Kennzeichen dieser gegenwärtigen Männerwelt, daß sie allesamt nicht älter werden, geschweige denn alt erscheinen wollten, wie man das früher dem weiblichen Geschlecht nachgesagt habe. Sie glaube sich hierin ein gewisses Sachverständnis beimessen zu dürfen, denn ihr eigener »hoher Herr«, der Großfürst, zähle ja auch zu jener Klasse von unverbesserlichen älteren Herren mit noch sehr jugendlichem Herzen. Neuerdings habe er es sogar mit der Eifersucht! Noch dazu einer nicht ganz ungefährlichen auf einen allerdings sehr viel jüngeren Mann, dessen Namen sie jedoch dem Papier nicht anvertrauen wolle. Ebensowenig wie ihr jemand den Namen jener Erwählten des Generalkonsuls entreißen werde, und wenn man sie mit glühenden Zangen zwicken sollte. Man habe übrigens gestern während der Schlußvorstellung im Landestheater diesen Namen ganz offen ausgesprochen. Er fange mit G an und endige mit a. Mehr wolle sie nicht sagen, vielmehr alles weitere einem allernächsten Zusammensein überlassen und zum Schluß nur noch kurz hinzufügen, daß jener junge Mann, auf den der Großfürst merkwürdigerweise eifersüchtig sei, einen Doppelvornamen trage, dessen Initialen J. W. seien.

Ginevra fand Adeles Brief ganz belustigend, wenn auch ziemlich hintergründig, und zerriß ihn in kleine Stückchen, die sie dann während der Autofahrt wegwarf. Eine Stunde später saß sie dem Generalkonsul in dessen Arbeitszimmer auf dem bekannten Damensofa gegenüber. Stenzel befand sich seit dem gestrigen Anruf Ginevras in einem Rauschzustand, der auch nach einem sehr unruhigen Nachtschlummer noch nicht gewichen war. Um so größer war seine Enttäuschung, als Ginevra ihm den Zweck ihres Kommens entwickelte und Krispiens Manuskript zum Vorschein brachte. Es müsse, so erklärte sie, sofort mit Schreibmaschine abgeschrieben und das vervielfältigte Werk dem Direktor des Landestheaters zur Aufführung übergeben werden, die zu Beginn oder im Laufe der nächsten Spielzeit, jedenfalls aber noch vor Weihnachten stattzufinden habe. Dies sei ihr reiflich erwogener Entschluß, zu dessen Verwirklichung sie die ganze Tatkraft des Generalkonsuls aufrufe, vorausgesetzt, daß ihm an ihrer Freundschaft etwas gelegen sei.

Stenzel hatte kopfschüttelnd zugehört und seiner Stimmung durch wiederholte Laute des Befremdens Ausdruck gegeben.

»Wenn ein Generalkonsul Stenzel nicht über so etwas erhaben wäre,« entrang es sich ihm schließlich, als Ginevra geendigt hatte, »so hätte ich einigen Grund, eifersüchtig zu werden! Aber ein Stenzel, der sein Leben lang ernst gearbeitet hat, hält es unter seiner Würde, mit einem Müßiggänger von Beruf, mit einem Berthold Krispien, in irgendeinen Wettbewerb zu treten, selbst wenn es sich um die Freundschaft einer schönen, aber wankelmütigen jungen Dame handelt!«

Ginevra sah lächelnd zu dem aufgeregten kleinen Mann hinüber, der sein Monokel heftig hin und her bewegte.

»Mein lieber Johann Sebastian! Ich verstehe deine Erregung wirklich nicht recht,« sagte sie, wobei nachgeholt werden muß, daß die beiden seit kurzem im Duzverhältnis standen und sich gegenseitig mit dem Vornamen anredeten. »Du übersiehst bei deinen Vorwürfen ganz, daß es sich bei Onkel Berthold zunächst mal um einen Onkel, also um einen nahen Verwandten handelt, für den ich gern etwas tun möchte. Dann aber, daß Onkel Berthold doch ein schwacher, kranker, alter Mann ist, für den man als junges Weib von einigen unbestreitbaren Reizen höchstens mitleidsvolle Verehrung hegen kann, aber doch niemals ein tieferes Gefühl, für einen so großen Dichter ich ihn auch halte!«

»Eben das begreife ich nicht!« fiel Stenzel, noch immer verärgert, ein. »Wie kann ein Mensch, der niemals gearbeitet, eigentlich immer nur auf dem Sofa gelegen hat, ein großer Dichter sein? Wie kann eine so kluge Dame, wie du es bist, ihn für einen großen Dichter halten, wenn sie nicht verliebt in ihn ist? Da fehlt mir die Erklärung! Obwohl ja der Gedanke an sich schon ein Irrsinn wäre! Denn wie sollte ein junges Mädchen von Herz und Kopf in eine solche Ruine verliebt sein?«

»Genau das gleiche behaupte ich ja auch!« lächelte Ginevra. »Im übrigen, lieber Johann Sebastian, ist Onkel Berthold nicht älter als du!«

»Es kommt eben darauf an, wie man gelebt und mit seinen Kräften hausgehalten hat!« murrte Stenzel. »Ich komme mir noch wie ein Jüngling vor! Ich habe Augenblicke, wo mir der Tod vollständig unbegreiflich ist, obwohl ich natürlich zugebe, daß einem herunterfallenden Ziegelstein auch die gesündeste Hirnschale nicht standhalten kann. Aber lassen wir das!«

»Ganz meine Ansicht!« erwiderte das junge Mädchen, indem es sich vom Sofa erhob und mit gekreuzten Armen dastand. »Ich frage dich also in aller Form: Willst du meinen Wunsch erfüllen oder nicht?«

Ihr Gesicht hatte wieder den fremden maskenhaften Zug, der an antike Medusenköpfe erinnerte. Der Generalkonsul hatte sich ebenfalls erhoben und knöpfte mit einer offiziellen Gebärde seinen Gehrock zu.

»Das klingt sehr nach einem Ultimatum, wenn ich dich recht verstehe?« sagte er mit mühsam verhaltener Erregung.

Ginevra nickte.

»Das ist es auch! Du hast ganz richtig verstanden, mein lieber Generalkonsul! Ich mache den Fortbestand unserer freundschaftlichen Beziehungen von der Gewährung meiner Bitte abhängig! Es ist dir ein leichtes, sie zu erfüllen! Also wenn du es nicht tust, so weiß ich, was ich von allen schönen Reden zu halten habe!«

Der Generalkonsul erhob wie beschwörend beide Arme zum Himmel. Das Monokel fiel ihm klirrend aus dem Auge.

»Aber das grenzt doch beinahe an fixe Idee ...?!«

»Nenne es wie du willst! Es trifft mich nicht! Meine fixen Ideen oder meine Verrücktheit ... das willst du doch sagen? ... besitzen immer noch mehr Daseinsrecht als der Verstand oder die Beschränktheit der meisten Schablonenmenschen, wozu ich mit deiner Erlaubnis auch gewisse Generalkonsuln exotischer Raubstaaten rechne!«

Stenzel gab es bei den letzten Worten einen Ruck.

»Jetzt überschreitest du deine Kompetenzen!« sagte er und traf Anstalten, seinen Gehrock noch etwas fester zu knöpfen, wenn nur die nötige Knopfreihe dagewesen wäre. Vielleicht lag es an der Vergeblichkeit dieses Bemühens, daß er plötzlich sich mit den Fäusten gegen die Stirn trommelte und ein paar heftige Schritte durch die Kajüte machte.

»Also wegen eines Krispien, wegen eines notorischen Müßiggängers und Nichtstuers soll eine schöne Freundschaft und Kameradschaft, ja vielleicht eine ganze Lebensgemeinschaft, ein Bund zwischen zwei wahlverwandten Menschen in die Brüche gehen?«

Stenzels Stimme hatte sich bis zum Schreien gesteigert. Mit einemmal fiel ihm ein, daß das Fenster zum Gärtchen und Park offen stand und Unberufene Zeugen dieser eines Stenzels unwürdigen Szene werden könnten. Dies gab ihm seine Haltung wieder. Er schloß behutsam das Fenster mit dem berühmten Patentverschluß, brachte seinen Gehrock wieder in Ordnung und trat auf Ginevra zu, die noch immer mit gekreuzten Armen und steinerner Medusenmaske dastand.

»Also in Gottes Namen! Was soll ich tun?«

»Ich habe es dir ja bereits auseinandergesetzt! Der Direktor vom Landestheater soll Krispiens Stück spielen!«

»Aber was kann ich dabei machen? Kann ich ihn zwingen, vielleicht wer weiß welchen Unsinn zu spielen?«

Ginevras hohe, schlanke Gestalt schien noch um einen halben Kopf zu wachsen.

»Ich muß sehr bitten, mein lieber Johann Sebastian! Ich stehe für Krispiens Dichtung ein! Genügt das? ... Und im übrigen scheint mir: Ein Generalkonsul Stenzel muß alles machen können, wenn er nur will!«

Stenzels Zornfalte glättete sich. Er streckte seinen Zeigefinger gegen die hoheitsvolle Gestalt aus, die wie aus einer Eisregion in seine Niederung hinabschaute.

»Da hast du wieder recht!« sagte er. »Ein Generalkonsul Stenzel muß alles können! Auch Stücke, die er gar nicht kennt, beim Landestheater unterbringen! ... Aber wenn der Direktor nun trotzdem nicht will? Ich kenne ihn! Dieser Henrici ist ein ziemlich zäher Braten!«

Ginevra zuckte gleichgültig mit den Achseln.

»Dann wird eben desto mehr Feuer druntergemacht!«

»Und wenn er dessenungeachtet nicht weich wird?«

»So müssen andere Mittel und Wege gefunden werden! Das alles ist deine Sache! Darum kümmere ich mich nicht! Wozu bist du der ungekrönte König der Stadt?«

Stenzel lächelte geschmeichelt.

»Aber jetzt übertreibst du ein bißchen!« Plötzlich klatschte er sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Halt! Ich habe einen Gedanken! Da ist dieser Augustin Haller!«

»Vom winkenden Känguruh?«

»Er ist mir verpflichtet! Ich habe ihm einen Dienst erwiesen! Erst neulich! Es hat mich eine Stange Gold gekostet! Aber was tut man nicht für die Kunst! Er ist ein etwas unruhiger Kopf! Aber ein sehr tüchtiger Theatermann! Hat Einfälle! War schon überall, wo Theater gespielt wird! Sogar bei den Hottentotten! Wenn Henrici nicht anbeißt ... Haller macht es! Haller macht alles!«

Ginevra lächelte huldvoll und streckte Stenzel ihre Hand hin.

»Nun, siehst du wohl, mein lieber Generalkonsul! Es geht! Es geht! Wenn man nur den Willen hat!«

Stenzel küßte ihre Fingerspitzen und legte seine andere Hand dazu.

»Und wann wird meine junge schöne Angebetete den Willen haben, das zu tun, was ich ihr schon wiederholt angedeutet und nahegelegt habe?«

Ginevra sah schweigend auf den fiebernden kleinen Mann nieder. Plötzlich sagte sie mit ruhigem, gleichgültigem Ton, als ginge es sie eigentlich wenig an:

»Am Tage nach Onkel Bertholds Premiere!«

Der Generalkonsul glaubte nicht richtig zu hören, sprang aber doch von einem Bein auf das andere.

»Wie war das?« rief er und legte die Hand an das Ohr. »Am Tage nach Krispiens Premiere willst du die Meine werden? Habe ich richtig verstanden?«

»So sagte ich!« erwiderte Ginevra. »Und jetzt kein Wort mehr davon!«

Stenzel tanzte abermals von einem Bein auf das andere. »Ich habe dein Wort! Du hast dich mir in diesem Augenblick versprochen! ... Und wenn es nach mir geht, so findet die Premiere bereits in acht Tagen statt! Henrici muß mürbe werden! Und falls der nicht, der bissige Patron, dann unter allen Umständen Haller! Im Zeichen des Känguruhs wirst du mein, angebetete Ginevra, für den Rest meiner Tage!«

Er lachte auf seine eigentümliche, etwas befremdende Weise in sich hinein. Ginevra war aber zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, als daß sie darauf geachtet hätte.

»Das Känguruh als Wappentier unseres zu gründenden Hausstands scheint mir kein unebener Gedanke!« sagte sie. »Es ist ein sehr originelles Geschöpf, stammt aus der Urzeit der Erde, also so etwa aus deiner Generation, und soll ja auch boxen können!«


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