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16

Olga Heydemann und Ottilie Remus, Helenes Schwestern, waren in Ellerndorf eingetroffen. Die Einladung des Generalkonsuls hatte sie nicht wenig überrascht, da keine von beiden mehr eine Erinnerung an jenes Jugendgelübde in der Fliederlaube bewahrt hatte. Erst die Zeilen des Generalkonsuls riefen es wieder ins Gedächtnis zurück. Eine gewisse Scheu vor dem Wiedersehen mit dem auf so beschämende Weise verlorengegangenen Elternhause sprach dagegen. Den Ausschlag gab schließlich der Umstand, daß doch auch Helene es über sich vermocht hatte, die Stätte ihrer Jugendzeit wieder zu betreten und jetzt schon mehrere Wochen dort zubrachte. Die drei Schwestern hatten sich in den letzten Jahren nur wenig gesehen. Olga lebte in ihrem großartigen Landhaus am Rhein, das der verstorbene Generaldirektor, ihr Mann, ihr als Witwensitz hinterlassen hatte. Ottilie, die mittlere Schwester, war seit langen Jahren nicht mehr aus ihrer schlesischen Gutswirtschaft fortgekommen. Dank Stenzels Einfall, den beide zwar verdreht, aber durchaus seiner würdig fanden, bot sich jetzt eine Gelegenheit, so manches Versäumte nachzuholen und sich einmal richtig miteinander auszusprechen.

Olga Heydemann war eine große, ziemlich üppige brünette Frau, mehrere Jahre älter als Helene, aber im Gegensatz zu ihr noch ohne ein graues Haar, wobei die Frage künstlicher Nachhilfe dahingestellt bleibe. Ihre olivfarbene Haut ließ an italienischen, spanischen oder auch an Zigeunereinschlag denken, dem freilich ihr Temperament gar nicht entsprach. Man konnte sie eher phlegmatisch nennen. Jedenfalls war sie sehr für Bequemlichkeit, vermied jede Art von Aufregung und liebte es, in halb oder ganz liegender Stellung sich dem Genuß ihrer Zigarre hinzugeben. Denn dies war ihre Besonderheit, die sie mit Leidenschaft pflegte, dicke Importen mit monumentalen Bauchbinden zu rauchen.

Balder Heydemann, ihr zweiundzwanzigjähriger Sohn, hatte sie nach Ellerndorf begleitet. Er war Student in höheren Semestern, Literarhistoriker, Germanist, Theaterforscher, und seit mindestens zehn Jahren Dichter und Schriftsteller. Sein Entwicklungsroman »Hammerschläge«, den er mit vierzehn Jahren im Selbstverlag hatte erscheinen lassen, war über den engern Familienkreis nicht weit hinausgedrungen, hatte aber doch in der Lokalpresse der Heimatstadt als »bleibendes Dokument der neuen Jugend« Beachtung gefunden. Sechzehnjährig hatte er dann sein Bekenntnisbuch »Bin ich's? Bin ich's nicht?« hinausgeschleudert, diese »flammenspeiende Lavaeruption eines vulkanischen Genius«, dieses »Fanal in der stickigen Gewitterschwüle unserer abendländischen Weltuntergangsdämmerung«, wie es in der »Quadratur des Zirkels«, einer von gleichaltrigen und gleichgestimmten Mitkämpfern herausgegebenen Zeitschrift kritischen Charakters, geheißen hatte. Seitdem hatte der Dichter geschwiegen und bald darauf auch sein Universitätsstudium aufgenommen.

Balder Heydemann war ein schlanker, ganz helläugiger und weißblonder, albinohafter Ephebe, von dem man nicht begriff, wie er zu seiner tiefbrünetten Mutier oder sie zu ihm gekommen war. Es mußte wohl das Blut des Generaldirektors sein, das entscheidend sich durchgesetzt hatte. »Ich bin eben ganz und gar ein Heydemann!« pflegte Balder von sich zu sagen. »In mir fließt reines nordisches Herrenblut! Eisenhüttenbesitzer! Generaldirektoren! Industriekapitäne! An mir wird es sein, den Schritt zum moskowitisch -mongolischen Kulturkreis hinüberzutun und das blauäugige, blondhaarige Herrenmenschentum meiner Väter mit dem unbedingt erforderlichen Tropfen sozialen Öls in russisch-asiatischer Synthese zu salben. Ich bin Edelkollektivist!« Nicht minder bezeichnend für seine frühzeitige, durchaus skeptische Selbstanalyse war eine andere Äußerung, die Freunde von ihm berichteten: »Ich fürchte, meine Genieperiode liegt hinter mir! Was ich Endgültiges zu sagen hatte, ist in meinen bisherigen Werken niedergelegt! Ich resigniere freiwillig und werde mit den Resten meines Talents irgendein lumpiger Generalintendant oder Chefredakteur!«

Ottilie Remus, die Frau des einstigen Inspektors auf dem Goertzschen Hof und jetzigen Gutsinhabers in einem der fruchtbarsten Kreise Schlesiens, war ein Mädchen von apartem Reiz gewesen. Dunkeläugig, schmal, immer etwas blaß und durchsichtig, das zarte feine Oval des Gesichts mit dem gescheitelten dunkelbraunen Haar wie aus einem Bilderrahmen der Biedermeierzeit geschnitten. Was war von alledem übrig geblieben? Ein verwittertes, verhutzeltes altes Weibchen, bei dem nur eine gewisse Schalkhaftigkeit der noch immer schönen rehbraunen Augen und ein gewisses Etwas in der Haltung des Kopfes, überhaupt eine Art von Noblesse im ganzen Gehaben an vergangene Schönheit erinnerte. Ottilie selbst schien die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war und die ihr besonders im Vergleich mit Helene bewußt werden mußte, nicht weiter tragisch zu nehmen. Sie scherzte selbst über ihr Aussehen als »alte Mumie« und war von einer angenehmen, wenn auch etwas lautlosen Fröhlichkeit.

»Hätten wir uns träumen lassen, daß wir noch einmal hier in unserm Kindergarten unter dem Lindenbaum sitzen und Kaffee trinken und Napfkuchen essen würden?« sagte Ottilie an einem dieser heißen Julinachmittage, mit denen der Einzug des Hochsommers sich ankündigte. Sie saßen alle drei in ihren Korbstühlen um den gedeckten Kaffeetisch im Schatten des alten Lindenbaums, der seine dichtbelaubten Wipfeläste verlangend nach Ginevras Giebelstube ausstreckte. Auf dem frischgemähten Rasen standen hochstämmige gelbe und rote Rosen. Ihr königlicher Duft mischte sich mit dem zärtlichen Parfüm der kreisrunden oder halbmondförmigen Levkojenbeete. Das zarte Lila und Rosa der Levkojen schmiegte sich untertänig unter das hochmütige Purpurrot und Goldgelb der blühenden Rosen. Ein blaßblauer, wie mit einem ganz feinen durchsichtigen Schleier überzogener Sommerhimmel war ausgespannt. Man sah kein einzelnes Wolkengespinst sich abzeichnen. Nur dieser gleichsam körperlose Dunst des Hochsommers zitterte über Garten, Dorf und Feld. Kein Blättchen rührte sich in der herrschenden Windstille. Die Natur schien den Atem anzuhalten. Die Hitze war trocken und ohne Schwüle, lastete nicht, schien gleichsam nachzugeben und unter den Fingern zu zerrinnen, wenn man sie zu fassen glaubte.

Olga hatte sich ihren Korbsessel mit verschiedenen Kissen ausgepolstert und rauchte, malerisch hingestreckt, eine von ihren dicken Upmannzigarren.

»Ich bin eigentlich keine Freundin von derartigen Erinnerungen,« warf sie mit ihrem etwas müden Ton hin. »Ich finde, es stört die Behaglichkeit des Augenblicks, wenn man sich vorstellt, daß man irgendwo seinen Kaffee trinkt, wo einem vor dreißig Jahren der Stuhl vor die Türe gesetzt wurde. Ich sehe nicht ein, warum ich mir so etwas Fatales noch extra zurückrufen soll. Es genügt ja, daß es gewesen ist und daß man darüber hinweggekommen ist! Wir alle drei, Gott sei Dank! Eigentlich hat sich doch keine von uns zu beklagen!«

»Und daß dein Mann nicht mehr da ist?« fiel Helene ein, die in ihre Kaffeetasse starrte.

Olga zuckte mit den Achseln und stieß mächtige blaugraue Dampfkringel aus.

»Gott, ja! Es war natürlich ein harter Schlag seinerzeit! Aber man mußte ja nach menschlichem Ermessen damit rechnen, daß Aribert lange vor mir gehen würde. Er war immerhin dreiundzwanzig Jahre älter als ich und war doch auch schon ein bißchen verbraucht, als er auf die Idee kam, zu heiraten. Na, drücken wir es milder aus: ein ganz klein bißchen ramponiert! Was schließlich kein Wunder ist bei der furchtbaren Arbeit und den ewigen Diners! Generaldirektoren gehören nun einmal in die oberste Gefahrenklasse! Ähnlich wie Schwefelminenarbeiter oder Walzwerkschmiede! Das wissen alle Lebensversicherungen!«

»Warum hast du ihn dann eigentlich genommen?« fragte Helene mit einem mißbilligenden Auflachen.

Olga war so verwundert, daß sie ihren Kopf aus der liegenden Stellung erhob.

»Du bist gut! ... Soll eine arme Gesellschafterin, die bald aus dem Schneider ist, etwa einem Generaldirektor vom Einhornkonzern einen Korb geben, weil er ihr außer seiner Stellung und seinen Millionen auch noch eine Glatze mitbringt und vielleicht auch sonst nicht mehr ganz taktfest ist? Du! Wie denkst du dir das eigentlich? Traust du mir wirklich eine solche Borniertheit zu? Hättest du es etwa getan?«

Sie unterdrückte einen Gähnanfall und ließ ihren Kopf in die Kissen zurücksinken. Ihre Zigarre dampfte wie ein Schlot. Helene rührte mit dem Löffel in ihrem Kaffee. Um ihre Mundwinkel war ein bitterer Zug.

»Ich? ... Ob ich es getan hätte? Mein Gott! Unser Fall war ein ganz anderer! Ich habe Gotthard geliebt! Und er mich!«

»Also freue dich!« gähnte Olga. »Es passiert kaum der Hundertsten! ... Im übrigen hat sich ja Aribert noch ganz nett herausgepaukt! Balder ist doch ein ganz patenter Junge geworden? ... Du! Es gibt Leute, die ihn für ein Genie halten!«

Sie schwieg und kaute an ihrer Upmann. Ottilie lachte geräuschlos in sich hinein. Olga wurde es gewahr und drehte den Kopf ein wenig zu ihr hin.

»Worüber lachst du? Etwa, daß Balder ein Genie sein soll? So etwas kommt doch vor? Na, und wenn nicht, so kann er immer noch Universitätsprofessor werden! Dafür wird es schon reichen! ... Du lachst immer weiter?«

»Entschuldige! Ich habe eine ziemlich lange Leitung! Ich lache noch über deinen etwas ramponierten Aribert! Das drückst du wirklich sehr zartfühlend aus! Ich sehe ihn noch auf eurer Hochzeit! Remus hatte es sich ja nicht nehmen lassen, mitzufahren. Er überragte deinen Zukünftigen mindestens um zwei Köpfe. Von der Schulterbreite gar nicht zu reden!«

Ottilie schwieg und lachte still für sich weiter. Olga schüttelte mißbilligend den Kopf, ohne ihre Stellung zu verändern.

»Es kommt auf die Gehirnsubstanz an, meine liebe Otti, und nicht auf die Schulterbreite!«

»Bei uns auf dem Lande kommt es mehr auf die Schulterbreite an!« kicherte Ottilie.

»Im Punkte Gehirnsubstanz war jedenfalls Aribert deinem Herrn Gemahl über!« bemerkte Olga leicht gereizt. »Er hat sich überhaupt damals bei unserer Hochzeit ziemlich rustikal gebärdet! Wenn keiner mehr über einen Witz lachte ... eine halbe Stunde später lachte Herr Remus!«

»Die lange Leitung!« kicherte Ottilie. »Die lange Leitung! Wir geben uns darin beide nichts nach! Dafür bin ich auch die würdige Mama von fünf Jungens und drei Mädels geworden! Du, meine gute Olli, hast nur ein Junges geworfen! Allerdings ein Genie!«

Olga stieß mächtige Dampfwolken aus.

»Schämst du dich eigentlich gar nicht, meine liebe Otti? Du redest daher, als ob es sich um Schweinezucht handelte!«

»Es schlägt ja doch in dasselbe Fach!« kicherte Ottilie.

»Bist du wirklich so verbauert oder tust du nur so?« äußerte Olga und schloß gelangweilt die Augen. Nach einem Weilchen öffnete sie sie wieder, mit einer leichten Drehung des Kopfes gegen die schweigende Helene.

»Was ist eigentlich mit deiner Ginevra?« sagte sie.

»Ja, was ist mit Ginevra?« pflichtete Ottilie bei. »Wann ist die Hochzeit?«

Helene zuckte unmutig mit den Achseln.

»Welche Hochzeit?«

»Mit dem Generalkonsul! Unserm einstigen gemeinsamen Verehrer aus dem Schulhause vergangenen Angedenkens! Hättest du dir träumen lassen, Lenchen, daß er einmal deine Tochter heiraten wird?«

»Siehst du, das ist auch so ein Fall, meine liebe Lene, bei dem Entrüstung gar nicht am Platze wäre!« nahm Olga das Wort. »Du wirst doch selbst nicht glauben, daß deine Ginevra in unsern guten Hans Stenzel verliebt ist! Sie nimmt ihn, weil er Generalkonsul ist und soundsoviele Schiffe auf See hat und überhaupt wegen seiner Millionen! Und so weiter! Und so weiter! Wer will sie deshalb tadeln? Ich gewiß nicht! Etwa du?«

»Wenn hier jemand etwas zu tadeln hätte, so scheint es mir nur unser Hausherr, Herr Köhler, zu sein?« bemerkte Ottilie und begann wieder zu lächeln.

»Ja, wo steckt der junge Mann eigentlich den ganzen Tag?« fragte Olga mit halb geschlossenen Augen. »Man hört und sieht nichts von ihm! Okkupiert ihn die Wirtschaft so sehr? Es geniert doch beinahe, Gast zu sein, wenn der Gastgeber sich grundsätzlich nicht blicken läßt! Es scheint ihm ein bißchen an den Manieren zu fehlen.«

Helene hatte die Worte ihrer Schwestern wie einen unabwendbaren Platzregen über sich ergehen lassen. Jetzt erhob sie sich und stemmte die beiden Hände auf den Kaffeetisch.

»Ich will euch was sagen, meine lieben Kinder! Ihr mögt euch mokieren, soviel wie ihr wollt! Aber ich mache den ganzen Unsinn nicht mit! Wenn Ginevra und Stenzel partout den wahnwitzigen Streich begehen wollen ... In Gottes Namen! Aber ich reise vorher ab! Jetzt mokiert euch weiter, wenn ihr Lust habt!«

»Hallo! Meine geliebten Tanten!« klang eine weibliche Altstimme aus der Höhe, und Händeklatschen wurde vernehmbar. »Hallo!, Mumpili! Wie unterhaltet ihr euch? Ausgezeichnet? Ja? Also sicher wieder auf Kosten eurer Mitmenschen!«

Ottilie und Helene blickten überrascht an der mit Weinlaub übersponnenen Hauswand empor. Sogar Olga in ihrer Dauersiesta wandte ihre Augen der Ursache des Geräusches zu. Sie brauchte ihren Kopf nur noch etwas weiter in die Kissen zurückzulegen, um geradeswegs in die grüne Wildnis des Lindenwipfels hinaufzublicken. Oben beugte sich Ginevra mit gekreuzten Armen weit über die Fensterbrüstung der Giebelstube. Ihr kupferrotes Haar flatterte ihr um die Stirn.

»Du wirst noch aus dem Fenster fallen!« rief Helene ihr zu und schüttelte den Kopf.

»Im Gegenteil! Ich turne zum Baum hinüber!« gab Ginevra von oben zurück. »Wenn ihr noch etwas wartet, so könnt ihr mich klettern sehen!«

»Kapabel wäre sie dazu!« sagte Helene zu ihren Schwestern und dann wieder zur Höhe gewendet: »Willst du nicht Kaffee trinken? Komm herunter!«

»Ja, auf dem Wege über den Baum!« rief Ginevra herunter.

»Wir haben von dir gesprochen!« rief Ottilie hinauf, indem sie die hohle Hand an den Mund legte.

»So etwas habe ich mir gedacht!« hallte es von oben zurück. »Besser in einen Tigerkäfig zu geraten als in die Hände von Tanten! ... Ich komme gleich!«

Sie schleuderte ihr Haar in den Nacken und verschwand. Ehe noch eine von den drei Frauen sprechen konnte, hörte man Schritte auf dem Gartenweg und Stimmen, die sich näherten. Gleich darauf bogen Stenzel, Jan Wilhelm und Balder Heydemann um die Ecke des Hauses, das sie bis jetzt verdeckt hatte.

Man begrüßte sich. Der Generalkonsul küßte den drei Schwestern in gewohnter Galanterie die Hand. Er war sommerlich hell gekleidet und schien sehr aufgeräumt. Jan Wilhelm drückte Helene die Hand und verbeugte sich mit einiger Förmlichkeit vor ihren Schwestern, schien aber ebenfalls freier als sonst. Balder machte nur eine winkende Handbewegung gegen Tanten und Mutter und ließ sich mitsamt seinem weißen Strandanzug auf eine Gartenbank fallen. Der Schweiß lief ihm in dicken Tropfen von dem unbedeckten Kopf über die Stirn.

»Die Gegend mag ja gewiß sehr nahrhaft sein!« sagte er mit unzufriedenem Kopf schütteln. »Aber landschaftlich ist sie von einer Öde, die ihresgleichen sucht! Nichts als Weizenfelder! Das ist ja zum Sterben! Und dann natürlich diese unvermeidliche Blattpflanze, der man auf Schritt und Tritt begegnet! Wie heißt sie doch gleich?«

»Zuckerrübe!« warf Jan Wilhelm ein.

»Ganz richtig! Zuckerrübe!« wiederholte Balder. »Ist es da zu verwundern, daß wir die große Weltzuckerkrisis haben, wenn selbst hier oben im hohen Norden dieses fade Grünzeug bis zum Überdruß gebaut wird?«

»Wo seid ihr denn eigentlich gewesen?« fragte Frau Heydemann gelangweilt und suchte eine bequemere Lage einzunehmen. Sogar ihre Zigarre war ihr ausgegangen.

»Felder! Felder! Felder!« gähnte Balder. »Und Gräben zum drüberspringen und hineinplumpsen, wenn man nicht aufpaßt! Ein Vergnügen mit Strandschuhen! Herr Köhler hat uns zwei Stunden herumgefahren und herumgeführt! Bei der Hitze! Zum Auswachsen! Ökonomisch-geographisch kann man ja von einem Kuriosum sprechen. Teils Holland, teils Rußland in einer ganz neuartigen Synthese! ... Na, wenn schon! ... Herrschaften! Ich löse mich in meine Bestandteile auf!«

Er blies die Backen auf und stieß langsam Luft aus. Der Schweiß rann ihm in Strömen herunter. Er warf einen unzufriedenen Blick auf seine hellen Tennisschuhe, die ziemlich mitgenommen aussahen, und putzte daran herum. Offenbar hatten sie mit der grünlich pelzigen Flüssigkeit Bekanntschaft gemacht, die man hierzulande Wasser nannte.

»Wie bist du mit dem ganzen zufrieden, Generalkonsul?« fragte Helene, zu Stenzel gewendet. »Hat Herr Köhler sich weiter ausgezeichnet?«

»Schöne Felder!« bestätigte Stenzel. »Sehr schöne Felder! Es sieht nach einer guten Ernte aus! In der Tat! Mein Neffe hat Lob verdient.«

Er sprach ziemlich zerstreut, als ob er auf jemand warte, der nicht da war. Jan Wilhelm machte eine abwehrende Handbewegung.

»Ich bin so unschuldig daran, wie der Mann im Mond, gnädige Frau! In einem Jahr dürfen Sie mich loben! Eher nicht!«

»In einem Jahr!« murmelte der Generalkonsul. »In einem Jahr! ... Wenn die Sichel klirrt ... Wenn die Sichel klirrt ... In einem Jahr ... streicht mein Schifflein durch die Wellen ...«

Er summte leise eine Melodie vor sich hin und begann plötzlich auf seine eigentümliche Weise in sich hineinzulachen. Niemand fiel es in der Verschlafenheit des Hochsommernachmittags besonders auf. Nur Helene fragte verwundert:

»Seit wann bist du musikalisch, Generalkonsul?«

»Wozu trage ich denn den Namen meines großen Paten?« erwiderte Stenzel und hielt die Hand vor den Mund, um nicht losprusten zu müssen, er wußte selbst nicht, warum. Helene musterte ihn von der Seite und schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.

»Fangen Sie bald zu ernten an?« fragte Ottilie zu Jan Wilhelm hinüber, der sich auf die Bank neben den langsam in Schweiß zerrinnenden Studenten gesetzt hatte.

»Raps wird seit heute eingefahren,« sagte Jan Wilhelm. »Roggen kommt nächste Woche dran. Mit Weizen und Gerste warten wir noch etwas.«

»Bei uns in Schlesien lag der Weizen schon,« bemerkte Ottilie. »Ich hatte ja eigentlich nicht fahren wollen. Jetzt grade zur Erntezeit! Aber mein Mann packte mich einfach auf und setzte mich auf die Bahn. Er ist sehr gut zu mir. Bisweilen faßt er mich an wie eine Puppe, die zerbrechen kann. Mich alte Vogelscheuche! Aber ich lasse es mir gefallen.«

Olga lachte plötzlich aus ihrem Halbschlaf auf.

»Manchmal sprichst du wirklich wie ein Kind, Ottilie! Man muß direkt über dich lachen!«

Helene trommelte leise mit der Hand auf den Tisch.

»Ich finde, wir sollten sie eher beneiden, Olga! Sie hat einen Mann, der sie gern hat! Wir nicht!«

Olga entnahm ihrem Etui eine neue Upmann und setzte sie in Brand.

»Ich habe meine Zigarre! Das genügt mir!«

Oben im offenen Fenster der Giebelstube wurde von neuem Ginevras Kopf sichtbar.

»Hallo! Da sind ja auch die Männer!« rief sie und zeigte mit dem Finger in die Tiefe. »Jetzt paßt auf! Jetzt kommt das Kunststück!«

Alle blickten überrascht und interessiert an der Hauswand empor. Selbst Olga blinzelte durch ihre halb geschlossenen Augenlider hinauf. Helene, der eine Ahnung kam, schüttelte beunruhigt den Kopf. Der Generalkonsul klemmte sein Monokel ein und verfolgte mit zunehmender Verwunderung die Vorgänge in der Höhe.

»Seht ihr das Plättbrett?« rief Ginevra hinunter und schüttelte ihre rote Mähne, daß es wie Flämmchen im Sonnenlicht durcheinander züngelte. »Ich schiebe es jetzt zum Baum hinüber! Es wird grade bis zu dem dicken Ast drüben reichen!«

Das angekündigte Plättbrett erschien in der Fensteröffnung und schwankte, von Ginevras beiden Fäusten gelenkt, zu dem nahen Lindenwipfel hinüber.

»Teufel! Wenn sie ausläßt und das Möbel heruntersaust, sind ein paar von unsern Köpfchen hin!« rief der Student und sprang, ungeachtet des damit verbundenen neuen Schweißausbruchs, in einem mächtigen Satz auf den Rasen hinüber, wo er außer Schußweite war. Aber seine entschlossene Maßnahme erwies sich als unnötig. Die sportgestählten Hände Ginevras zielten fest und sicher zu dem etwa in gleicher Höhe gelegenen Astgelenk hinüber, das sie ins Auge gefaßt hatte. Das Plättbrett, zuletzt noch etwas schaukelnd, landete genau an der ausersehenen Stelle drüben im Lindenwipfel und bildete somit eine Art von Laufsteg zwischen ihm und der Fensterbrüstung. Ginevra rückte und probierte noch ein paarmal daran herum, bis sich nichts mehr rührte und alles festsaß.

Bei den Zuschauern unten begann die bisherige Verwunderung und Spannung sich in Erregung zu verwandeln. Besonders der Generalkonsul hüpfte von einem Bein auf das andere, ohne zunächst Worte finden zu können. Aber dann brach es sich doch Bahn.

»Wollen wir das dulden?« ächzte er. »Wollen wir das dulden? Das ist ja kompletter Selbstmord! Ich hätte deine Tochter für ernsthafter und besonnener gehalten!«

Die letzten Worte waren an Helene gerichtet, die erschrocken in die Höhe starrte.

»Es muß jemand hinauf und sie mit Gewalt zurückhalten!« stammelte Stenzel und schwippte abwechselnd mit der rechten und mit der linken Hand.

Helene winkte heftig ab.

»Laßt sie tun, was sie will!« rief sie Stenzel und den andern halblaut zu. »Stört sie jetzt nicht! Sonst bricht sie sich wirklich noch das Genick! ... Ich kenne sie! Sie ist nicht zu bändigen, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hat! ... Sie ist gewandt wie eine Katze! Es wird nichts geschehen!«

Sie brach ab, setzte sich auf die Bank und stützte den Kopf in die Hände, um das Kommende nicht mitansehen zu müssen. Es flimmerte ihr vor den Augen. Sie neigte sehr zu Schwindel und mußte an sich halten, damit es ihr nicht übel wurde. In diesem Augenblick hätte sie Ginevra braun und blau prügeln können.

»Wenn ich nur auf den Baum könnte!« schrie der Generalkonsul und rang die Hände. »Wenn ich nur auf den Baum könnte!«

Ginevra stand jetzt auf der Fensterbrüstung und beugte sich nieder, um noch einmal die Festigkeit des Laufbretts nachzuprüfen. Sie hatte offenbar den Angstschrei Stenzels vernommen.

»Immer herauf auf den Baum!« rief sie, auf der Fensterbrüstung stehend, und klatschte in die Hände. »Hallo, ihr Herren der Schöpfung! Wer von euch empfängt mich drüben im Lindenbaum?«

Sie hatte die Arme wie eine Seiltänzerin über sich erhoben und neigte herausfordernd den Kopf in die Tiefe.

»Ich werde den Teufel tun!« rief der Student, vorsichtshalber sich noch einen Schritt weiter zurückziehend, und stieß eine verachtungsvolle Lache aus.

»Also wer breitet mir hier oben seine Arme entgegen?«

»Ich!« klang es von unten zur Höhe hinauf. Fünf Köpfe wandten sich gleichzeitig Jan Wilhelm zu. Der junge Mann hatte im Nu sein Jackett abgeworfen, war mit einem Satz an dem blitzgespaltenen Stamm des Lindenbaums, ergriff im Luftsprung einen der untern mannesstarken Äste, während er mit den Beinen baumelnd den Stamm erhaschte und umklammerte, und stemmte sich mit einem kräftigen Klimmzug, dem die Beine nachhalfen, zu dem ausersehenen Ast empor.

Ginevra hatte ihn unter dem Lindenbaum verschwinden sehen und stieß einen schnalzenden Ermunterungsruf aus, wie man ihn von dahinsprengenden Zirkusreiterinnen hören kann. Eben wollte sie ihren Fuß auf das Laufbrett zwischen Fenster und Baum setzen, als sie in der Baumkrone gegenüber die Äste knacken hörte und Jan Wilhelm von Ast zu Ast emporklettern sah, bis er hoch oben den Punkt erreicht hatte, wo das hinübergeschobene Bügelbrett im Astwerk ruhte. Die Zuschauer unten starrten mit angehaltenem Atem zu der ziemlich schwindligen Höhe empor. Niemand wagte einen Ton von sich zu geben, der Ginevra aus ihrer Traumwandlerstellung hätte in die Tiefe reißen können. Sie stand mit dem einen Fuß auf dem Laufsteg, hatte den andern noch auf der Fensterbrüstung und wartete, bis die durch Jan Wilhelms Kletterbewegung ins Schütteln geratene Baumkrone und das sichtlich schwankende Brett wieder zur Ruhe gekommen sein würden.

So standen sich die beiden Menschen ein paar Sekunden Auge in Auge gegenüber, der junge Mann in der Lindenkrone, mit den Fäusten das eine Ende des Brettes umklammernd und unterstützend, und auf der andern Seite der Planke, halb schon auf sie hinausgetreten, halb noch im Fensterrahmen, das junge Mädchen mit emporgeworfenen Armen, den Kopf umflossen von dem kupferroten Gewoge ihres Hexenhaares.

Ein paar Sekunden so. Dann zog Ginevra auch den andern Fuß nach und stand frei auf der Planke. Niemand unten rührte sich. Selbst der ewig zapplige Generalkonsul war zur Bildsäule erstarrt. Ginevra setzte, immer in die Luft starrend, mit den Armen balancierend, im Seiltänzerschritt, einen Fuß vor den andern und überquerte die schmale federnde Planke über dem Abgrund in wenigen, wie eine Ewigkeit sich dehnenden Augenblicken. Jan Wilhelm saß rittlings auf einem Nachbarast, das jenseitige Ende des Laufstegs noch immer fest umklammernd. Er fühlte, wie es unter den Seiltänzerschritten Ginevras in seinen Händen zitterte und bebte. Er wußte, wenn es nur um einen Zentimeter rutschte, so stürzte sie hinab. Seine Finger krampften sich und umspannten das Brett. Seine Zähne waren aufeinandergebissen. Noch drei Schritte ... zwei Schritte ... noch ein Schritt ... Sie war im Geäst des Baums! Es konnte nichts mehr geschehen! Er ließ die Planke los, breitete die Arme aus. Sie schnellte sich wie eine Katze heran, warf sich hinein. Die grüne Wildnis des Lindenwipfels, in dem schon vor zweihundert Jahren Vogelpaare genistet und gesungen hatten, umfing sie in ihrem Schoß.

Unten erklang lebhaftes Händeklatschen. Es rührte von Balder her, der auf seinem Beobachterposten mit steigender Begeisterung die Szene verfolgt hatte.

»Prima! Primissima!« rief er zu Mutter und Tanten hinüber. »Das nennt man Körperkultur! Das sind Wege zu Kraft und Schönheit! In eurer Generation hätte das nicht leicht einer zuwegegebracht! Ganz prima! Prima!«

»Warum hast du es dann nicht selbst unternommen?« spöttelte Ottilie. »Der Baum stand ja da! Der Weg war ja frei!«

Der Student zuckte gleichmütig mit den Achseln.

»Erstens wollte ich Herrn Köhler aus bestimmten Gründen den Vortritt bei Kusine Ginevra lassen. Und zweitens bezogen sich meine Worte überhaupt nicht auf das bißchen Kletterei. Das hat man schließlich in der Schule gelernt. Gemeint war natürlich das Seiltänzerstückchen von Ginevra. So etwas will gekonnt sein! Ich zolle ihr allerhöchst meine Anerkennung!«

Er klatschte von neuem mit erhobenen Fingerspitzen zu dem Lindenwipfel hinauf, in dessen grüner Dämmerung man nicht viel von den beiden oben befindlichen Menschen unterschied. Der Generalkonsul war inzwischen langsam aus seiner Erstarrung erwacht. Sein erstes Gefühl war das der Erregung, ja der Entrüstung über das, was ihm da angetan worden war. Er rang zornbleich nach Worten.

»Du hättest deine Tochter besser erziehen sollen!« stammelte er endlich, zu Helene gewendet.

»Mein lieber Johann Sebastian! Darüber steht dir kein Urteil zu!« entgegnete Helene sehr entschieden. Sie hatte sich von ihrem Schreck so ziemlich wieder erholt und war kriegerisch gestimmt. Im Grunde war sie ebenso ärgerlich auf ihre Tochter wie Stenzel. Aber die saß oben auf dem Baum und war vorerst unerreichbar. Der Funke sprang also auf den nächsten Blitzableiter hinüber, der da war. Es war Stenzel.

»Nein! Es steht dir kein Urteil darüber zu!« wiederholte sie und sah den Generalkonsul herausfordernd an. »Wenigstens erkenne ich das Urteil nicht an! Was ich selbst darüber denke, ist meine Sache! Dafür bin ich ja auch ihre Mutter!«

»Du gibst mir also im Grunde deines Herzens recht!« lenkte der Generalkonsul ein. »Das genügt mir! Mehr brauche ich ja nicht zu wissen!«

»Kinder! Vertragt euch!« rief Olga von ihrem Lager zu den beiden hinüber. »Wir sind doch nicht hergekommen, um uns wegen einer so lächerlichen Geschichte miteinander zu streiten!«

»Da hat sie wieder recht!« bestätigte Stenzel mit wiedergefundener Haltung und richtete seinen ausgestreckten Zeigefinger auf Olga. »Deine Schwester Olga ist eine kluge und vernünftige Frau! ... Und ich ... ich bin ein unverbesserlicher alter Esel, daß ich mich habe hinreißen lassen!«

Er hielt Helene die Hand zur Versöhnung hin. Sie schlug nach einem Moment des Zögerns ein und sah dem Jugendfreund bedeutungsvoll ins Gesicht.

»Wir zwei alten Menschen sollten wirklich etwas vernünftiger sein und die jungen Leute ihren Weg gehen lassen!«

Er verzog etwas säuerlich den Mund und sagte dann wie ablenkend:

»Übrigens war es in der Tat ein Bravourstück, was deine Tochter sich da geleistet hat! Dein Neffe Balder hat durchaus recht! Er ist ein gescheiter junger Mann! Eine Leistung muß man anerkennen, auch wenn sie sonst nicht zu billigen ist! Man soll überall zu lernen suchen! Das ist mein Grundsatz im Leben gewesen!«

»Du wirst es doch nicht am Ende nachmachen wollen, Generalkonsul?« bemerkte Helene und lachte.

»Das käme auf den Versuch an!« erwiderte Stenzel, indem er bedeutsam den Zeigefinger erhob. Helene schüttelte den Kopf.

»Jetzt bin ich nur neugierig, wann die beiden herunterkommen werden!«

»Ganz richtig!« rief der Generalkonsul und klatschte sich mit der Hand gegen die Stirn. »Deine Tochter und mein Neffe sitzen ja noch oben auf dem Baum! Das hätte ich beinahe vergessen!«

In diesem Augenblick wurde es in dem Lindenwipfel lebendig. Äste knackten. Welke Blätter rieselten herab. Die Baumkrone schüttelte sich. Jan Wilhelm erschien zuerst, von Ast zu Ast absteigend, einen Schritt über ihm folgte Ginevra, indem sie sich mit den Händen herunterließ. Der junge Mann sprang vom untersten Ast auf den Boden und reichte Ginevra die Hand. Sie winkte ab und sprang in Kniestellung hinunter.

»Guten Morgen, meine Herrschaften allerseits!« rief sie und richtete sich auf. »Ich hoffe, nicht allzuviel Anstoß erregt zu haben! Bist du böse, Mumpili? Oder ihr, meine lieben Tanten? Oder gar du, werter Freund und Generalkonsul? Es war dir durchaus unbenommen, mich oben im Baum zu empfangen! Wenn statt dessen dein Neffe kam, so war das nicht meine Schuld!«

Stenzel verbeugte sich etwas steif.

»Es schlägt ja nicht so ganz eigentlich in mein Fach, auf Bäume zu klettern! Aber du hast recht, meine liebe Ginevra! Ein Generalkonsul Stenzel hat alles im Leben gekonnt! Er wird auch das noch können! Der Wille kann Berge versetzen! Ich hoffe, es dir in einiger Zeit zu beweisen!«


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