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6

Jan Wilhelm wartete bereits im Arbeitszimmer des Generalkonsuls. Seine schlanke, sehnige, nicht übergroße Gestalt hatte etwas von einer federnden Klinge. Die fliehende Stirn, die vorgebaute Mund- und Kinnpartie konnten wohl an den Kopf eines edlen Pferdes erinnern, wie Ginevra ihn ihrer Freundin geschildert hatte. Besonders in die Augen fallend war die Ähnlichkeit jedoch nicht. Man mußte wohl die immer etwas karikierende, überspitzende Phantasie Ginevras besitzen, um ihn so zu sehen. Aber sie hatte gewiß recht gehabt, wenn sie auf den ersten Blick in ihm den männlichen Mann, den Menschen von Entschluß, den Sportsmann und Landwirt, freilich irgendwo im Hintergrund auch den Künstlermenschen entdeckt hatte.

Jan Wilhelm trabte mit langen Schritten in dem kleinen, durch die verschiedenen Sitzgelegenheiten noch mehr beengten Kajütenraum auf und ab. In seiner Ungeduld nahm er die Länge des Zimmers mit zwei, drei Sätzen, um sofort wieder in gleichen Sprüngen zur entgegengesetzten Wand zurückzuschnellen. Er wußte nicht, was des Generalkonsuls dringendes Telegramm bezwecken möge, und was er von ihm wollen könne. Aber er war fest entschlossen, die so unverhofft sich darbietende Gelegenheit beim Schopf zu nehmen und den ewig hinter seinen Geschäften sich verschanzenden Generalkonsul endlich einmal zu einer Aussprache über seine Zukunft zu zwingen. Wenn er an den unvermeidlich bevorstehenden Zusammenprall mit dem namenlos hartnäckigen und querköpfigen Onkel dachte, so mußte er sich gestehen, daß ihm vor Langemarck, Wytschaete und im Houthulster Wald auch nicht schlimmer zumut gewesen war als jetzt – geschweige denn später in Galizien und in Rußland, was ihm wirklich wie ein Kinderspiel gegen das jetzige Unternehmen vorkam.

Wie er so zum hundertstenmal das Zimmer durchmaß, ohne daß er den zahlreichen Bildern und Zeichnungen an den Wänden irgendwelche Beachtung geschenkt hätte, fiel ihm plötzlich ein kirschrot drapierter weiblicher Akt in die Augen, der über dem Seidensofa hing. Er trat näher, warf einen Blick darauf und erinnerte sich sofort wieder, daß es der van Düren sei, der seit undenklicher Zeit dort gehangen hatte. Er hatte das über Krieg und innerem wie äußerem Umsturz vergessen. Und doch hatte das Bild ihn schon in Knabenjahren angezogen, teils in seiner Eigenschaft als Aktbild, wie er sich jetzt wohl bekennen durfte, zum Teil aber auch durch seine malerische Leuchtkraft. Vielleicht war es sogar dieses Bild – mit einigen andern hier hängenden –, das den in ihm schlummernden Formsinn zuerst geweckt und seine Phantasie auf den Weg zur Malerei gelenkt hatte. Daß dieser Weg am Ende sich als ein Irrweg erwiesen hatte, wie er sich mit bitterm Auflachen eingestand, dafür konnte ja das Bild nichts, dessen malerische Qualität er auch jetzt noch, ja vielleicht mehr denn je, anerkennen mußte. Wie war es eigentlich möglich, daß die Welt diesen Mann so lange übersehen hatte? Einen ersten Meister wie ihn, bei dem jeder Pinselstrich saß! Hätte das nicht schon vor dreißig Jahren entdeckt werden müssen? Aber es scheint, daß die Menschen vor jeder neuen Lichtquelle, die sich in ihrer Dunkelheit auftut, erst einmal geblendet die Augen schließen müssen. Je stärker das Licht, desto länger dauert es, bis ihnen die Augen dafür aufgehen, einzelne Glücksfälle ausgenommen, die beinahe nach Wundern aussehen.

Jan Wilhelm schüttelte unwillig den Kopf und setzte seine Sprünge durch die Kajüte fort. Nein, mein Weg wäre das nicht gewesen! sagte er sich. Selbst wenn das Talent gereicht hätte! Aber keinesfalls die Geduld! Ich hätte nicht warten können! Ich brauche die Gegenwart! Ich hätte nicht von der Zukunft leben können! Ich muß es wachsen sehen! Ich muß es greifen können! Es muß sich mir unter den Fingern formen! So einer wie der van Düren ist eigentlich eher ein Krankheits- als ein Gesundheitsfall, insofern die Gesundheit eben das Normale ist und die Krankheit die Ausnahme darstellt. Wer nicht solch ein Krankheitsfall ist, gehört nicht in die Kunst! Ich bin zu gesund! Also hab' ich die Finger davon gelassen!

Der junge Mahn hielt von neuem vor der kirschrot drapierten, blühend fleischlichen Aphrodite an. »Die Kunst als klinisches Phänomen!« brummte er. »Da habe ich mich ja hübsch verstiegen!« Er heftete seinen Blick auf das Gesicht der Göttin, das ihn bis jetzt nur als Farbenfleck interessiert hatte. An wen erinnerten ihn diese Züge? Auf die Frage war auch sofort die Antwort da. Es war das Antlitz Ginevras, das er vor sich sah. Er kannte dieses seltsame, gleichsam irisierende Lächeln nur zu gut. Es verfolgte ihn bis in den Schlaf. Er hatte sich entschlossen, das Bild dieser gefahrbringenden Amazone in sich auszutilgen, und er wollte dabei bleiben. Im übrigen mußte er sich ja selbst sagen, daß es gar nicht Ginevra sein könne. Sie war van Dürens Tochter, und dies war vor dreißig Jahren gemalt. Die Zahl stand deutlich in der rechten unteren Ecke. Es war also wohl Ginevras Mutter in ihrer Jugend, die damals dem selbst noch jungen Maler Modell gesessen hatte. Lüftete sich da nicht plötzlich der Schleier über vergangenem Leben? »Jedenfalls eine schöne, begehrenswerte Frau!« murmelte Jan Wilhelm, ohne sich in diesem Fall Gewissensbedenken machen zu müssen, denn es war ja die Mutter und nicht die Tochter, der sein Kompliment gegolten hatte. Gleich darauf mußte er selbst über seine Sophistik lachen, aber sein Lachen klang scharf und bitter und gar nicht fröhlich.

Plötzlich hörte er hinter sich eine Bewegung. Er drehte sich jäh um und gewahrte den Generalkonsul, der ungehört ins Zimmer getreten war, ihn womöglich schon eine Weile beobachtet hatte. Jan Wilhelm hatte ein peinliches Gefühl, wie wenn er auf etwas ertappt oder auf irgendeine Weise entlarvt worden wäre. Es ärgerte ihn, daß er gerade in diesem Augenblick, wo er hatte stark sein wollen, vor dem gefürchteten und manchmal gehaßten Oheim in einer Art von Armesünderrolle dastand, obwohl er sich durchaus keiner Schuld bewußt war.

Stenzel hatte das Monokel in sein linkes Auge geklemmt und musterte seinen Neffen mit jenem spöttischen, überlegenen Lächeln, das häufig auf dem Gesicht kleingewachsener Menschen wahrzunehmen ist, wenn sie sich so viel Größeren gegenüberfinden, zu denen sie aufblicken müssen. Man könnte es ein Lächeln aus Selbsterhaltungstrieb nennen, obwohl es oft die entgegengesetzte Wirkung hat, den andern Teil in eine sonst vielleicht nicht gewollte Angriffsstimmung zu versetzen. Ähnlich war es auch hier. Jan Wilhelm wartete auf das erste Wort aus diesem unausstehlich lächelnden Munde, um seinerseits mit schwerem Geschütz aufzufahren.

»Du hast dir das Bild von van Düren angesehen?« begann Stenzel mit sanftem Ton, der das süffisante Lächeln noch süffisanter machte. »Du hast sehr recht daran getan! Der Mann hat gewußt, was er wollte! Der Mann hat bis zum letzten Atemzug gearbeitet! Jeder von uns kann sich ein Beispiel daran nehmen!«

»Und was hat er jetzt von dem allem?«

Jan Wilhelms Ton klang scharf und herausfordernd. Aber die Wirkung war ganz anders, als er erwartet hatte.

»Da hast du wieder recht!« erwiderte der Generalkonsul sanft wie vorher und tippte seinem Neffen mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Es ist das ein Gedankengang, der mich gerade in den letzten Tagen viel beschäftigt hat, ohne daß ich in der Lage bin, dir den Grund dafür anzugeben. Genug! Ich habe mich mit dem Gedanken beschäftigt, oder vielmehr der Gedanke hat mich beschäftigt. Und deshalb habe ich dich hergebeten.«

Er deutete mit einer einladenden Bewegung auf einen der Ledersessel und setzte sich selbst auf das champagnerfarbene Seidensofa.

»Ehe wir zur Hauptsache kommen, mein lieber Willi ... Du bist doch ein fähiger Kopf. Wenigstens halte ich dich dafür, wenn du es auch bis jetzt noch nicht weit damit gebracht hast!«

»Durch Schuld des Krieges! Und durch andere Umstände, für die ich nichts kann!« erwiderte Jan Wilhelm, von neuem gereizt und erbittert.

Der Generalkonsul nickte und strich seinen Knebelbart.

»Das alte Thema! Aber lassen wir das!«

»Nein! Lassen wir es nicht! Es ist das A und das O!« schrie Jan Wilhelm. »Es gibt nichts Wichtigeres! Was ist das für eine Methode, das Wichtigste gerade zu unterlassen?«

»Dennoch ersuche ich dich als dein Oheim darum. Du wirst gleich sehen, weshalb. Zunächst beantworte mir eine Frage! Was hältst du von Träumen?«

»Von Träumen ...? Ich verstehe wohl nicht richtig?«

Jan Wilhelm hatte sich in seinem Sessel vorgebeugt und starrte dem andern ins Gesicht.

Stenzel lächelte und fuhr mit sanfter Stimme fort:

»Doch! Du hast ganz richtig verstanden! Ich frage dich: Glaubst du an Träume? Bist du der Ansicht, daß sie eintreffen können?«

»Warum nicht?!«

Jan Wilhelm zuckte gleichgültig mit den Achseln. War das nicht wieder eines von den Manövern des Alten, womit er ihm auszuweichen und sich um Entscheidungen herumzudrücken suchte? Aber er war entschlossen, ihn aus seinem Fuchsbau auszuräuchern, koste es, was es wolle.

Stenzel, der etwas nachgedacht hatte, nahm den Faden wieder auf.

»Präzisieren wir die Frage genauer! Wenn du geträumt hättest, du wirst das große Los gewinnen, würdest du es glauben?«

»Nein! Das würde ich niemals glauben!« rief Jan Wilhelm mit einem wegwerfenden Lachen. »Ich bin doch nicht verrückt!«

»Aber wenn du das Gegenteil träumen würdest, zum Beispiel, daß dir ein Unglück widerfahren soll ...?«

»Das würde ich schon eher glauben!« unterbrach Jan Wilhelm. »Das würde ich sogar sehr wahrscheinlich glauben!«

»Und warum eher das Unglück als das Glück?« fragte Stenzel mit seiner sanftesten Stimme, aber schon längst ohne jenes süffisante Lächeln. »Kannst du mir das begründen?«

»Sehr einfach! Weil ich und wir jungen Menschen von heute allesamt geborene Pechvögel sind! Das beweist ja schon die Tatsache, daß wir die ersten dran waren, als der Krieg kam!«

»Also du beziehst das nur auf die junge Generation? Und wie ist es, wenn ältere Leute solche schlechten Träume haben? Hast du von Wahrträumen gehört?«

»Tausendmal draußen im Feld!«

»Und trafen sie ein?«

»Manchmal ja! Manchmal auch nicht!«

»Manchmal auch nicht! ... So ...?!«

Der Generalkonsul atmete tief auf und strich sich von neuem den etwas zu schwarzen Henryquatre.

»Ich erinnere mich an einen Fall in unserer Kompanie,« bemerkte Jan Wilhelm, der in seinem Gedächtnis gesucht hatte. »Älterer Landsturmmann! So etwa in deinen Jahren! War freiwillig hinausgegangen! Der träumte seinen Tod mit allen Einzelheiten voraus, die er uns haarklein erzählte. Es sollte in acht Tagen geschehen!«

»Und hat es sich erfüllt?« fragte die sanfte, etwas schwache Stimme aus dem sandfarbenen Seidensofa herüber. Jan Wilhelm zuckte mit den Achseln.

»Ja und nein! Der Mann war so überzeugt, vor Ablauf der geträumten Woche könne ihm nichts passieren, daß er fortwährend ohne Deckung im Schützengraben herumlief. Natürlich riß es ihn! Schon am dritten Tage! Um vier Tage zu früh! Im übrigen waren die Umstände seines Todes genau so, wie er sie vorausgeträumt hatte. Also was soll man sagen? Sind wir die Narren unseres Schicksals oder nicht?«

Der Generalkonsul erhob sich, legte die Hände auf den Rücken und ging mit gesenktem Kopf zum Fenster. Jan Wilhelm lag halbausgestreckt in seinem Klubsessel und starrte zur Decke. Er konnte beim besten Willen aus der Fragerei des Alten nicht klug werden, aber er sah voraus, daß auch dieser Versuch, mit ihm ins reine zu kommen, fehlschlagen werde. Er ballte die Fäuste und knirschte mit den Zähnen. Plötzlich wandte der Generalkonsul sich um. Er schien zu lächeln.

»Ich habe dir eine Eröffnung zu machen, mein lieber Willi. Du weißt vielleicht, daß ich jährlich um diese Zeit mein Testament revidiere. Es gibt immer wieder etwas wegzulassen oder hinzuzufügen. So auch diesmal. Ich habe dich zu meinem Universalerben eingesetzt. Ich hoffe, daß das deinen Beifall findet?«

Jan Wilhelm lachte laut auf.

»Lieber Ohm! Ich hoffe, daß du bei der Revision in fünfundzwanzig Jahren noch auf demselben Standpunkt stehst. Bis dahin können wir die Frage ja wohl vertagen. In Anbetracht deines Gesundheitszustandes ist das eher noch zu kurz.«

Stenzel machte ein paar Schritte, in tiefen Gedanken, wie es schien. Plötzlich sah er auf.

»Du findest also, daß ich einigermaßen gesund aussehe?«

»Herausfordernd gesund, lieber Ohm! Als ob du noch Bäume ausreißen könntest!«

Der junge Mann lachte von neuem und streckte seine Beine von sich.

»Es wäre mir aber lieber,« fuhr er fort, »wenn wir weniger von einer ganz nebelhaften Zukunft als von der sehr greifbaren und fühlbaren Gegenwart sprechen würden!«

Der Generalkonsul trat dicht vor ihn hin und klopfte ihm auf die Schulter.

»Du bist ein offener Kopf! Ich habe es immer gesagt! Auch zu Zeiten, wo du es nicht gerade bewiesen hast. Es scheint, der Krieg hat doch sehr erzieherisch gewirkt.«

Jan Wilhelm hatte sich erhoben.

»Bitte auch keine Vergangenheit, lieber Ohm! Weder Vergangenheit noch Zukunft! Gegenwart! Nichts als Gegenwart! Was denkst du, daß aus mir werden soll, wenn ich jetzt Willomin verlasse?«

»Warum verläßt du es Knall und Fall? Sind triftige Gründe dafür vorhanden?«

» Sehr triftige Gründe! Es ist kein Platz mehr für mich da! Abgesehen davon, daß sehr bald für Deutsche überhaupt kein Platz mehr sein wird.«

Der Generalkonsul schüttelte energisch den Kopf.

» Den Grund erkenne ich nicht an! Es gibt für mich im wirtschaftlichen Leben keine Erwägung, die es rechtfertigen würde, daß ein fähiger Mann wegen seiner Sprache oder seiner Nationalität entlassen wird!«

Jan Wilhelm lachte bitter.

»Du urteilst aus deiner Zeit! So hat man Anno dazumal gedacht! Inzwischen sind wir hübsch vorwärts gekommen. Aber einerlei! Ich gebe Willomin auf! Auch ohne polnische Nachhilfe! Es ist mir zu eng! Ich will Ellbogenfreiheit! Hol's der Teufel! Ich will nicht versauern! Ich will auch einmal zeigen, was ich kann und was in mir steckt!«

Stenzel erhob seinen Zeigefinger und setzte ihn dem Neffen wie ein Schwert auf die Brust.

»Eben das ist es, was ich von dir erwarte! Ich habe die nötigen Schritte zum Erwerb eines größeren Besitzes getan, wo du dich betätigen kannst. Über die Einzelheiten, soweit ich sie derzeit selbst übersehe, wollte ich mit dir sprechen.«

Stenzel zog den jungen Mann, ohne ihm erst Zeit zu lassen, erstaunt zu sein, neben sich auf das Sofa von Seidenrips, in dem sonst seine Damenbesuche Platz zu nehmen pflegten, und setzte ihm sein Vorhaben auseinander.

Es handle sich um einen Gutskauf in Ellerndorf. Sie seien einmal, noch lange vor dem Kriege, zusammen hinausgefahren. Möglich, daß der junge Mann es vergessen habe. Ihm, dem in Ellerndorf Geborenen, sei jeder Weg und Steg, jeder Baum und Strauch und jeder Ziegelstein dort noch gegenwärtig, wie wenn er es erst gestern verlassen habe, obwohl es ja nun schon viele Jahre seit jenem letzten Besuch her sei. Und gerade im augenblicklichen Zeitpunkt – aus Gründen, deren Erörterung nicht hierher gehöre – habe jene Erinnerung, ja jene Sehnsucht, wie man sie wohl bezeichnen könne, nach den Stätten seiner Jugendzeit ihn mit besonderer Macht überfallen. Er habe bisher nie Zeit gefunden, diesen Stimmungen und Gefühlen nachzuhängen, die unaufhörliche Arbeit habe ihn nicht dazu kommen lassen, aber wie nun so die Jahre dahingeflogen seien und anscheinend immer schneller dahinflögen, sei mit einemmal dieser seelische Zwang da, dem er sich nicht entziehen wolle, selbst wenn er es vermöchte. Da lasse es sich nun beinahe wie ein Fingerzeig des Schicksals an, daß der größte Ellerndorfer Hof, wie er in Erfahrung gebracht habe, aus Erbteilungsgründen zum Verkauf stehe. Mit diesem höchst ansehnlichen Gut, das er noch aus alter Gewohnheit den Goertzschen Hof nenne, wiewohl jene so geheißene Familie längst von dort verschwunden sei, fühle er sich von der Jugendzeit her verbunden. Da es sich außerdem um einen vorteilhaften Kauf handle, durch welchen zu allem Überfluß auch dem berechtigten Wunsch seines Neffen nach größerer Betätigung und Ausbreitung Rechnung getragen werde, so habe er rasch entschlossen, wie man das im kaufmännischen Leben gewöhnt sei, einen sicheren Mann mit allen Vollmachten hinausgeschickt. Soeben, beim Nachhausekommen von einer zeitraubenden Besichtigung, habe er einen Fernspruch seines Vertreters vorgefunden, der den Abschluß einer vorläufigen Vereinbarung melde und zur persönlichen Unterzeichnung im Lauf der nächsten Tage auffordere. So könne denn für den jungen Mann das Leben neu beginnen, wie es ja auch ihm selbst, dem Älteren, eine Art von Wiederanfang, zugleich freilich in gewissem Sinne auch ein Ende bedeute.

Jan Wilhelm hatte den Darlegungen seines Oheims mit offenem Munde zugehört. Wenn er auch von dem wunderlichen Mann auf vieles gefaßt war, so übertraf doch dies seine verwegensten Erwartungen. Er wäre in seiner Ungeduld und in seinem – wohl dem Ohm verwandten – Widerspruchsgeist längst vom Sofa aufgesprungen, wenn Stenzel ihn nicht immer wieder mit der aufgelegten Hand auf seinen Sitz gebannt hätte. Aber endlich riß es ihn doch mit einem Satz empor.

»Ist das alles wirklich dein Ernst?« rief er und machte ein paar aufgeregte Schritte durchs Zimmer. »Mir scheint, du machst dir einen Witz mit mir?«

Zwischen Stenzels dünngezogenen farblosen Brauen erschien eine Falte.

»Ein Johann Sebastian Stenzel macht keine Scherze, wenn es sich um Lebensfragen handelt! Er wäre wohl sonst auch schwerlich der geworden, der er ist! Der Jugend aber, scheint mir, würde etwas mehr Respekt und vor allem mehr Dankbarkeit anstehen!«

»Dankbarkeit?!« rief Jan Wilhelm, »Dankbarkeit?! Daß doch von der Jugend immer Dankbarkeit verlangt wird, sobald sie sich auf ihr natürliches Daseinsrecht beruft! Ist es nicht wahrhaftig genug, daß wir vier Jahre lang den Kopf hingehalten haben? Verlangt ihr immer noch mehr Opfer von uns? Sollen wir nicht endlich auch unser eigenes Leben leben dürfen und nicht immer nur für andere?«

Der Generalkonsul war plötzlich wieder ganz ruhig geworden. Hatte der aufgeregte junge Mann – Blut von seinem Blut – nicht im Grunde recht? Ein Rauchwölkchen ist das Leben! Woher es aufsteigt und wohin es entschwebt, weiß niemand! Es kräuselt sich ein Weilchen wie die dünne Rauchfahne eines davonjagenden Zuges über dem Waldrand. Dann ist es fort und wird nie mehr gesehen! Lohnt es sich, daß man sich um dieses Nichts plackt und rackert, wie er es getan und von allen andern verlangt hatte? Jetzt war es vorbei. Die Uhr ging auf Mitternacht. Siehst du das Rauchwölkchen über dem Waldrand verschwinden?

»Warum ereiferst du dich eigentlich, mein lieber Willi?« fragte er nach einer Pause. »Ich biete dir eine Lebenssituation, um die dich mancher beneiden würde. Und du? Es fehlt nicht viel, daß du mich einen krummen Hund nennst! Findest du das in der Ordnung?«

»Nein! Ich finde es nicht in der Ordnung!« schrie Jan Wilhelm, den die unbegreifliche Milde des Oheims nur noch mehr reizte.

»Also warum tust du es dann?«

»Weil ich an alle diese schönen Dinge nicht glaube! Weil ich das Empfinden habe, daß wieder einmal ein Spiel mit mir getrieben wird, wie mit unserer ganzen gottverfluchten Generation!«

»Und wenn ich dir den Beweis liefere, daß alles sich so verhält, wie ich dir auseinandergesetzt habe, obwohl es dessen nicht erst bedürfen sollte!«

»Dann frage ich dich: Wie denkst du dir dieses Regime von uns beiden da draußen? Du kommandierst natürlich, wenn du auch nichts von dem Geschäft verstehst, und ich habe zu parieren? Nicht wahr? So denkst du es dir doch? Sage es nur offen heraus! Ich bin auf alles gefaßt! Bei meinem persönlichen Pech kann es ja gar nicht anders sein!«

Der junge Mann warf sich in einen der Ledersessel und stützte zusammengekauert das Kinn in beide Hände. Er hatte in diesem Augenblick viel Ähnlichkeit mit seinem Oheim, wie er an jenem Geburtstagsmorgen auf demselben Platz sich über den Widersinn des Lebens den Kopf zerbrochen hatte. Vielleicht kam das auch Stenzel selbst zum Bewußtsein, als er ihn so dasitzen sah. Denn er lachte plötzlich in seiner unvermittelten, sprunghaften Art und tippte, einen Schritt nähertretend, dem verwundert Auffahrenden mit dem Zeigefinger auf die Stirn.

»Vor acht Tagen, mein lieber Willi, hättest du mit deiner Prognose unbedingt recht gehabt! Es hätte sich für mich ganz von selbst verstanden, daß ich über ein Unternehmen, in das ich mein Geld hineinstecke, mir auch die persönliche Kontrolle vorbehalte.«

»Aha! Wußt' ich's doch!« rief Jan Wilhelm und sprang mit einem Satz auf beide Beine. »Ich werde doch meinen Herrn Oheim kennen! Von Landwirtschaft hat er ungefähr soviel Dunst wie die Kuh vom Walzertanzen, aber das hindert ihn nicht, sich die persönliche Kontrolle vorzubehalten, wieviel Liter Milch täglich abzumelken sind und wieviel Eier gelegt zu werden haben!«

Er galoppierte wieder mit großen Sprüngen von Wand zu Wand und lachte erbittert vor sich hin. Der Generalkonsul wunderte sich selbst, daß er sich über dieses Benehmen nicht ärgern konnte. Er fühlte zwar, daß irgendwo in der Zwerchfellgegend eine kleine Zornwelle aufsteigen wollte. Aber sie war ganz ohne Kraft und verlief sich sofort wieder. Wie gleichgültig war das alles gegenüber der einen unerbittlichen Tatsache, deren Giftstachel in seinem Hirn stak und es zum Schwären brachte!

»Du solltest die Güte haben, mich ausreden zu lassen, mein lieber Willi!« äußerte er mit diesem Ton, dessen unnatürliche Sanftmut den andern rasend machte. »Ich sprach von etwas, das noch vor acht Tagen gewesen wäre, jetzt aber von mir abgefallen ist.«

»Und warum ist es von dir abgefallen?« schrie Jan Wilhelm. »Seit wann ändert sich der Mensch binnen acht Tagen bis auf die Knochen?«

»Das kommt auf die besonderen Umstände an, mein lieber Willi! Es kann Erlebnisse geben, die uns über Nacht weise machen, wie man ja auch von, heute auf morgen grau werden kann. Ich möchte darüber jetzt keine nähere Erklärung abgeben. Du würdest es kaum verstehen. Es dürfte dir genügen, wenn ich dir in aller Form zusichere, daß du auf deinem Grund und Boden vollständig freie Hand haben sollst.«

»Und du selbst?«

»Ich verlange weiter nichts als ein oder zwei Zimmer, wohin ich mich zurückziehen kann, wenn ich mal hinauskomme.«

»Das ist alles?«

»Nein, noch eins: Es ist möglich, daß wir im Sommer ein paar Gäste draußen haben werden. Ich nehme an und setze voraus, daß du meine Gäste auch als die deinigen ansehen wirst.«

»Männlichen oder weiblichen Geschlechts? Und im letzteren Fall brünett oder blond?«

Jan Wilhelm lachte. Seine Laune hatte sich bedeutend gebessert. Ein Klopfen unterbrach die Unterredung. Renz, der langjährige Kammerdiener des Generalkonsuls, erschien mit einem Tablett in der Tür. Er war ein großer, glattgescheitelter Mann mit schwarzen Bartkoteletten und einem ausrasierten bläulichen Kinn. Es schien, daß der kleine, gnomenhafte Generalkonsul, diese Duodezausgabe der Natur, sich mit Erscheinungen im Folioformat zu umgeben liebte. Renz war noch um einen halben Kopf größer als der imposante Herr Bauhofer, Stenzels Privatsekretär. Auch dieser Zug gehörte zu den vielen Seltsamkeiten des Schiffsherrn und Großkaufmanns. Man hätte ihm unrecht getan, wenn man angenommen hätte, er sei sich der damit verbundenen Komik nicht bewußt gewesen. Es ist klüger, so pflegte er sich zu sagen, ich fordere sie selbst so offensichtlich heraus, daß jeder sofort die Absicht merkt, und überwinde sie dadurch, als daß ich mich der Gefahr aussetze, unbeabsichtigt komisch zu wirken, was ja doch in Anbetracht meines nun einmal mißglückten körperlichen Schöpfungsakts unvermeidlich wäre. Man wird zugeben, daß diese nicht gerade alltägliche Logik des merkwürdigen und ungewöhnlichen Mannes durchaus würdig war.

Renz überbrachte auf dem Tablett zwei Besuchskarten und meldete dazu, die beiden Damen seien vor einer Viertelstunde erschienen, aber von ihm wieder fortgeschickt worden, zufolge der ausdrücklichen Anweisung des Generalkonsuls, bis auf weiteres niemanden vorzulassen. Nachträglich seien ihm dann doch Bedenken gekommen, besonders, da die jüngere der beiden Damen – offenbar Mutter und Tochter – sich mit einer sehr entschiedenen Gebärde empfohlen habe.

Renzens Stimme, wie er diese mißliche Sache vortrug, hatte den Ton eines klagenden Vogels. Stenzel hielt die beiden Karten vor sein Monokel und machte eine Gebärde des Unmuts.

»Höchst fatal!« rief er. »Höchst fatal! Aber Sie können ja nichts dafür, Renz! Es ist meine eigene Schuld! Ich hätte mit so etwas rechnen müssen!«

Er reichte die Karten seinem Neffen und machte einige Schritte gegen das Fenster, in lebhafter Bewegung, halblaut murmelnd, ohne daß man etwas näheres verstand.

Jan Wilhelm hatte die Karten gelesen.

»Ah! Sieh da! Ginevra van Düren!« sagte er. »Und das ist also die Mutter, die längst in Sicht war!«

»Wieso? Warum?« rief Stenzel höchst überrascht und machte auf dem linken Absatz eine halbe Drehung um seine Achse, so daß er Jan Wilhelms Gesicht gerade vor sich hatte. »Woher kennst du sie? Was sind das für Beziehungen und Bekanntschaften, von denen man keine Ahnung hat?«

Er war auf dem besten Wege, sich zu ärgern, heftig zu werden, sich gehen zu lassen, als ihm plötzlich wieder einfiel, daß er ja über Nacht weise geworden sei und sich also nicht aufregen dürfe. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wie um den Anfall wegzuwischen, und sagte wieder mit jener Milde, an die zu glauben Jan Wilhelm noch immer schwer fiel:

»Es liegt mir natürlich fern, mich in deine Privatangelegenheiten zu mischen. Ich hatte nur als dein Oheim und einziger näherer Verwandter geglaubt, Anspruch auf ein gewisses Vertrauen zu haben. In den entscheidendsten Stunden des Daseins sind wir ja ohnehin allein und nur auf uns selbst angewiesen.«

»Es freut mich, mein lieber Ohm, daß wir uns neuerdings so viel besser verstehen!« erwiderte Jan Wilhelm mit einem Ton, der noch nicht ganz frei von Zweifel oder von Ironie klang. »Ich danke dir für dein Entgegenkommen.«

Er reichte dem Onkel die Hand, die dieser mit einer zerstreuten Gebärde annahm.

»Im übrigen,« fuhr er fort, »ist die ganze Geschichte so harmlos wie möglich. Ich habe Fräulein van Düren zufällig kennengelernt und ein paarmal gesprochen. Jetzt schon seit Wochen nicht mehr. Das ist alles. Ich könnte höchstens noch hinzufügen, Fräulein van Düren ist rothaarig, und für rothaarige Frauen interessiere ich mich nicht.«

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der junge Mann mit diesem Bericht der Wirklichkeit einiges schuldig blieb. Aber der Generalkonsul hatte sich gar nicht mehr die Mühe gegeben, darauf zu hören. Er wandte sich aufgeregt zu Renz, dessen Bildsäule noch immer den Türrahmen ausfüllte.

»Sie werden den Damen sofort einen Brief von mir überbringen, Renz. Ich gebe morgen einen Tee, zu dem ich die Damen einlade. Sorgen Sie dafür, daß alles so klappt, wie es sich für einen Generalkonsul Stenzel gehört!«

Renz verbeugte sich bis zum rechten Winkel eines halbgeschlossenen Taschenmessers. Stenzel wandte sich wieder seinem Neffen zu.

»Ich hoffe, du kommst auch?«

»Das weiß ich noch nicht, verehrter Oheim! Mir scheint es vor allem wichtig, daß wir nach Ellerndorf hinausfahren!«

Der Generalkonsul klatschte sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

»Meine Gedanken! Meine Gedanken! Und vor allem Zeit! Zeit! Zeit! Du hast recht! Ellerndorf! Also morgen der Tee und übermorgen das Gut! Und überübermorgen der Stapellauf! Und über acht Tage die Aufsichtsratssitzung! Und über vier Wochen die Generalversammlung Und übers Jahr ...?«

Er stockte und kehrte sich ab.

»Übers Jahr?« wiederholte Jan Wilhelm, der plötzlich sehr übermütig geworden war. »Übers Jahr? Vielleicht das große Wunder, auf das wir unser Lebenlang warten! Hoffentlich wird es bis dahin eingelaufen sein.«

Stenzel hatte den Zeigefinger auf die Stirn gelegt und starrte zusammengesunken vor sich hin.

»Übers Jahr? Das große Wunder?« meinte er, indem er auf eine lautlose und befremdende Weise in sich hineinkicherte. »Ja, man könnte es so nennen, weil es durchaus nicht in unsern Schädel hinein will, obwohl es eigentlich die große Selbstverständlichkeit ist.«


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