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Der Generalkonsul zog seine Uhr. Es war fünf Minuten nach halb zwölf. Seine Augen hafteten auf dem Zifferblatt. Halb zwölf hatte er noch auf dem Turm der nahen Sankt-Gudula-Kirche schlagen hören. Also hatte dieser Traum, in den ein ganzes Menschenleben wie in eine Konservenbüchse gezwängt gewesen war, höchstens ein paar flüchtige Minuten gedauert. Aber was war das? Der Sekundenzeiger bewegte sich nicht von der Stelle. Er drückte die Uhr an seine Ohrmuschel, lauschte auf den geheimen Pulsschlag des Werkes. Nichts rührte sich. Soviel er es hin und her schüttelte: Das tickende Herz da drinnen stand still. Um fünf Minuten nach halb zwölf war es stehengeblieben. Hatte er nicht in dem gleichen Augenblick sein eigenes Todesdatum vorausgeträumt? Da leuchtete sie wieder auf, wie von einer glühenden Feuerzange ins Hirn gestichelt: diese

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Also heute übers Jahr! Er sah die Anzeige mit den vielen Siegeln zum Greifen deutlich vor sich. Vielleicht lag sie wirklich in dem Geheimfach obenauf. Seine Hand zuckte nach der Feder, die es öffnete. Aber das war ja Wahnsinn! Er zog die Hand mit einem jähen Ruck zurück, als habe er an einen überstarken Magneten gefaßt. Es gab Leute, die von Wahrträumen fabelten! Wenn es sich nun um solch einen Wahrtraum handelte! Das stumme Zifferblatt der Taschenuhr grinste ihn an wie ein Leichengesicht, das er einmal im Keller einer Anatomie gesehen hatte. Etwas Kaltes kroch ihm über den Rücken. Er schüttelte sich.

Nein! Das durfte nicht sein! Generalkonsul Stenzel mußte Ruhe und Haltung bewahren, auch dem Tode gegenüber. Er knöpfte seinen Gehrock fester. Wenn er alle seine Besucher so zu empfangen pflegte, warum nicht auch jenen letzten so? Heute in einem Jahr! Vormittags fünf Minuten nach halb zwölf! Traum und Wirklichkeit hatten da hübsch zusammengearbeitet. Wo fing die Wirklichkeit an? Wo hörte der Traum auf? Träumte er nicht vielleicht noch immer weiter? Träumte er nicht vielleicht, daß er dies alles nur träume? Oder träumte er, daß er wach sei? Wo war da noch ein Unterschied? Vielleicht ist beides das gleiche, dachte er bei sich und zupfte sich am Ohr.

Das schien nun doch die Wirklichkeit zu sein. Und alles andere war Traum gewesen. Aberglauben! murmelte er. Atavistische Anwandlungen! Für einen Großkaufmann und Generalkonsul beschämend genug! Noch dazu, wenn er am hellen Vormittag über seiner Arbeit einschläft.

Stenzel erteilte sich selbst eine Rüge und wollte sich wieder seinen Papieren zuwenden, als sein Blick von neuem auf die goldene Zylinderuhr fiel, die er vor sich auf den Schreibtisch gelegt hatte. Ihre Zeiger standen noch immer still. Es war fünf Minuten nach halb zwölf, wie vorhin. Also das war greifbar und unwiderleglich! In dem gleichen Augenblick, wo er sein Todesdatum geträumt hatte, war die Uhr stehengeblieben. Es war unmöglich, diese Tatsache aus der Welt zu schaffen. Bleiben denn sonst Uhren in Verbindung mit Träumen stehen? Stenzel erinnerte sich nicht, je davon gehört zu haben. Man konnte diese Verbindung zufällig nennen. Man konnte von Aberglauben sprechen. Aber dem Phänomen kam man damit nicht bei. Es war wie mit Gespenstern: Man kann danach schlagen, greifen, schießen, es nützt alles nichts. Das Phantom bleibt, wie es ist, unverwundbar, unfaßbar und dennoch grauenhafte Gegenwart.

Johann Sebastian Stenzel wußte wie durch einen Akt der Intuition mit einemmal, daß ein solches Phantom in sein Leben getreten sei und bis zu seinem vermutlichen Ende, heute in einem Jahr elf Uhr fünfunddreißig Minuten vormittags, nicht mehr von ihm weichen würde. Der Mann, von dem es hieß, daß er sich niemals Zeit gelassen habe, Zeit zu haben außer für die Arbeit, vielleicht weil ihm Zeit als ein über alle Begriffe kostbares Gut erschienen war, das nur für das Höchste eingesetzt werden dürfe, erkannte plötzlich im Blitzstrahl des Augenblicks, daß eben diese Zeit jetzt im Begriffe stand, sich für immer von ihm zu wenden, wie eine schöne treulose Frau, die man allzusehr nur als Heilige behandelt hat.

Der Generalkonsul war nicht nur ein unverbesserlicher Grübler. Er war auch ein Mann des kurzen Entschlusses und der schnellbereiten Tat, sobald es des Grübelns genug geworden war. Ja, vielleicht hatte er seine großartige Laufbahn, die den Dorfschulmeisterssohn auf den Gipfel wirtschaftlicher Macht geführt hatte, eben dieser seltenen Verbindung von zerfasernder Überlegung und besinnungslosem Zuspringen zu verdanken. So kann man chemische Stoffe in der Retorte lange miteinander erhitzen und vermengen, ohne daß etwas geschieht. Aber dann ist nur ein geringfügiger Zusatz eines artfremden Elements, vielleicht auch nur die kleinste Erhöhung des Drucks nötig, und die Entladung ist da.

In Stenzels Leben waren manche solche Augenblicke gewesen. Zum Beispiel als er in jener allgemeinen Wirtschaftskrise das Aktienpaket erworben hatte, das ihm die Kontrolle über die Schwedisch-Baltische Schiffahrtsgesellschaft vormals Wiedemann und Hopf gesichert hatte. Auch in der Angelegenheit der oberschlesischen Montangruppe hatte er wochenlangem Grübeln und Überlegen den Willensakt einer Sekunde folgen lassen, indem er wie in einem Zustand hellsichtiger Blindheit seine Unterschrift unter das entscheidende Schriftstück setzte.

Aber was wollte das alles gegen den Augenblick bedeuten, der sich soeben abgespielt hatte! Vielleicht war es nötig, noch einmal die Tatsachen in unerbittlicher Nacktheit zu gruppieren, um dann die endgültigen Schlüsse daraus zu ziehen. Da waren die beiden Briefe von Mutter und Tochter, von Helene und Ginevra van Düren. Sie lagen in Augennähe vor ihm auf dem Schreibtisch. Damit hatte es begonnen. Dann war dieser Halbschlaf über ihn gekommen, dieses Traumwachen am hellichten Vormittag mitten in der Bürozeit, im Dampf der Arbeit. Nummer zwei. Was war in diesem Zustand geschehen? Er hatte geträumt, daß er mit neunundfünfzig Jahren sterben werde. Nummer drei. Dann war er aufgewacht und hatte entdeckt, daß während des Traumes seine Taschenuhr stehengeblieben war. Um elf Uhr fünfunddreißig Minuten vormittags. Nummer vier. Konnte ein Zweifel sein, daß ein geheimer und doch irgendwie durchsichtiger Zusammenhang zwischen dem allen bestand? Also Generalbilanz: In einem Jahr war es zu Ende.

Der Generalkonsul erhob sich, atmete tief auf und reckte seine Arme. Leben! Leben! Noch war es sein! Ein volles Jahr gehörte noch ihm! Oh! Er wollte diesen Becher auskosten bis zum letzten Tropfen! Was ist die Zeit? Es ging ihm durch den Kopf, daß gewisse Philosophen sich mehr als skeptisch über den Begriff der Zeit geäußert haben sollten. Ob ein Jahr ... Ob zehn Jahre ... Ob hundert, ob tausend Jahre ... Rauchwölkchen, die zwischen den Fingern zergehen. Könnte man sie auf die Goldwaage legen, alle diese Rauchwölkchen, die Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende, es ließe sich auch nicht ein Millionstel Milligramm Unterschied zwischen ihnen ablesen. Solches und Ähnliches hatten die Philosophen behauptet, wenn man den Berichten darüber glauben durfte. Er hatte in der Tiefe seines Herzens nie viel von Philosophie gehalten. Es war ja doch alles nur Zeit- und Kraftverschwendung. Aber hier war ein Punkt, wo sie recht zu haben schien. Wenn tausend Jahre nicht mehr Gewicht besitzen als ein Jahr, warum sollte dann ein Jahr nicht ebensoviel wiegen können wie tausend Jahre? Es kam nur darauf an, welchen Inhalt man ihm gab.

Johann Sebastian Stenzel hatte seine volle Ruhe und Klarheit wiedergewonnen. Er drückte auf den Knopf seines Fernsprechers. Bauhofer meldete sich sofort.

»Es sind Telegramme aufzugeben, Herr Bauhofer. An meinen Neffen in Willomin. An Frau Professor van Düren, Berlin. An Fräulein Ginevra van Düren, hier. Kommen Sie sie in fünf Minuten holen. Lassen Sie sie von Fräulein Mathias nach dem Amt hinübersprechen. Dringend. Ich schreibe sie inzwischen nieder. Und dann machen wir die Bude zu. Ich gebe Ihnen bis morgen frei. Feiern Sie meinen Geburtstag und belasten Sie mich mit den Spesen bis zu zwanzig Mark.«

Am andern Ende der Leitung legte einer, mit mäßig gesträubten Haaren und etwas schlotternden Knien, den Hörer auf die Gabel. Es war Bauhofer. Sein Weltbild – eben noch übersichtlich wie ein guter Kontoauszug – hatte plötzlich einen Riß bekommen, der sich wie eine feine Zickzacklinie durch die saubere Zahlenreihe schlängelte und die ganze Rechnung in Unordnung brachte.


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