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19

Sonnabend nachmittags trafen die Festgäste in Ellerndorf ein. Als erste kamen Kasimir Wladimirowitsch und Adele Waldmann in dem etwas altmodischen, aber sehr komfortabeln Reisewagen des Großfürsten. Ginevra und Adele hatten sich wieder seit Wochen nicht gesehen, so daß es viel zu erzählen gab.

»Also du heiratest ihn?« fragte Adele, als sie nebeneinander im Garten zwischen den Astern- und Georginenbeeten lustwandelten.

»Wen heirate ich?« entgegnete Ginevra mit ihrer maskenhaften Kühle, die Adele in diesem Augenblick unbedingt etwas gemacht vorkam. Sie blieb verdutzt stehen und schüttelte den Kopf.

»Wen du heiratest? Auch eine Frage! In der Stadt wird von nichts anderem gesprochen! Doch natürlich den Generalkonsul!«

Ginevra nickte wie abwesend.

»Er behauptet es!«

»Er behauptet es? ... Und du?«

»Ich widerspreche ihm vielleicht nicht.«

»Du widersprichst ihm vielleicht nicht? ... Wie merkwürdig das alles klingt!«

»Nicht wahr? ... Ich finde das auch.«

»Du findest das auch? ... Hat er dich denn noch nicht gefragt, ob du willst oder nicht?«

»Ich glaube mich zu entsinnen, daß er gefragt hat.«

»Und du hast ihm nicht widersprochen?«

»Meines Wissens nicht!«

»Also hat er dein Jawort?«

Ginevra warf unwillig den Kopf zurück, so daß ihre Haare wie ein kupfriges Natterngezücht durcheinanderzüngelten.

»Jawort! ... Jawort! ... Was sind das für prähistorische Begriffe! So hat man in der Jurazeitepoche gedacht! Ich habe ihm nicht widersprochen, als er davon zu reden anfing. Aber ich könnte es ja noch immer tun! ... Interessiert es dich wirklich so sehr, meine gute Adele?«

Adele zuckte mit den Achseln. Sie hatte ein bitteres Gefühl.

»Ich glaubte, deine Freundin zu sein!«

»Freundin ...?!« stieß Ginevra heraus. »Es gibt keine Freundschaft! ... Niemand hat Freunde in dieser Welt!«

»Ginevra ...!« rief Adele erregt. »Du weißt ja nicht, was du sprichst! ... Was ist mir dir vorgegangen? Ich denke, ich finde eine glückliche Braut?«

Ginevra stampfte heftig mit dem Fuß auf.

»Glückliche Braut ...?! Habt ihr euch alle vereinigt, mich zu verhöhnen?«

Adele legte die Hand auf ihren Arm.

»Bitte! Laß mich mal ruhig sprechen! In der Stadt ist allgemein die Ansicht verbreitet, daß heute hier Verlobung gefeiert werden soll. Du und der Generalkonsul! Auch Kasimir Wladimirowitsch nimmt es an. Ebenso Herzigkeit! Der hat schon eine Rede vorbereitet!«

Ginevra mußte mitten in ihren Zorn hinein lachen.

»Herzigkeit? Ein Verlobungstoast? ... Na, dann bleibt allerdings nichts anderes übrig! ... Herzigkeit! Der hat uns noch grade gefehlt!«

Beide schlenderten weiter nebeneinander her.

»Na, siehst du?« sagte Adele. »Jetzt lachst du wieder! Ich hoffe, dein Wort über die Freundschaft war nur so ein momentaner Impuls!«

Sie legte den Arm um Ginevras Schulter, aber jene entzog sich ihr.

»Bitte! Nichts weniger als das!« sagte sie. »Wenn du es durchaus wissen willst: hat dich unsere sogenannte Freundschaft gehindert, in aller Gemütsruhe mit ihm anzubandeln?«

Adele blieb von neuem stehen.

»Mit wem anzubandeln? Von wem sprichst du?«

»Na ja! Mit ihm! Mit dem Blondinenjäger! Du bringst ja auch alles für ihn mit! Noch dazu aschblond! Was will er mehr? Habe ihn doch! Laß ihn dir unter Glas und Rahmen setzen!«

Adele stemmte die Arme in die Seiten und brach in ein Lachen aus, dessen vollendete Natürlichkeit keinen Gedanken an Bühnengelächter aufkommen ließ.

»Ich mit Herrn Köhler? ... Es liegt nicht das geringste zwischen uns vor! Ich schwöre es dir! Ich bin Kasimir Wladimirowitsch seit einem halben Jahr so treu, daß ich mich beinahe selber schäme! Ich weiß nicht, wie er das immer wieder zuwege bringt! Er hat seine eigene Manier! Ich werde schon noch damit fertig! ... Aber mit Herrn Köhler ist nichts! Gar nichts!«

Ginevra machte eine erregte Gebärde der Abwehr.

»Erzähle mir keine Märchen, meine liebe Adele! Ihr trefft euch ja immer, wenn er nach der Stadt kommt! Ich weiß es genau! Es hat keinen Zweck, daß du es bestreitest!«

»Einmal!« rief Adele. »Und auch das war nur Zufall! Mein heiliges Ehrenwort! Wir begegneten uns und tranken Kaffee zusammen! So wahr mir Gott helfe!«

»Bei Laudien! Ich weiß alles! In einer Separatloge!«

»Ein einziges Mal! Ich schwöre es dir! Die harmloseste Geschichte von der Welt! ... Aber das ist ja großartig! Wer dir das wieder zugetragen hat ...?«

»Ich habe eben auch meine Kundschafter! ... Vielleicht gibt es anonyme Briefschreiber mit blaßblauen Briefchen, die stark nach Parfüm riechen ...«

Adele Waldmann biß sich auf die Lippen. Das konnte nur jemand sein, der sie beide zusammen in der Konditorei gesehen hatte! War es denkbar, daß Kasimir Wladimirowitsch ...? Aber wie auch immer ... es imponierte ihr! Zuzutrauen war es ihrem »hohen Herrn«, und es bewies, daß ihm kein Mittel zu gering war, sich ihrer Treue zu versichern, und allerdings auch keines zu schlecht, um sie mit seiner Rache zu treffen, wenn sie ihn verriet! Es war ein gefährliches Spiel und ein gefährlicher Spieler, mit dem sie es zu spielen hatte. Aber lag nicht ein eigner Reiz in solchen gefahrvollen Partien, und war nicht der Einsatz, der zu gewinnen war, der höchste, den es in einer Laufbahn wie der ihrigen gab? Reichtum und! Fürstenrang! Und was sie dafür opferte? Einen simplen jungen Mann, der seine Scholle beackerte! Einen Bauernhofbesitzer! Nicht viel mehr! Ihr wundes Herz wollte zwar von der billigen Medizin nicht viel wissen, die der Verstand ihm verabreichte, und schrie tief in der Brust vor Weh. Aber sie hatte in einer harten und bittern Jugend gelernt, dem Leben zu geben, was des Lebens ist. So mußte das Herz der armen kleinen Schauspielerin schweigen.

»Ich habe nie etwas mit Jan Wilhelm Köhler gehabt!« sagte sie, tief aufatmend. »Und ich werde nie etwas mit ihm haben! Ich schwöre es dir bei allem, was mir heilig ist! Er gehört dir ganz allein! Ich wußte es ja längst! Werde glücklich mit ihm! ... Was mich betrifft ... ich habe ganz andere Lebenspläne!«

Ginevra kreuzte die Arme über der Brust und musterte die Schauspielerin, die etwas bleich aussah.

»Großfürstin?« sagte sie und lachte kurz auf.

»Es wäre ja nicht der erste Fall!« erwiderte Adele achselzuckend. »Warum sollte sich ein Mädchen aus dem Volk heutzutage nicht auch zu einem Fürsten herablassen dürfen?«

»Du bist von einer Vorurteilslosigkeit, meine liebe Adele ...!« sagte Ginevra mit einem ironischen Seitenblick.

Die Schauspielerin achtete nicht darauf.

»Die Mesalliance kann ja auch mal eine umgekehrte sein. Du kennst meinen Standpunkt. Ich stehe auf der äußersten Linken!«

Ginevra machte eine abwinkende Handbewegung.

»Es ist gut, meine Liebe! Verlassen wir das Thema! Ich bin in jeder Beziehung im Bilde. Dank auch noch für deine Beichte. Ich wünsche dir Glück zum Avancement oder vielmehr zur Mesalliance! Und jetzt wollen wir sehen, was die andern machen. Es kann sein, daß es noch ein etwas aufgeregter Tag wird!«

Jan Wilhelm und Kasimir Wladimirowitsch ritten nebeneinander auf einem der staubigen Triftwege zwischen den abgeernteten Stoppelfeldern dahin. Der Exherrscher hatte sich von dem jungen Gutsherrn durch Stall, Scheune, Speicher, Geschirrkammer, Wirtschaftshof, zuletzt durch Obst- und Gemüsegarten führen lassen, mit gelegentlichen Bemerkungen, Anregungen, Urteilen sein Sachverständnis auf diesem Gebiet bekundend. Er sei ja, so führte er aus, in seiner Eigenschaft als langjähriger Landesvater von Syrmien auch Gutsherr eines immerhin größeren Areals von hervorragender Bonität gewesen und habe dadurch so manche Einsicht in diese agrarischen Dinge gewonnen. Deshalb interessiere es ihn, auch einmal die einheimische Landwirtschaft, noch dazu eine von so ausgeprägter Eigenart wie diese hier, mit jenem in Syrmien empfangenen Bilde zu vergleichen und so zu einem Gesamtüberblick über die heutige Agrarfrage zu gelangen. Der Generalkonsul, der als Dritter an dem Rundgang teilnahm, hatte den Bemerkungen des Großfürsten in gebührendem Respekt beigepflichtet und sie mit begleitenden Armbewegungen unterstrichen, indem er seinen Neffen auf das in Syrmien gegebene landwirtschaftliche Vorbild des Herrschers hinwies. Als dann der Potentat den Wunsch äußerte, auch die Felder des Gutes nach ihrer Lage, Verteilung, Bodenklasse kennenzulernen, was am besten zu Pferde geschehen könne, hatte Stenzel bescheiden sich zurückgezogen, da er sich seinen übrigen Gästen widmen müsse. Jan Wilhelm wußte, daß der Onkel es nicht grade sehr mit dem Reiten hatte, und lächelte im stillen über die Eile, mit der der kleine aufgeregte Mann sich verabschiedete.

»Ich verstehe jetzt nachträglich, mein lieber Herr Köhler, warum Sie doch die heimische Erde der ungarischen Pußta vorgezogen haben,« sagte der Großfürst, indem er den etwas bockigen Braunen mit kundiger Kavalleristenhand tanzen ließ. »Hier haben wir die intensive Wirtschaft. Dort wäre es die extensive gewesen. Ihre Neigungen weisen Sie offensichtlich mehr auf die erstere hin.«

»Ach, wissen Sie, Hoheit, ob intensiv oder extensiv, ich hoffe, mit beiden fertig zu werden!« erwiderte Jan Wilhelm und hielt seinen ziemlich lebhaften Fuchswallach zu etwas ruhigerer Gangart an. »Wenigstens wäre es schlimm, wenn es nicht so wäre! Nein! Für meinen Entschluß waren einzig und allein Privatgründe maßgebend!«

»Privatgründe! Sehr richtig! Meine Auslegung hat mich also nicht getäuscht! ... Und nun ist das Bild doch wieder in eine etwas andere Beleuchtung gerückt.«

»Welches Bild? Ich verstehe nicht ganz, Hoheit!«

Jan Wilhelm parierte seinen Fuchs, der durchaus zu dem Braunen des andern hinwollte.

»Nun, ja!« bemerkte Kasimir Wladimirowitsch und lächelte. »Es ist ja doch wohl ein offenes Geheimnis, daß wir heute hier versammelt sind, um Zeugen eines freudigen Familienereignisses zu werden. Ihr Oheim, der Herr Generalkonsul, mein vieljähriger Freund und Berater, will sich mit der jungen Dame verloben. Ich finde das vom Standpunkt Ihres Onkels sehr begreiflich. Die Schönheit der jungen Dame, ihr Charme, ihr Reiz, ihr Geist sind über jeden Zweifel erhaben.«

Jan Wilhelms Wallach bäumte sich plötzlich, fügte sich aber sofort dem Schenkeldruck seines Reiters.

»Und weiter, Hoheit? ... Ich verstehe noch immer nicht ganz?«

»Darf ich offen sein?«

»Ich bitte darum!«

»Ich hatte mir die Entwicklung doch etwas anders vorgestellt.«

»In welchem Sinne?«

»In dem Sinne, der dem ungeschriebenen Gesetz der Natur entspricht!«

»Wie lautet das Gesetz?«

»Jugend gehört zu Jugend! Das klingt trivial. Aber diese Urbegriffe vertragen keine distinktere Formulierung. Sie haben mir gestattet, offen zu sein. Ich hätte mir gewünscht, an diesem unvergleichlich schönen Spätsommertage Zeuge einer ... verzeihen Sie ... einer naturgemäßeren Verbindung zu werden!«

»Welche Verbindung meinen Sie?«

»Zwischen dem jungen, tapfern, entschlossenen Reiter, Landwirt und Soldaten, den ich die Ehre habe, an meiner Seite zu sehen, und der jungen Dame, die ich die Ehre hatte, bereits zu nennen.«

Jan Wilhelms Fuchs drängte wieder zu dem Braunen des Großfürsten. Pferde und Reiter hielten jetzt hart nebeneinander.

»Darf ich ebenfalls offen sein, Hoheit?« sagte der junge Mann.

»Offenheit gegen Offenheit!« erwiderte der Großfürst und nickte lebhaft. »Das ist eine Selbstverständlichkeit!«

Jan Wilhelm beugte sich dicht zu seinem Nachbarn hinüber.

»Wie verträgt sich mit Ihren Grundsätzen, Hoheit, die ganz besondere Protektion, die Sie Fräulein Adele Waldmann angedeihen lassen? Ich denke, Jugend gehört zu Jugend? Bitte, mir das nicht übelzunehmen!«

Der Großfürst lachte laut und herzlich.

»Übelnehmen? Nicht von ferne! Ich wußte ja, daß Sie mir damit kommen würden! ... Ich will es Ihnen kurz und sachlich beantworten, lieber Freund. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, Fräulein Waldmann zur Monogamie zu erziehen!«

Jan Wilhelm mußte unwillkürlich ebenfalls lachen.

»Zur Monogamie? ... Ist sie so polygam veranlagt?«

»Schrecklich! ... Und das will ich ihr abgewöhnen!«

»Kann das kein anderer? ... Jugend gehört zu Jugend, Hoheit!«

Kasimir Wladimirowitsch klatschte mehrmals mit der flachen Hand auf den feisten Rücken seines Braunen.

»Aber nicht in diesem Fall!« rief er. »Dazu gehört Erfahrung, Nachsicht, Geduld! Wo es am Platze ist, auch Strenge! Dazu muß man dreißig Jahre auf dem Balkan regiert haben. Sonst mißlingt das Experiment! ... Nein! Nein! Das kann kein anderer als ich! ... Und jetzt, denke ich, lassen wir unsere Gäule mal um die Wette laufen, junger Freund! Dort die Esche oder Sturmweide kurz vor dem Dorf ... Supponieren wir dort unser Zielband!«

»Abgemacht, Hoheit!«

Die beiden Gäule bäumten sich, griffen aus, blieben hart nebeneinander und gingen an der Sturmweide vor dem Dorf Kopf an Kopf durch das Ziel.

»Bravo, Hoheit!« rief Jan Wilhelm dem Fürsten zu. »Das war ein scharfes Rennen! Ich glaube, Sie werden auch das andere machen!«

»Ich glaube es auch!« gab Kasimir Wladimirowitsch zurück. »Aber es gehört eine leichte Hand dazu! Die hat man nicht in der Jugend!«

»Dann meldet also die Jugend in diesem Fall Verzicht an!«

Jan Wilhelm salutierte im rechten Winkel vor dem Fürsten, ließ seinem Fuchs die Zügel und sprengte davon. Der alte Potentat folgte ihm im langsamen Trab.

»Sie waren mit dem Großfürsten ausgeritten?« forschte Adele Waldmann, die den jungen Gutsbesitzer vor dem Hoftor hatte vom Gaul springen sehen.

»Ja, es war ein kleines Wettrennen zwischen Saul und David,« entgegnete Jan Wilhelm, indem er sich den Schweiß von der Stirn wischte.

Die Schauspielerin lachte.

»Und wer hat es gewonnen? Sie sehen ziemlich erhitzt aus! ... Hoffentlich sind Sie nicht zweiter Sieger geblieben? Mit Kasimir Wladimirowitsch ist nicht zu spaßen!«

»Das stimmt! Es war ein totes Rennen! ... Die Jugend hat Verzicht angemeldet!«

Er sah sie bedeutsam an, verbeugte sich und wollte gehen. Aber sie legte die Hand auf seinen Arm.

»Sie sind mir zuvorgekommen, bester Freund! Ich wollte Ihnen das gleiche sagen. Die Jugend hat Verzicht angemeldet! Man kann es nicht treffender bezeichnen. Gewiß ein Wort von Kasimir Wladimirowitsch! Er ist groß in solchen Wendungen!«

Jan Wilhelm lächelte leicht.

»Bedaure! Aber diesmal ist es von mir!«

»Aber es könnte von ihm sein!« beharrte Adele. »Schade, daß wir beide uns nicht zur richtigen Stunde gefunden haben! Vor einem Jahr hätte das Auto um die Ecke rasen müssen! ... Ich bin ein sehr netter Kerl! Sie wären mit mir zufrieden gewesen! ... Und ich bestimmt mit Ihnen! ... Na ja! Das Leben! ... Aber ehe Sie gehen ... noch ein gutes Werk! Ich bin es Ihnen schuldig! Und ihr vielleicht auch! Vor vierzehn Tagen hätt' ich's noch nicht gekonnt: Ginevra liebt Sie! ... Liebt Sie! ... Tun Sie das Ihrige!«

Sie lief schnell davon und verschwand um die Ecke des Hauses. Jan Wilhelm hatte nur noch den Farbenfleck ihres türkisblauen Sommerkleides auf seiner Netzhaut. Ihre letzten herausgesprudelten Sätze klangen noch in seinen Ohren:

»Ginevra liebt Sie! ... Tun Sie das Ihrige!«

Direktor Henrici und Geheimrat Herzigkeit waren mit der Bahn gekommen und im Wagen von der Station abgeholt worden. Augustin Haller und Lasar Apfel hatten den von der Stadt nach Ellerndorf mehrmals täglich verkehrenden Autobus benutzt.

»Da ich kein Großkophta bin, so kann ich mir keinen Mercedes leisten!« äußerte der Besitzer des »Winkenden Känguruhs«. »Ich fahre mit dem Volk! Ich bin Fleisch von seinem Fleisch und Blut von seinem Blut! Und das erfüllt mich mit Stolz! Als ich noch meine Diamantenfarm bei Swakopmund hatte und eine ganze Garde von Hottentottenmädels zu meiner persönlichen Verfügung stand, habe ich mir freilich nicht beikommen lassen, daß ich nochmal auf solchen elenden Rumpelkasten angewiesen sein würde! Ich hätte mir zwanzig Mercedes leisten können, wenn es damals schon welche in Südwest gegeben hätte!«

»So eine Garde von Hottentottenmädels!« gurgelte Lasar Apfel. »Eine wahre Pracht! Und wo man hinpackt, ist es interessant! Davon mußt du mir mal mehr erzählen, Direktor! Ich habe öfters solche Visionen in der Nacht! Ich sehe ganze Karawanen von Sklavinnen! Alle schwarz wie Ebenholz! Ah!« Er schluckte mehrmals heftig und rollte seine Augen, so daß man das Weiße darin sah. »Ich glaube,« fuhr er fort, »der alte Brigant vom Balkan ist ein ganz gefährlicher Sadist! Der hat sich die Adele doch vollständig abgerichtet! Die frißt ihm aus der Hand! Was war das für ein Luder, als sie herkam! Das macht er alles mit seinen zusammengeraubten Millionen! Da kann einem natürlich die Peitsche locker sitzen! So einem parieren die Weiber! Ah! Wir werden den alten Bluthund ja heute auch bei der Verlobung genießen!«

Auf dem Rasen unweit des zweihundertjährigen Lindenbaums waren Tische und Stühle aufgestellt. Weingläser standen auf den Tischen, Flaschen lagen in dem kurzgeschorenen Grase. Zur würdigeren Vorbereitung des Festes und etwas zum Verdruß Jan Wilhelms, der das als Eingriff in seine Rechte betrachtete, hatte der Generalkonsul den Rasen mit der neuangeschafften Gartenmähmaschine glattscheren lassen. Das gewonnene Heu war zu einem ansehnlichen Haufen unter dem Lindenbaum zusammengeharkt. Es hätte schon tags zuvor weggeschafft werden sollen, war aber wegen der drängenden Erntearbeit noch an seinem Platz geblieben. Der Generalkonsul hatte das in Hinsicht auf das geplante Fest als eine Verschandelung; des Gartens und als grobe Ungehörigkeit empfunden, gegen die er bei seinem Neffen scharfen, aber vergeblichen Einspruch erhob. Jan Wilhelm beharrte auf seinem Kopf, daß jetzt keine Zeit für derartige Nebenarbeiten sei, die nur die Wirtschaft erschwerten. Zuerst müsse die Ernte herein, alles andere komme erst nachher. Es sei auch nicht ersichtlich, wieso Gartenheu eine Verschandelung; des Gartens sein solle. Wem es auf seinem Stuhl zu hart werde, könne sich sogar hineinlegen. Im Punkte Eigensinn waren, wie man sieht, Neffe und Onkel einander ebenbürtig. Nur daß diesmal der Onkel wohl oder übel hatte nachgeben müssen.

Sehr überraschend war, daß auch Berthold Krispien sich hatte bewegen lassen, an der kleinen ländlichen Festlichkeit teilzunehmen. Man konnte sich in Ellerndorf gar nicht mehr entsinnen, daß der Dichter je seine Behausung verlassen hatte. Der vereinigten Beredsamkeit von Helene und Ginevra war das Kunststück schließlich doch geglückt. Es sei, so gaben sie zu bedenken, ein Gebot nicht nur der Dankbarkeit, sondern auch der Klugheit, mit den Menschen, die sich für die Aufführung seines Werkes einzusetzen gedächten, bei dieser Gelegenheit in engere Fühlung zu kommen und ihnen die Hand zu drücken. Der Dichter konnte sich dieser Beweisführung nicht ganz entziehen, so sehr auch Fräulein Florentine murrte und belferte. Diese Besuche der beiden Frauen, die sich schon monatelang wiederholten, erschienen ihr als schwerer Einbruch in ihre geheiligten Rechte, jenes geplante Theaterunternehmen als der Gipfel der Verrücktheit. Krispien stimmte ihr im letzteren Punkte so ziemlich bei. Er glaubte nicht an die Aufführbarkeit seines Werkes auf einer heutigen Bühne und mit heutigen Schauspielern. Erst die Zukunft werde reif dafür sein. Aber da dieses seltsame Mädchen, das zum Licht seiner Tage oder vielmehr seiner Nächte geworden war, durchaus auf seinem Willen bestand, so hatte er sich gefügt und fügte sich auch heute in das Unvermeidliche. Seufzend hatte er sich von seiner Florentine in den alten spiegelglatten Bratenrock helfen lassen, einen dicken Schal um den Hals geschlungen und seine Tiara mit einer richtigen Pelzmütze vertauscht. Denn er fürchtete nichts so sehr wie Erkältungen, und Fräulein Florentine teilte in diesem Punkte ausnahmsweise seine Ansicht. Also angetan hatte er an Florentines Arm sein Schneckenhaus an der Kirchhofsmauer hinter sich gelassen und war – ein langes schwarzes Ausrufungszeichen – durch das Tageslicht von Ellerndorf gepilgert, dessen Jugend ihm in respektvollem Abstand folgte, denn seine Hornisse schoß giftige Blicke nach allen Seiten und beruhigte sich erst, als sie ihn glücklich am Köhlerschen Garten abgeliefert hatte.

Recht neugierig war Balder Heydemann gewesen, dieses »Fossil einer antediluvianischen Dichtergeneration« kennenzulernen. Er hatte einige Blicke in Krispiens Bücher geworfen, die er von Ginevra entlieh. Sie hatten seine Prognose vollauf bestätigt: Verblasene Romantik, ohne den leisesten Atemzug der Zeit. Aber vielleicht grade darum ein Studienobjekt für den Literarhistoriker, der er doch neben vielem andern auch war. Man sah ihn daher bald neben Krispien sitzen und auf ihn einsprechen.

»Schreiben Sie eigentlich immer noch, alter Herr?« fragte er. »Ödet Sie die Geschichte nicht auf die Dauer an?«

»Nein! Die Geschichte ödet mich noch immer nicht an!« erwiderte Krispien mit seiner hohlen Stimme, in der keine Spur von Empfindlichkeit war, und knüpfte seinen Schal fester, da er trotz des warmen windstillen Spätsommernachmittags irgendwoher einen Luftzug zu spüren glaubte. »Die Geschichte wird mich wohl auch bis an mein Ende nicht anöden,« setzte er nach einem Augenblick mit gelassenem Lächeln hinzu.

Balder Heydemann schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Merkwürdig! Es müßte Ihnen doch eigentlich zum Halse herauswachsen, alter Herr!«

»Es wächst mir aber nicht zum Halse heraus, junger Freund!« erwiderte Krispien, der manchmal recht beharrlich sein konnte.

Der Student musterte seinen Nachbarn durch die mächtige grüne Hornbrille, die er zu Ehren des Tages angelegt hatte.

»Irgendeinen Widerhall bei Ihren Zeitgenossen haben Sie nicht mehr! Können Sie nach Ihrer ganzen antiquierten Manier gar nicht haben!«

»Nein! Kann ich gar nicht haben!« bestätigte Krispien.

»Haben Sie vielleicht nie gehabt!« fuhr Balder eifrig fort.

»Habe ich bestimmt nie gehabt!« sagte Krispien und nickte ergeben.

»Na, also!« schloß der Student. »Wozu dann das alles?«

»Ja, das frage ich mich oft genug auch! Aber ich finde keine Antwort und deshalb schreibe ich eben weiter! ... Ich hoffe, Sie sind mir deshalb nicht böse?«

Krispien hatte seinen Kopf leicht geneigt und sah seinem Untersuchungsrichter sanft in die Augen. Dieser winkte ab.

»Böse? Nein! Böse bin ich Ihnen weiter nicht! Ich halte es nur für überflüssig!«

»Ich habe mich stets für überflüssig gehalten!« bestätigte Krispien. »Das weiß Gott!«

»Besonders auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht! ... Was kommt bei dieser ganzen Schreiberei heraus? Nichts!« sagte der Student, indem er auf einen Augenblick seine grüne Hornbrille abnahm, um sie zu putzen.

»Nichts!« echote Krispien gottergeben.

»Glauben Sie nicht, daß ich von meiner eignen Schreiberei viel besser denke! Es ist natürlich eine viel größere Summierung von Gegenwartsideen! Eine zehnmal stärkere Assimilierung des Zeitgeists! Es sind auch einige ganz neue grundlegende Gedanken darin! Aber was will das alles besagen? Makulatur!«

»Makulatur!« pflichtete Krispien bei.

»Der Moloch Maschine verschluckt alles! Man muß die Konsequenzen daraus ziehen! Ich sattle um und gehe zur Industrie über!«

»Zu der Sie ja wohl schon immer gehörten?« meinte Krispien.

»Ja, ich stamme daraus her,« bestätigte der Student und warf dem andern einen prüfenden Seitenblick zu. Er schien damit beschäftigt, den Fall des Inkulpaten von einer andern Seite her zu untersuchen.

»Ich habe Ihre Bücher genau gelesen und analysiert,« sagte er nach kurzem Schweigen. »Sie sind eine Synthese von Novalis, Hoffmann, Storm, Keller, Ibsen, Kierkegaard und einigen andern! Von jedem etwas und das ganze ... Na ja! Sie verstehen mich schon ...«

»Und danke Ihnen für den sanften Gnadenstoß!« versicherte Krispien und reichte Balder die Hand. »Ich kann jetzt in Frieden scheiden!«

»Was serviert uns der junge Hornkäfer da für einen Affendreck?« rief in diesem Augenblick Lasar Apfel, der sich in die Nähe der beiden gesetzt und schon einige Gläser von dem guten Stenzelschen Mosel hinter die Binde gegossen hatte. »So eine Rolle wie mein Ahasver in ›Wanderer und Sphinx‹ soll erst mal wieder geschrieben werden! Faust und Mephisto in einer Person! Eine Bombenrolle! ... Eine Bombenrolle! Ich schlucke das Leid der ganzen Welt in mich ein und speie es vor euch hin, ihr Publikumsbande! ... Speie es vor euch hin! ... Speie es vor euch hin!«

Er saß rittlings auf seinem Stuhl, hatte die Arme über die Lehne gebreitet, den Kopf darauf gelegt und gurgelte die Worte, als ob er seine Drohung sofort wahr machen wolle. Am Nachbartisch war man auf die Unterhaltung aufmerksam geworden.

»Vielleicht wäre es doch richtig gewesen, Sie hätten das Krispiensche Werk für das Landestheater in Aussicht genommen?« äußerte Geheimrat Herzigkeit halblaut zu Direktor Henrici, dessen breites Genießergesicht in hundert ironischen Lichtern zwinkerte.

»Ich werde den Teufel tun!« gab Henrici zurück. »Einen alten Theaterhasen wie mich blufft man nicht! Ich kenne den Zimt! Kakao in sämtlichen Couleurs! Mag sich der Kollege Haller seine Lorbeeren aus dem Kakao klauben! Ich wasche meine Hände!«

»Es wäre aber immerhin mal das Werk eines Einheimischen, eines Landeskindes gewesen!« bemerkte Herzigkeit, nicht ohne tadelnden Unterton. Henrici, der grade an einem Kaviarbrötchen schluckte, wischte sich die Lippen und klopfte seinem Chef auf die Schulter.

»Mein verehrter Geheimrat! Ein smarter amerikanischer Reißer bringt uns mehr volle Häuser als zehn Fauste von Landeskindern, und wenn sie Shakespeare und Goethe in einer Person sind! Das ist der Weisheit letzter Schluß aus dem Munde eines Theaterdirektors!«

Er legte sich einige weitere Kaviarbrötchen auf den Teller, um für alle Fälle einen Fundes zu haben, und weil nicht einzusehen war, weshalb sie Apfel oder Haller hätten essen sollen.

»Der Weisheit letzter Schluß!« wiederholte Herzigkeit nachdenklich. »Da bringen Sie mich auf eine gute Idee! Man wird doch ein paar Worte auf den Gastgeber sprechen müssen ...«

»Sie wollen die Verlobung des jungen Paares feierlich proklamieren?« fiel der Theaterdirektor ein. »Ich halte schon mein Taschentuch bereit! Ich verspreche Ihnen, daß ich ganz dicke Tränen weinen werde!«

»Sie greifen vor, lieber Freund!« tadelte Herzigkeit. »So weit sind wir ja noch gar nicht! Wir müssen doch erst mal den Verlauf der Ereignisse abwarten. Ich nehme ja auch an, daß der gute Generalkonsul die Gelegenheit beim Schopf ergreifen wird, um seine Verlobung bekanntzugeben. Das scheint mir der Zweck der ganzen Veranstaltung zu sein. Aber bis dahin müssen wir uns eben gedulden!«

» Ich habe Zeit!« äußerte Henrici, der grade wieder den Mund voll hatte. »Aber Sie müssen unbedingt auf die Verlobung sprechen!«

»Nein, nein! So geht es nicht!« grübelte Herzigkeit. »Auf die Verlobung sprechen, ehe sie offiziell ist? Da könnte man ja in Teufels Küche kommen! Stellen Sie sich vor, Direktor, das ganze Gerücht wäre aus der Luft gegriffen, Stenzel dächte gar nicht an so eine Dummheit, denn es ist ja eine ... und wenn ich dann aufstehe und mit dem glücklichen jungen Paar anrücke ... Um Gottes willen! Nein, nein, nein, nein, nein! Auf den Kalmus piepen wir nicht, mein lieber Henrici! Da müssen Sie früher aufstehen, wenn Sie mich reinlegen wollen!«

»Ich Sie reinlegen?« sagte Henrici mit aufrichtig gekränktem Ton. »Ich werde doch meinen verehrten Chef nicht reinlegen wollen?«

»Ja, ja, wissen schon, wissen schon!« rief Herzigkeit und winkte ab. »Dreißig Jahre Theaterdirektor ...! Der stibitzt ja dem Teufel die arme Seele aus den Fingern! ... Aber einen alten Praktikus wie mich führen Sie nicht aufs Glatteis! ... Ich werde sprechen! Aber nicht auf die Verlobung!«

»Sondern?«

»Auf unsere Gesellschaft! Und auf den Gastgeber natürlich! Ich werde in zwei Worten einen Querschnitt unserer ganzen Gesellschaft geben! Das ist der Weisheit letzter Schluß, auf den Sie mich gebracht haben!«

»Na also! Dies Kind, kein Engel ist so rein!« rief Henrici, indem er sich auf die Brust klopfte und sein Ebergebiß fletschte. »Aber sehen Sie da,« setzte er hinzu, »kaum hat man den Wolf genennt, so kommt er gerennt.«

Johann Sebastian, der mehrmals zwischen Haus und Garten hin und her geeilt und jetzt einige Zeit unsichtbar gewesen war, näherte sich den Rasentischen. Er machte einen aufgeregten, fahrigen, zerstreuten Eindruck, obwohl man ja in diesem Punkt an manches bei ihm gewöhnt war.

»Sind die Herren mit allem versehen?« rief er hastig und wie jemand, der nicht bei der Sache ist. »Brötchen? Wein? Likör? Zigarren? Zigaretten? ... Wie singt der Dichter? Freut euch des Lebens, solang' noch das Lämpchen glüht! Pflücket die Rose, ehe sie verblüht! ... Sehen Sie, so wie ich es jetzt tue!«

Er brach von einem Rosenstamm, der sich zu ihm hinüberneigte, eine schwere, volle, dunkelrote Rose und schwenkte sie in der Luft. Ihre überreifen Blätter stoben auseinander und rieselten wie Blutstropfen auf den grünen Rasen. Stenzel kicherte in sich hinein und hob den entblätterten Stengel empor.

»Das ist der Schluß von aller Herrlichkeit! ... Ein welker Stengel! ... Aber hören Sie das Vogelgezwitscher?« Er deutete nach der Krone des alten Lindenbaums hinauf. »Wenden Sie dem Vogelgezwitscher Ihre Aufmerksamkeit zu, meine Herren! Wir müssen wieder werden wie die da oben! Dort liegt unsere Zukunft, meine Herren!«

»Ausgezeichneter Witz! Auf den Baum! Auf den Baum!« rief Henrici und lachte in das betretene Schweigen der andern hinein. Es wirkte wie eine Erlösung. Alle lachten mit. Selbst Berthold Krispien vergaß seine sonstige Ernsthaftigkeit und konnte ein sanftes Lächeln nicht unterdrücken. Der Generalkonsul schenkte der allgemeinen Heiterkeit weiter keine Beachtung. Seine Blicke waren auf den Hintergrund des Gartens gerichtet, von wo sich Helene und der Großfürst, Ginevra und Adele näherten. Weiter zurück standen Olga und Ottilie im Gespräch mit Jan Wilhelm.

Stenzel kehrte der Herrengesellschaft den Rücken und wandte sich den Herankommenden zu.

»Meine liebe Ginevra! Darf ich bitten?« sagte er und trat auf einen Seitenweg, der zwischen Stachelbeerbüschen in einen andern Teil des alten weitläufigen Gartens führte. Man war hier den Blicken der Gesellschaft entzogen. Ginevra entschuldigte sich bei Adele und folgte ihrem sichtlich aufgeregten Anbeter.

»Gut, daß ich dich endlich treffe!« sagte er. »Ich suchte dich schon lange. Es ist ein wichtiger Augenblick! Ich habe mit dir zu sprechen!«

Ginevra legte die Hand an ihren Kopf. Ihre Stirn war verdüstert.

»Ein sehr ungeeigneter Moment!« erwiderte sie mit halber Stimme. »Grade jetzt, wo ich dir eben mitteilen wollte, daß ich wieder mal einen Anfall meiner alten dummen Migräne habe!«

»Migräne hast du?«

»Ja! Und deshalb möchte ich mich zurückziehen! Wenigstens für ein paar Stunden! Ich brauche Ruhe!«

»In diesem entscheidenden Augenblick?«

Ginevra lächelte schwach.

»Die Migräne nimmt leider keine Rücksicht darauf, ob man grade was vorhat oder nicht. Wieso ist es übrigens so besonders entscheidend?«

Stenzel hatte eine unwillige Gebärde.

»Unsere Verlobung! Ich will sie bekanntgeben! Ist das etwa kein entscheidender Augenblick?«

Ginevra faßte sich von neuem an den Kopf. Die Migräne schien rasch zuzunehmen.

»Verlobung? ... In diesem Zustand? ... Unmöglich, lieber Freund! Du siehst, wie ich zu kämpfen habe! ... Ich hätte es doch auch vorher wissen müssen! Du stellst mich einfach vor vollendete Tatsachen!«

Stenzel lächelte geschmeichelt.

»Es ist die Taktik, der ich meine Laufbahn und meine Erfolge zu verdanken habe!« sagte er und steckte die Hand in den Ausschnitt seiner hellen Flanellweste.

»Aber bei mir geht das nun mal nicht!« entgegnete Ginevra und runzelte die Stirn. »Du wirst dich schon daran gewöhnen müssen! Die Leibeigenschaft ist abgeschafft! Jedenfalls bitte ich dich, mir bis morgen Zeit zu lassen. Wir können dann alles in Ruhe besprechen. So, wie du es dir denkst, geht es unter gar keinen Umständen!«

Sie wollte sich abwenden, aber Stenzel ergriff ihre Hand.

»Es wird und muß gehen!« herrschte er sie an. »Komm! Komm! Unsere Gesellschaft fiebert schon!«

»Ich fiebere ebenfalls. Aber vor Kopfschmerzen! Bitte! Gib meinen Arm frei! Ich lasse mich nicht vor diese Leute schleppen!«

Das junge Mädchen knirschte mit den Zähnen, während sie Stenzel ihren Arm zu entwinden suchte. Es war eine wilde Energie in ihrem Gesicht, die Stenzel plötzlich zu ernüchtern schien. Er ließ sie los und sagte mit einem hilflosen Ton:

»Ginevra! Das Storchenpaar auf der Scheune ist auch schon abgezogen! Seit heute früh sind sie fort!«

»Ja, und?« lachte Ginevra, die sich wieder beruhigt hatte.

»Und? fragst du? Es ist das Signal für unsere Verlobung und Hochzeit mit daranschließender Hochzeitsreise!«

Ginevra lachte laut auf.

»Wir können doch unsere Entschlüsse unmöglich von dem Diktat eines Storchenpaares abhängig machen!«

Der Generalkonsul streckte seinen Zeigefinger in die Luft.

»Schon die alten Griechen haben es getan! Der Vogelflug war für sie entscheidend!«

»Du erinnerst dich vielleicht, daß ich einige Bedingungen gestellt habe, lieber Freund?« sagte Ginevra nach einem Augenblick, ziemlich ungeduldig. »Ehe sie nicht erfüllt sind, bitte ich dich, die ganze Frage ruhen zu lassen! ... Und jetzt entschuldige mich! Der Kopf zerspringt mir!«

Sie nickte ihm kurz zu und entfernte sich.

Stenzel legte die Hand an die Stirn.

»Bedingungen gestellt?« murmelte er. »Ja, sie hat recht! Eine Bedingung ist noch nicht erfüllt! Ich werde ihr beweisen, daß ein Johann Sebastian Stenzel auch damit fertig wird!«

Er ging ins Haus, stieg die Treppe zu seinem Schlafzimmer empor, vertauschte seinen hellen Flanellanzug mit der immer bereitliegenden Turnhose und holte aus der Kommode eine Kindertrompete, die er sich neulich beim Dominiksfest, dem altberühmten Jahrmarktsfest der Hansestadt, aus Jux gekauft hatte. Er setzte sie an den Mund und probierte seine Kunst. Es gab in der Tat einige plärrende und quietschende Töne, die sich hören lassen konnten. Er nickte befriedigt und steckte das Instrument in die hintere Schlüsseltasche seiner Leinenhose. Das Unternehmen konnte vonstatten gehen.

Die Sonne war zitronengelb in den Dünsten am abendlichen Horizont verschwunden. Der dreiviertelvolle Mond hing wie eine silberne Ampel zwischen den Gartenbäumen und ergoß sein sanftes, gleichsam schwimmendes Licht über Büsche und Hecken, über Rasenplätze und Blumenbeete. Es war warm und weich wie an einem richtigen Sommerabend. Aus dem Dorf her kamen die schwermütigen Töne der Ziehharmonika. Die polnischen Erntemädchen sangen Lieder. Sie klangen sehnsuchtsvoll und verloren sich in Grenzenlosigkeit und Trauer, wie die sarmatische Steppe.

Unter einem Apfelbaum, dessen rosa Äpfel im Mondlicht schimmerten, standen Jan Wilhelm und Ginevra. Es war in der Nähe der hintern Gartenpforte. Das junge Mädchen hatte auf diesem Wege unbemerkt den Garten verlassen wollen, um sich in ihre Giebelstube zurückzuziehen. Jan Wilhelm war aus dem Schatten der Johannisbeersträucher auf sie zugetreten und hatte ihr den Weg verstellt, als sie wortlos an ihm vorbei wollte.

»Ginevra!« sagte er. »Hat es wirklich Zweck, daß wir beide noch immer unsere Komödie weiterspielen? Jeder weiß doch, wie es dem andern ums Herz ist! Also wozu noch Versteckens spielen? Wozu uns immer weiterquälen in diesem kurzen, närrischen, unbegreiflichen Leben, das doch sofort Sinn und Verstand bekommt, wenn es zwei Menschen wie du und ich miteinander zu ergründen versuchen! ... Haben wir nicht schon an dem Nachmittag oben im Lindenbaum gewußt, daß wir uns nie mehr verlieren können und daß du mir gehörst und ich dir?«

Sie hatte ihren Kopf gesenkt und schwieg.

»Du sagst kein Wort?« flüsterte er und nahm ihre Wangen zwischen seine Hände, ihren Kopf sanft emporrichtend.

»Was?« rief er. »Tränen? Du hast geweint? Worüber?«

»Vor Wut!« sagte sie und wischte sich über die Augen.

»Wut?« fragte er kopfschüttelnd.

»Über mich selber! Über meine eigene Schlechtigkeit, Bosheit, Verstocktheit, Niederträchtigkeit ...«

» Noch etwas?« lachte Jan Wilhelm und zog sie mit einem Ruck in seine Arme. »Ich verzeihe es dir! Du bist absolviert!«

»Es bezog sich ja gar nicht auf Sie!« sagte sie in seinen Armen, ohne sich besonders zu sträuben. »Gewiß! Ich hatte Ihnen ja auch manches abzubitten, obwohl die Geschichte in der Konditorei immer ein dunkler Punkt bleiben wird ...«

»Mit Adele?« rief er lachend. »Wie hast du denn das herausbekommen? ... Ein kleiner Flirt! Aus Verzweiflung! Aus Trotz! Was weiß ich ... Schließlich braucht man doch eine Seele! ... Und sie ist ja ein netter Kerl! Sehr nett sogar! Und da die Richtige nicht wollte ...!«

»Kein Wort weiter, mein Freund!« gebot Ginevra und suchte sich von ihm loszumachen, wenn auch ohne Erfolg. »Nein! Meine Wut über mich selbst bezog sich auf den armen Kerl, Ihren Onkel! Er ist ganz von Sinnen! Ich fürchte, ich habe es etwas zu weit getrieben! Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre ich jetzt schon mit ihm verlobt!«

»Das bist du ja auch! Aber mit mir! Mit mir für immer und ewig!« rief Jan Wilhelm und schloß seine Arme fester um ihren bebenden Leib. Sie sank mit einem Seufzer zurück, Mund, Wangen, Busen und was immer seinen Küssen überlassend. So einige Augenblicke, über deren Ausmaß und Dauer ein Schleier aus Mondstrahlen gebreitet sei.

Als beide wieder zu sich kamen, sagte Jan Wilhelm, indem er seine Arme reckte:

»So! Und jetzt gehen wir hin und stellen uns der verehrlichen Gesellschaft als Verlobte vor!«

Er wollte sie an der Hand mit sich fortziehen, aber sie wehrte sich und verhielt ihm mit der andern Hand den Mund.

»Das wirst du nicht tun! Daß ihr Männer doch auf der Stelle den Kopf verliert, wenn man euch mal was Liebes sagt! Es wäre ein Schimpf sondergleichen für deinen Onkel! Das hat er wirklich nicht verdient! Nicht um mich und nicht um dich. Denke an Ellerndorf, du närrischer, überstürzter Junge!«

Sie breitete ihre schlanken Arme um seinen Hals und küßte ihn, bis ihnen beiden abermals die Sinne vergingen.

»Ich beuge mich!« sagte Jan Wilhelm schließlich, etwas außer Atem. »Du hast recht wie immer! Also was tun?«

»Ich begebe mich auf mein Zimmer,« erklärte Ginevra und ordnete ihr Haar, das im Mondlicht wie ein Goldgespinst flimmerte. »Dort bleibe ich oder komme je nachdem wieder zum Vorschein. Du gehst zu den Gästen und zu deinem Onkel und entschuldigst mich, ich sei nicht ganz wohl. Alles weitere überlassen wir den Göttern!«

Beide schlossen sich von neuem in die Arme. Ginevra mußte ein wenig Gewalt anwenden, um sich loszureißen.

»Noch eins!« sagte sie, schon auf dem Sprunge. »Ich bin mit mir zu Rate gegangen: ich lasse mir von morgen ab mein Haar färben! Ich trage es in Zukunft aschblond! ... Wie Adele!«

Ehe Jan Wilhelm noch antworten konnte, war sie fort. Er starrte ihr nach und legte die Hände an die Stirn. Plötzlich und erst in diesem Augenblick flammte ihm die Erkenntnis auf, daß etwas Gewaltiges und Unerhörtes mit ihm vorgegangen sei, das ihm so noch nicht begegnet war: die Liebe. Er war versucht, irgend etwas ganz Verrücktes in die laue Mondnacht hinauszuschreien, und hatte das Gefühl, plötzlich auf zolldicken Gummisohlen zu gehen, so elastisch federten seine Schritte, als er sich jetzt der auf dem vorderen Rasenplatz versammelten Gesellschaft näherte. Windlichter brannten auf den Tischen und spiegelten sich in den buntfarbigen Römern. Die Mondbarke war höher gestiegen und schwamm jetzt über den fruchtbeladenen Obstbäumen dahin. Schon von weitem war die klangvolle Stimme Herzigkeits zu vernehmen, der zu den Gästen sprach. Er schien bereits mitten im Thema zu sein. Ja, wenn nicht alles täuschte, näherte er sich schon dem Höhepunkt.

Sie alle, die hier versammelt seien, Gastgeber und Gäste, so hörte Jan Wilhelm ihn in die Sommernacht sprechen, sie alle seien in ihrer bunten und doch einheitlichen Zusammensetzung gleichsam ein Querschnitt der heutigen deutschen Kultur in ihrer Übereinanderschichtung vom Alter zur Jugend und in ihrer Nebeneinanderschichtung der verschiedensten Klassen, Stände und Berufe. Da sei der Schiffsherr und Großunternehmer, unser verehrter Gastgeber, augenblicklich leider nicht auffindbar, dem in erster Linie der Dank der Gäste gelte. Da sei der hohe Staatsbeamte, er selbst, der ebenso wie der Gastgeber aus kleinen Verhältnissen sich emporgerungen habe. Da sei der Monarch, der den umgekehrten Weg von den höchsten Höhen zur bürgerlichen Gesellschaft gegangen sei. Da sei der Theaterdirektor, der Dichter, ja sogar ihrer zwei, der alte und der junge, der Schauspieler, der Landwirt, auch er unser Gastgeber, ebenfalls zur Zeit unauffindbar. Da sei Augustin Haller, der alles zusammen und noch einiges andere gewesen sei: der Typus des Universalgenies. Da seien – last not least – die schönen Frauen, die Krone der Schöpfung, die dem Fest erst die Weihe gäben: auch hier wieder die sinnvolle Gliederung eines reizvollen Schwesternterzetts von Neunzehnhundert und einer betörenden Solostimme von heute, die leider gleichfalls in diesem hohen Augenblick vermißt werde, vielleicht aus Gründen, die der weitere Verlauf des Abends noch enthüllen werde.

So Herzigkeit. Er räusperte sich, nahm den im Mondlicht glimmenden Römer zur Hand, um die trocken gewordene Kehle etwas anzufeuchten, und wollte gerade zur letzten Schlußweisheit seiner großangelegten Rede ausholen, als ein merkwürdiges Geräusch alle Festteilnehmer und sogar ihn selbst aufhorchen ließ. Es war der plärrende, quiekende, meckernde Ton einer Kindertrompete, der hoch aus den Lüften erklang. Alle starrten in die Höhe, um die Ursache des lächerlichen, die Festrede auf groteske Weise unterbrechenden Geräusches zu ergründen. Aber niemand konnte etwas sehen. Auf einmal rief Henrici, der in der Blickrichtung zu dem alten Lindenbaum saß und sehr gute Augen und Ohren hatte:

»Dort auf dem Baum! ... Es kommt von dem Lindenbaum oben! ... Ich habe es ja prophezeit!«

Er bekam einen Lachanfall, daß er sich den Bauch halten mußte und hilflos in seinen Stuhl zurücksank. Alles an ihm wackelte. Die übrige Gesellschaft war aufgesprungen und eilte halb neugierig, halb erregt, teils lachend, teils kopfschüttelnd, zu dem etwa zwanzig Schritte entfernten Lindenbaum. Auf einem der obersten Äste, grade gegenüber den geschlossenen, aber erleuchteten Fenstern von Ginevras Giebelstube, saß rittlings der Generalkonsul, wie ein Wichtelmännchen, vom Mondschein beglänzt, und blies unentwegt seine Kindertrompete. Es waren grelle und unschöne Quietschtöne, die er dem Instrument entlockte. Jetzt, wo man so nahe darunter und um den Heuhaufen herumstand, konnte man sich diesem Eindruck nicht entziehen. Alles blickte in die Höhe, aber keiner wußte, was zu tun sei. Der Generalkonsul blies eifrig weiter, als sei er dazu hinaufbeordert. Plötzlich öffnete sich ein Fenster der Giebelstube und Ginevras Kopf wurde sichtbar.

»Mein Gott! Was ist hier los? Wer bläst denn hier oben wie wild?« rief sie, prallte aber im gleichen Augenblick wie vor einer Erscheinung zurück. »Großer Gott! ... Du bist's, Generalkonsul? ... Bist du denn wahnsinnig geworden? ... So helft ihm doch herunter! Jan Wilhelm! ... Jan Wilhelm! Hilf ihm herunter! ... Er ist wahnsinnig geworden! Großer Gott!«

Sie rang die Hände und starrte zu dem kleinen Mann auf dem Ast hinüber. Der blies noch ein paar letzte Töne auf seiner Schalmei, warf sie in großem Bogen fort, breitete seine Arme in einer Art von Schwimm- oder Fliegebewegung und rief:

»Auf daß wir frei werden, wie die Vögel sind! Ich fliege zu dir hinüber, meine rotgefiederte Taube! Gleich bin ich drüben bei dir! Ich bin der fliegende Mensch ohne alle Apparate! Ich bin mein Urenkel!«

Rief es und schnellte sich von seinem Lindenast in die Luft hinaus ... Ein einziger Schrei aus vielen Kehlen gellte. Im nächsten Augenblick befand sich Johann Sebastian Stenzel, der »fliegende Mensch« und Urenkel seiner selbst, weich gebettet auf dem duftigen Heulager, das sich in ansehnlicher Höhe unter dem Lindenbaum erhob. Es war ihm äußerlich nichts geschehen. Jan Wilhelm, der grade im Begriff gewesen war, ihm nachzuklettern, stellte es in Gemeinschaft mit dem Großfürsten und Helene van Düren fest. Aber es war kein Zweifel, daß der bedauernswerte Mann den Verstand verloren hatte. Denn er wiederholte immerfort, daß er der fliegende Mensch ohne alle Apparate sei und zu seiner Taube wolle.

Bereits am nächsten Tage nahm ihn das rühmlichst bekannte Sanatorium von Doktor Ziegelbock in Willomin auf. Ziegelbock war ein alter Freund Stenzels und hatte es, wie er äußerte, längst kommen sehen. Aber der Fall sei leicht. Kleine Paranoia. Temporäres Irresein. In einigen Monaten könne der Schaden behoben sein. Es müsse eine vollständige Reinigung und Erneuerung aller Säfte erfolgen. Und darin war er Spezialist. Sein Allheilmittel hieß Buttermilch.


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