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12

Berthold Krispien, der Dichter, wie Helene ihn genannt hatte, war ein entfernter Vetter der drei Schwestern Goertz, stammte aus dem gleichen begüterten Stadthaus wie deren Mutter und hatte mit ihnen und mit Stenzel eine gemeinsame Schulzeit verlebt. Er war ein verträumter, in sich gekehrter, dabei lang aufgeschossener Junge gewesen, dem immer irgend etwas gefehlt hatte. Verwandte und Bekannte vermuteten einen geheimen Schwindsuchtskeim, der früher oder später einmal aufgehen werde. Man prophezeite ihm kein langes Leben. Nur zu begreiflich, daß die Eltern, in steter Sorge um den einzigen Sohn, ihn verwöhnten, alle seine Wünsche erfüllten und ihn, trotz merklichen Kopfschüttelns der sehr praktisch gearteten Umgebung, seinen von Kindheit an vorgezeichneten Weg gehen ließen. Es war der Weg eines Dichters, noch ganz im romantischen Sinn, wie der frühreife Knabe ihn sich aus wahllos verschlungenen Büchern zusammengelesen hatte. Ein über mancherlei Wissensgebiete ausgreifendes Hochschulstudium vollendete, was die Schule vorbereitet hatte: Universalität ohne festen und zusammenhaltenden Wesenskern. Berthold Krispien schrieb Gedichte, phantastische Novellen, philosophische Dramen. Ein Epos in Versen, »Merlin«, hatte viel Beachtung gefunden und ihm eine gewisse Stellung abseits des Literaturmarktes geschaffen. Aber es genügte doch nicht, seinen Namen über die engere Gemeinde der Eingeweihten hinauszutragen. Klingende Münze war auf diesem Wege nicht zu gewinnen. Das mochte angehen, solange der Wohlstand des Hauses vorhielt. Als die Eltern ziemlich betagt starben, war schon viel davon abgebröckelt. Es war ein rettender Einfall von dem weltunkundigen Dichter, vielleicht der einzige praktische seines Lebens, mit einem Teil der ihm verbliebenen Barschaft sich das Häuschen neben der Kirchhofsmauer in Ellerndorf zu kaufen und bald dorthin überzusiedeln. Er hatte immer eine Art von Rousseauschem Naturideal verfochten, dem nachzueifern sei; was ihn freilich nicht hinderte, seine durchaus großstädtische, zigeunernde Lebensweise auf das Land zu verpflanzen und die Verrichtungen von Tag und Nacht auf eine ganz dorfwidrige Art durcheinanderzumengen, ja umzukehren.

Was Wunder, daß ihm in Ellerndorf sehr schnell die Rolle des Sonderlings, der Nachteule, zufiel, mit der die Dorfjugend ihren Spott trieb. Zum Glück hatte er noch aus dem Hause seiner Eltern ein Stück Familieninventar mitgenommen: Fräulein Florentine, eine kleine, bewegliche, messerscharfe Person, obwohl sie jetzt schon an die Siebzig ging. Dies war Krispiens Hausdrache, wie Fehlauer sie betitelt hatte. Man hätte sie, nicht ihrer Figur, aber ihrem Wesen nach, auch mit einer stets kampfbereiten, herumsummenden Hornisse vergleichen können, die dem Dichter die Wespenschar der Dorflümmel vom Leibe hielt. Es war nicht ganz klar ersichtlich, ob sie ihren Herrn, den im stillen noch immer so genannten »jungen Herrn«, mehr belächelte oder vergötterte. Vermutlich das letztere. Aber dann verstand sie jedenfalls ihre Gefühle gut zu verstecken und schien überhaupt lieber gefürchtet als geliebt werden zu wollen. Man begreift, daß Fräulein Florentine im Grunde eine brave, ehrliche Haut war, die sich für ihren viel und auch von ihr bespöttelten Dichter nötigenfalls hätte schinden und vierteilen lassen.

Krispiens elterliche Erbschaft war den Stürmen des großen Krieges und den Umwälzungen der nachfolgenden Jahre bis auf einen mäßigen Rest zum Opfer gefallen. Dieses Trümmerstück gerettet zu haben, war das unbezweifelbare Verdienst von Fräulein Florentine, die den zeitfremden, saumseligen Dichter gedrängt hatte, eine gewisse Summe als Notpfennig in goldbeständiger ausländischer Währung anzulegen. Es war noch in letzter Stunde geschehen. Gute Götter hatten auch hier wieder, wie einst bei dem Kauf seines Häuschens, ihre Hand über Berthold Krispien gehalten. Dank ihnen – um nicht zu sagen, dank seiner Florentine – konnte der Dichter ein zwar bescheidenes, aber doch sorgenloses Zigeunerwesen in Ellerndorf treiben und sein Rousseausches Lebensideal in einer sehr freien Krispienschen Umdichtung verwirklichen. Dabei hatte die stählerne Seebrise, die der unvermeidliche Nordnordwest über das meeresnahe Land dahintrug, die ehedem vielleicht angegriffene Lunge des Dichters gekräftigt und ein leidliches Gleichgewicht seines doch immer schwankenden Nervensystems bewirkt.

Das Krispiensche Heim befand sich, wie schon gesagt wurde, unweit der Kirche und dicht an der Friedhofsmauer. Es war ein einstöckiges, weiß übertünchtes Fachwerkhaus mit rotem Ziegelunterbau und einer steilen Dachpfannenhaube, deren spitzgiebelige Seitenfronten ein paar Oberstufen enthielten. Hier hauste der Dichter, von spät nach Mitternacht bis gegen Mittag in der Schlafstube gen Norden, von Mittag bis spät nach Mitternacht gegenüber in der Bibliotheks- und Arbeitsmansarde, die nach der Sonnenseite lag, aber durch die uralten Eschen, Ulmen und Trauerweiden des dicht vor ihren Fenstern träumenden Dorfkirchhofs vollständig in Schatten gehüllt wurde, wenigstens im eigentlichen Sommer. Krispien hatte, wenn er am Fenster seiner Arbeitsstube stand, die grüne Wildnis der Gräber, das Gewucher von Efeu, den Wirrwarr von Steinen, Tafeln, Säulen, Kreuzen, Gittern gradewegs unter sich. Es war ein beliebtes Wort von ihm, daß bei seinem Begräbnis niemand sich die Stiefel werde zu beschmutzen brauchen, so nahe werde man es haben.

Zu ebener Erde, also im eigentlichen Hauptgeschoß, lag rechts vom Eingangsflur eine ganz geräumige Wohnstube, deren beide Fenster ebenfalls auf den Gottesacker gingen. Sofa, Tisch, Stühle, Kommode, Glasschrank in hellem Kirsch oder Birnbaum: alles, wie auch die Bildchen und Rähmchen an den Wänden, Hausrat aus Großvater- und Urgroßvatertagen, die man unter dem immer mehr sich erweiternden Sammelbegriff der Biedermeierzeit zusammenfaßt, indem man die nachmärzliche Krinolinenzeit bereits dazurechnet.

Dies war der Raum, in welchen Frau van Düren und ihre Tochter Einlaß fanden, als ihnen nach längerer Handhabung des schweren schmiedeeisernen Türklopfers endlich von Fräulein Florentine aufgetan wurde. Man hatte ihre scharfe Stimme bereits irgendwoher aus den Hintergründen gellen hören, wie das ferne Gekläff eines geärgerten Spitzes. Türen waren geöffnet und geschlossen worden. Schlüssel klapperten.

»Hörst du das Kettengerassel?« raunte Ginevra und faßte den Arm ihrer Mutter. »Der Drache naht! Mut, Mumpili! Ich halte meine Hand über dich!«

»Ach! Die tut nur so!« meinte Frau van Düren. »Ich kenne die Art! Hunde, die bellen, beißen nicht! Laß mich nur reden! Ich werde schon mit ihr fertig!«

Man hörte jetzt das Gekläff und Gefauch aus nächster Nähe hinter der annoch verschlossenen Tür.

»Ihr krät'schen Jungens!« belferte die Stimme. »Verflucht'ge! Ich will euch ...!«

Ein Hausschlüssel kreischte im Schloß. Die Tür wurde mit einem jähen Ruck aufgerissen. Ein großer Blechtopf mit plantschendem Wasser wurde im Griff einer hocherhobenen Hand sichtbar. Helene und Ginevra prallten nach beiden Seiten auseinander. Hinter dem Arm mit dem Wassertopf zeigte sich ein puterroter grauhaariger Wuschelkopf ähnlich dem eines Bologneser Hündchens. Er gehörte Fräulein Florentine, die jetzt offenbar ihren Irrtum erkannte, denn sie ließ Arm, Hand und Topf sinken, und sagte beinahe wie entschuldigend:

»Ach so ...? Das ist was anderes!« Um aber sofort zu neuem Angriff auszuholen. »Was soll sein? ... Hier ist niemand zu sprechen!«

Damit hatte sie die Tür wieder zuschlagen wollen, aber Frau van Düren war schon mit einem schnellen Schritt auf der Schwelle.

»Wir sind die Kusine und die Nichte von Herrn Krispien,« sagte sie und hatte einen begütigenden Ton wie zu einem zähnefletschenden kleinen Köter. »Wir sind extra wegen meines Vetters herausgekommen. Sie werden doch nicht wollen, daß wir wegfahren, ohne ihn gesehen zu haben. Es würde ihm sehr leid tun, wenn er nachher davon hört!«

»I! Das ist ja alles man Rederei! Das ist doch bloß, um Leute dumm zu machen! Denken Sie, ich bin dwatsch?«

Was die kleine spitze Person kläffte, war nur noch ein Rückzugsgefecht. Ihre Hand wies auf die Stubentür rechts. Gleich darauf war sie im Hintergrund verschwunden.

Und jetzt saßen Helene und Ginevra in der niedrigen Wohnstube mit dem Hausrat aus Urgroßvaters Tagen und mit den kleinen weißgefaßten Fensterscheiben, durch die man über eine niedrige Holzplanke die Kreuze und Steine des Kirchhofs unter den alten hohen Bäumen dämmern sah. Es war mit einemmal sehr still nach dem eben vollführten Gelärm.

»Ich finde, es riecht ein bißchen nach Lavendel?« flüsterte Ginevra, mit einem halb scheuen, halb komischen Blick in die Runde. »Meinst du nicht auch? Es läuft mir beinahe über den Rücken! Als müßte im nächsten Augenblick der Geheimde Rat Goethe über die Schwelle treten! ... Hältst du denn wirklich was von Onkel Berthold als Dichter?«

Frau van Düren nickte gedankenversunken.

»Ich habe einmal große Stücke auf Onkel Berthold als Dichter gehalten!«

»Heute nicht mehr?«

»Ich habe eigentlich kein Urteil mehr. Mir fehlt der Zusammenhang. Vielleicht hat Onkel Berthold, wie er jung war, mehr versprochen, als er nachher hat erfüllen können. Aber trifft das nicht auf die meisten von uns Damaligen zu?«

Ginevra richtete sich auf. Ihr Gesicht bekam wieder den maskenhaften Zug.

»Sagst du das auch von Vater?«

»Nein! Den nehme ich natürlich aus! Das müßtest du doch wissen! Das Werk deines Vaters steht hoch über seiner Zeit! Dein Vater hat alles erfüllt, was er versprochen hat! Und mehr! Darum haben sie ihn auch verlästert und totgeschwiegen, wo sie konnten!«

Frau van Düren wischte sich eine Träne des Trotzes aus den Augen. Ginevra, in einer plötzlichen Regung, legte den Arm um sie.

»Mumpili! Du darfst das nicht! Es ist Gift für dich! ... Aber weißt du, wenn ich an unsere jungen Leute denke, an meine Generation ... ich kenne ja doch meine Generation! Ich gehöre ja schließlich selbst dazu! Was wir uns für Bäume auszureißen getrauen ...! Was wir Blaues vom Himmel herunter versprechen ...! Und was wird herauskommen?«

Helene van Düren hatte ihre Laune und ihren trockenen Humor wieder.

»Eine große Pleite wird herauskommen! Ihr ... ich spreche nicht von dir ... aber deine Altersklasse, die hat es mit dem großen Mund! Der wird aufgerissen, ellenweit! Man könnte auch noch ein stärkeres Wort dafür finden.«

Ginevra lachte kurz auf.

»Die große Schnauze willst du sagen? ... Aber überlege dir, Mumpili, was bleibt uns andres übrig? Ist denn nicht schon alles getan? Ist die Welt nicht ringsum für uns vermauert? Also muß man da nicht das Maul aufreißen, damit man uns wenigstens hört? Muß man nicht brüllen, wenn man lebendig begraben ist, auch wenn man dadurch in der Nachbarschaft unangenehm auffällt?«

»Lebendig begraben?!« ereiferte sich Frau van Düren. »So siehst du aus! Läufst von Hause weg, wo du alles zu Gebote hattest, machst eine Bude auf, die dir nichts einbringt, empfängst Teebesuche von jungen Männern dutzendweise ...«

»Von einem, liebste Mama! Nur von einem!« verbesserte Ginevra.

Frau van Düren wehrte heftig mit beiden Händen ab.

»Empfängst Teebesuche von dem einen und machst Strandspaziergänge mit dem andern, verdrehst ihm den Kopf, dem armen Generalkonsul, der doch sowieso schon den Spleen hat und jetzt vollends überschnappt und den Himmel voller Geigen sieht! ... Und bist dabei lebendig begraben! Sage mal: wie denkst du dir das eigentlich?«

Sie hatte sich wieder einmal in Hitze gesprochen, schüttelte den Kopf und atmete tief auf.

»Wie denkst du dir das?« wiederholte sie, als Ginevra noch immer schwieg.

»Alles aus Verzweiflung!« eröffnete ihr Ginevra mit einer Miene aufrichtigen Kummers. »Weil eben der, die, das Richtige nicht kommen will!«

»Der Richtige wäre schon da!« rief Frau van Düren, von neuem sich ereifernd. »Man muß ihn nur zu finden wissen und nicht lauter Seitensprünge machen wie ein bockiges Pferd!«

»Gut gemeint, Mumpili!« entgegnete Ginevra achselzuckend. »Geht aber leider nicht! Außer wenn plötzliche Farbenblindheit ausbrechen würde!«

»Farbenblindheit? Was soll das nun wieder heißen?« schalt Frau van Düren. »Das verstehe ich einfach nicht!«

»Ich eigentlich auch nicht! Und doch ist es leider so! Die Männer von heute sind eben vollständig verblendet! Sie sehen ihr Glück nicht! Also muß man sich selber helfen!«

»Und ihr Weiber von heute seid überkandiert! Man könnte verzweifeln, wenn man sieht, wie alles aus dem Leim ist!«

Ginevra wiegte den Kopf in den Schultern.

»Glaubst du nicht, daß das immer so gewesen ist, meine beste Mama? Daß immer die Älteren von den Jüngeren behauptet haben, sie seien aus dem Leim?«

Sie trat ans Fenster und deutete auf die Gräber jenseits des Holzzauns.

»Wenn die da draußen Antwort geben könnten ... Leider ist ihnen der Mund mit Erde zugesiegelt!«

Helene van Düren schüttelte energisch den Kopf.

»Die laß aus dem Spiel! Das war eine ganz andere Art von Menschheit! Die würden uns nicht verstehen und wir sie nicht! Die lebten und dachten noch in Zeichen und Bildern! Wir denken in Papier!«

»Onkel Berthold braucht lange, um in seinen Schlafrock und in seine Pantoffel zu fahren?« meinte Ginevra nach einer kleinen Pause des Schweigens. Eben öffnete sich die Tür. Fräulein Florentine erschien auf der Schwelle, jetzt mit ganz gutwilligem und aufgetautem Gehaben. Sie hatte ihr Küchengewand abgetan und richtig Toilette gemacht. Zum schwarzen altmodischen Kleid mit vielen Fältchen und Rüschen trug sie eine Art von Schwesternhaube, eine große schwarze Schleife unter dem haarigen Kinn. Graues Wuschelhaar war überhaupt das Kennzeichen dieses ausgesprochenen Hundegesichts. Man hätte auch an den Wolf aus dem Märchen denken können, der mit der Großmutterhaube im Bett liegt, aber das wäre sicher ein Unrecht gegen das kleine haarige Weibchen gewesen, das doch nur seinen »jungen Herrn« vor den Insektenstichen einer von Grund auf bösen Welt behüten wollte.

»Sie müssen schon entschuldigen, meine schönsten Damchens!« sagte sie ganz geläufig, nur mit der breiten Dialektfärbung, die in diesem Boden wurzelte. »Aber ich hab' doch nicht ahnen können, daß wer aus der Stadt zu uns kommt! Noch womöglich Verwandte von meinem jungen Herrn! Das heißt, so jung ist er ja nun grade nicht mehr! Fünfundfünfzig zu Weihnachten geworden! Aber ich hab' ihm doch übernommen von seiner seligen Mutter! Wie's zum Sterben gekommen ist mit der alten Frau ... paß mir gut auf den Jungen auf, Florentine, hat sie zu mir gesagt ... geröchelt hat sie's, ganz schwach ... und ich hab' ihr die Hand drauf gegeben! Was man verspricht, muß man auch halten, ist nicht an dem, meine Damchens? Die Menschen sind schlecht! Sie glauben nicht, wie schlecht sie hier sind in Ellerndorf! Und er ist ja man 'n großes Kind! Er weiß nuscht von der Welt, wie schlecht sie ist! Und verrückt ist er obendrein auch!«

Mutter und Tochter hatten Florentines Redefluß bis jetzt hemmungslos über die Ufer treten lassen. Jetzt glaubte Helene ihren Augenblick gekommen.

»Halten Sie Vetter Berthold wirklich für ein bißchen hier ...?« fragte sie lächelnd und machte die dazugehörige Geste.

Florentine wunderte sich.

»Ein bißchen? Na, hören Sie, meine Dame! Ein bißchen sehr! Von hinten bis vorn und von oben bis unten. Wenn der nicht verrückt ist, dann gibt's überhaupt keine verrückten Menschen mehr in der Welt! Ich sag' Ihnen, meine Damchens, der ist vollblutverrückt!«

»Ja, aber wieso?« forschte Frau van Düren kopfschüttelnd.

»Wieso? Na, hören Sie, meine Damen! Wenn einer die Nacht zum Tag macht und den Tag zur Nacht, ohne daß er's nötig hat! Ist einer Bäcker oder Nachtwächter ... na ja, schön! Es gibt ja alles mögliche in der Welt! Es ist ja keine Schand'! Aber daß einer Theaterstücke schreibt, wie mein armer junger Herr, die Nächte durch ... Sagen Sie selbst, meine Damchens? Muß der nicht 'n Vogel haben? Und keinen ganz kleinen?«

»Er ist wohl grade wieder sehr in der Arbeit?« fragte Helene.

»Diesmal hat's ihn wie nie!« entgegnete Florentine. »So hab' ich ihm überhaupt noch nicht gesehen! Ißt nicht und trinkt nicht! Man muß es ihm eintrichtern! Stiert stundenlang auf einen Platz! Es ist ein Jammer! Ich sag' Ihnen, meine Damchens! Es ist ein Jammer! Bloß schlafen tut er hernach! Zwölf Stunden ist das Geringste! Das muß er haben! Ich bin zu ihm raufgegangen wecken! Aber ich glaub' nicht, daß Sie ihm zu sehen kriegen. Sie können ja wiederkommen ein anderes Mal. Er hat mich angestiert wie einen Geist! Schon um zwölf Uhr aufstehen! Nein! Sowas auch!«

»Haben Sie eigentlich mal was von ihm gelesen, Fräulein?« fragte Helene nach einem Augenblick des Schweigens.

»Ich? Von ihm gelesen?« rief Florentine. »Gott soll mich bewahren! Nein! Aber ich will nicht lügen! Versucht hab' ich's! Es liegt doch immer alles haufendick auf dem Schreibtisch! Aber meinen Sie, ich hab' ein Wort verstanden? Ich ...?«

Sie hielt mitten im Wort inne und starrte nach der geöffneten Tür. Berthold Krispien stand lang, dürr, hohlwangig, übernächtig auf der Schwelle, wie eine Erscheinung von jenseits des Kirchhofzauns, die sich nur in der Stunde ihres Auftretens geirrt haben mochte. Eine Art von Schlafrock oder Bademantel in tiefem Bischofsviolett, besät mit goldenen Sternen und weißen Lotosblüten, schlotterte um seine hageren Glieder und wurde durch einen härenen Strick um die dürren Lenden festgehalten. Die Beine steckten wie Streichhölzer in alten Filzpantoffeln. Eine hohe spitze Priestertiara, von dem gleichen Farbenmuster wie der Bade- oder Magiermantel, krönte das mächtige, grauhaarige Dichterhaupt.

»Bist du es, Helene Goertz?« sagte er nach ein paar Augenblicken und breitete seine Arme aus. Seine Stimme klang hohl, dumpf, wie aus der Unterwelt herauf.

Helene war aufgestanden und ging ihrem Vetter entgegen. Er schloß sie mit seinen fleischlosen Armen, von denen die Ärmel zurückgeglitten waren, an seine Brust und schien aufrichtig erfreut.

»Ich habe doch meine Base Helene sofort wiedererkannt, wenn sie sich auch die Rokokofrisur zugelegt hat, die man damals noch nicht trug!«

»Nein! Vor dreißig Jahren noch nicht!« lächelte Helene, indem sie sich behutsam aus der Umarmung des Vetters löste.

Krispien schüttelte den Kopf.

»Sind es dreißig Jahre? ... Mir ist es wie vorgestern nachmittags! Die Zeit ist Chimäre!«

»Leider nicht so ganz! Wenigstens nicht für eine Frau!«

Krispien nickte und machte mit seiner langen schmalen Hand eine zart hingleitende Bewegung über Helenes Scheitel.

»Ich verstehe! Die leichte Puderschicht über diesem schönen weichen, immer noch jugendlichen Haar ist natürlich ihr Werk! Aber auch dieses Werk hat seine Reize!«

Helene lächelte und hatte eine leicht abwehrende Handbewegung.

»Ich habe gar nicht gewußt, daß ich einen so galanten Vetter besitze! Vettern sind sonst meistens von rauheren Sitten. Doch in diesem Fall spricht wohl auch mehr der Dichter als der Vetter.«

Krispien trat einen Schritt näher.

»Ich sehe, du hast außer der Schönheit auch noch die Jugend mitgebracht. Es ist sicher deine Tochter? Man erkennt es sofort.«

Ginevra reichte Krispien ihre Hand. Er umschloß sie mit seinen beiden Händen. Ginevra fiel auf, wie feingegliedert diese Hände waren. Der Dichter hatte sein tiarageschmücktes Haupt vorgebeugt, ganz in Ginevras Antlitz untertauchend.

»Ja, das ist das neue Geschlecht!« murmelte er nach einem Weilchen. »Diesen Ausdruck, diese Mischung, diese Nuance hat es nie vorher gegeben! Man wird sie auf keinem Frauenporträt irgendeines alten Meisters bis heute finden!«

Er ließ Ginevras Hände los und nahm ihren Kopf in die seinigen, ihn wie den eines Modells hin und her richtend. Das junge Mädchen ließ es schweigend geschehen, sehr zum Erstaunen ihrer Mutter. Der Dichter nickte mehrmals befriedigt und wandte sein Gesicht zu Helene, dabei den Kopf des Mädchens, wie ein Bildhauer oder Maler, noch immer zwischen den Händen haltend.

»Jugend ist immer gewesen!« sagte er, indes seine Blicke zwischen Mutter und Tochter vergleichend hin und her gingen. »Und Schönheit ist auch immer gewesen! Aber diese Art von Schönheit und diese Art von Jugend ist noch niemals gewesen! Die Natur hat sie sich bis zum heutigen Tag aufgespart! Ihre allerletzte und allerjüngste Schöpfung! Dernière création! würde der Modenkünstler sagen. Dieser Typus ist durchaus neu und durchaus fremdartig! Und natürlich, wie alles Fremdartige, auch etwas erschreckend, obwohl es sich gewiß nur um eine leiseste Schwebung, Tönung, Nuance handelt, die anders ist als vor dreißig Jahren oder vor dreihundert Jahren.«

»Haben Sie mich jetzt zur Genüge photographiert, Onkel Berthold?« verlautbarte Ginevra, die schweigend dem Dichter ihren Kopf überlassen hatte.

»Photographiert!« wiederholte Krispien und klopfte mit dem Handknöchel auf den Tisch. »Da liegt es! Was sich nämlich hier oben« – er deutete auf seine Stirn – »vollzieht, ist zunächst nichts weiter als ein photographischer Belichtungsprozeß. Erst wie wir es nachher umdeuten, das ist dann das Werk des Dichters!«

Ginevra stand aufgerichtet, fremd, maskenhaft vor Krispien.

»Sie haben mich bereits umgedeutet oder umgedichtet, Onkel Berthold! Sie finden mich erschreckend! Es gibt keine bessere Definition für mich! Ich komme mir nämlich selbst manchmal so vor!«

Fräulein Florentine hatte mit zunehmender Unruhe dabeigestanden. Jetzt näherte sie sich dem in seine inneren Gesichte versunkenen Dichter und zupfte ihn an seinem Bademantel mit den Sternen und den Lotosblüten.

»Wir werden uns erkälten, Herr Bertholdchen! Sie wissen doch, wir husten so leicht! Und gegessen und getrunken haben wir auch noch nuscht! Und geschrieben haben wir wieder bis zum hellen Tag in der kalten Stube oben, wo die Nächte jetzt wieder so rauh sind!«

»Du bist an einer größeren Arbeit?« warf Helene ein.

Krispien zuckte mit den Achseln.

»Größere Arbeit? Wenn du willst, ja! Nämlich mein Lebenswerk! Ich beeile mich etwas damit! Man kann nie wissen! Ich habe heute früh das dritte Bild beendigt. Fünf Bilder werden es!«

»Hast du schon einen Titel?«

»Ja! Vielleicht! Der Wanderer und die Sphinx! Es ist ein Traumspiel mit Chören und sonstigem Firlefanz!«

Ginevra trat interessiert näher.

»Der Wanderer und die Sphinx? Wer ist die Sphinx?«

Krispien wiegte den Kopf, auf dem die Tiara hin und her schwankte.

»Das Weib! ... Ich spreche noch nicht gern darüber.«

»Das Weib so im allgemeinen? Interessiert nicht! Nur das Individuum interessiert! ... Nehmen Sie doch mich

Der Dichter wollte antworten, und es läßt sich vermuten, daß es zustimmend gelautet hätte, aber Fräulein Florentine, die diese Unterhaltung je länger, je überflüssiger fand, packte ihn mit einem Polizeigriff am Arm.

»Jetzt kommen Sie aber mit mir, Herr Bertholdchen! Schnell was Warmes in den Magen und dann noch Stund' zwei oder drei aufs Ohr gelegt!«

Damit schleppte sie, ohne sich weiter um die beiden Besucherinnen zu kümmern, ihren Dichter aus der Stube. Man sah noch seine lange, dünne lila Silhouette auf der Türschwelle, wie er gegen Base und Nichte seine Tiara lüftete, und hörte seine hohle Stimme:

»Entschuldigt mich! Aber ich kann nicht anders! Diese Frau wird noch mein Tod!«


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