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7

Man saß im Speisezimmer des Generalkonsuls um den reich gedeckten Teetisch. Renz hatte mit dem feinen Linnen, dem alten Silber, dem erlesenen Porzellan aus dem ansehnlichen Stenzelschen Hausschatz nicht gespart. Es gehörte zu den vielen Eigentümlichkeiten Johann Sebastians, daß er, der durch äußeres Schicksal und eigene Neigung zum unbekehrbaren Junggesellen bestimmt schien, schon seit Beginn seines Aufstiegs als unermüdlich sorgender und mehrender Hausvater tätig gewesen war. Alle diese Kästen, Schränke, Kommoden, Truhen, die in den engen Stuben herumstanden und Platz wegnahmen, waren voll von Wäsche, Gläsern, Porzellan, Silber – von allen den Kostbarkeiten und Überflüssigkeiten, die das Herz jeder Hausfrau höher schlagen lassen. Stenzel selbst, dem es ja an nichts mangelte, außer an Zeit, hatte natürlich für alle diese schönen Dinge, sobald sie einmal angeschafft waren, keinen Blick mehr übrig. Es mußte genügen, daß er sie besaß. Ein Generalkonsul Stenzel war es sich schuldig, über dergleichen zu verfügen. Es gehörte zu den Attributen seiner Stellung, seinen Gästen mit allem aufzuwarten, was man von einem reichen Hause verlangen konnte. Im übrigen hatte er die Obhut über alle diese Schätze vertrauensvoll in die Hände von Fräulein Gottschalk gelegt, einer würdigen, etwas schwerfälligen und zuzeiten auch schwerhörigen Matrone, die gleichzeitig mit Renz, dem Kammerdiener, ins Haus gekommen war und schon seit vielen Jahren der Wirtschaft vorstand. Es gab Lästermäuler unter dem Hausgesinde der Nachbarschaft, die die Behauptung aufstellten, Renz und die Gottschalk seien insgeheim ein Ehepaar und wirtschafteten nach Kräften in ihre eigene Tasche. Stenzel, dem das Gerücht längst zugetragen war, erklärte, daß ihn die Privatbeziehungen seiner Bediensteten nicht das geringste angingen, und wies alle weitergehenden Unterstellungen beinahe entrüstet zurück. Gegenüber Menschen, die er einmal als zuverlässig erprobt zu haben glaubte, war sein Vertrauen fast unerschütterlich.

Renz reichte in seiner betont steifen und korrekten Haltung die Brötchen, Torten, Kuchen herum. Im Hintergrund des Rauchsalons, der eine alkovenartige Ausbuchtung des Speisezimmers darstellte, tauchte öfters Fräulein Gottschalk wie aus der Versenkung auf, um unter dem Vorwand von Handreichungen den kleinen Kreis, vor allem die beiden fremden Besucherinnen, einer eingehenden Prüfung zu unterwerfen. Das Ergebnis schien sie nicht ganz zu befriedigen, denn sie schüttelte mehrmals den Kopf mit dem schwarzen Häubchen auf dem strenggescheitelten Haar und vergaß sich sogar, einen ziemlich lauten Seufzer von sich zu geben, so daß der Generalkonsul forschend von seiner Teetasse aufblickte.

Die Stimmung der drei war nach einem anfänglichen Aufflackern etwas versackt, wie ein Feuer, das keinen rechten Zug hat. Stenzel hatte an dem kleinen ovalen Teetisch rechts von sich die Mutter, links die Tochter. Das vierte Gedeck ihm gegenüber war für Jan Wilhelm, der zu des Generalkonsuls sichtlichem Verdruß ausgeblieben war, aber noch erwartet wurde.

Helene van Düren hatte in jenem Geburtstagsbrief an Johann Sebastian ein durchaus zutreffendes, von Übertreibung freies Bild ihrer selbst entworfen. Man konnte mit Fug sagen, daß sie mit ihrem graublauen, seidigen Lockenhaar, das ehedem wohl tiefbrünett gewesen war, mit den dunkelbraunen Kirschenaugen, mit der reinen milchigen Hautfarbe noch immer als eine auffallend reizvolle, ja schöne Frau gelten konnte. Man hätte sie eher auf Ende dreißig als gegen die Fünfzig eingeschätzt. Es war eigentlich nur dieses graue, ins Bläuliche schillernde Haar, das an eine ältere Frau denken ließ. Aber sie hatte Stunden, wo gerade dieses Haar als Hauptreiz und als gewollte Koketterie wirkte, nur dazu angetan, die weiche Jugendlichkeit des Antlitzes durch die kontrastierende Umrahmung zu heben. Man hätte auf die Vermutung kommen können, die Färbung des Haares sei künstlich hervorgerufen: so vorteilhaft stand sie ihr zu Gesicht. Der Vergleich mit der Rokokomarquise, dessen sie in ihrem Brief Erwähnung getan hatte, lag wirklich nahe und wurde noch durch die sichelförmigen Augenbrauen unterstützt, die wie zwei dunkle Halbmonde gegen das blaugraue Haar standen und es Lügen zu strafen schienen.

Im Vergleich zu ihrer Tochter Ginevra erschien sie als die mädchenhaftere, schon durch ihre mittelgroße, grazile Gestalt, jedenfalls als mehr naturhaft, mehr erdgewachsen – Ginevra hingegen, trotz ihrer Jugend, mehr als große Dame, als Gesellschaftslöwin oder, von einer andern Seite gesehen, als schillernde fremdartige Sportamazone. Und doch war – allen diesen Verschiedenheiten zum Trotz – eine so große Ähnlichkeit und Übereinstimmung vieles Wesentlichen zwischen den beiden Frauen, daß man sie sofort als Mutter und Tochter, wenn nicht – wie Helenes Freunde ihr schmeichelten – als zwei Schwestern ungleichen Alters erkannte.

Stenzel und Frau van Düren hatten auf den Vorschlag der letzteren nach der zunächst etwas fremden Begrüßung und Musterung ihr einst gewohntes Du aus der Jugendzeit wieder aufgenommen. Es sei doch eine Kinderei, meinte Helene, wenn zwei so alte Leute, wie sie beide nun einmal seien, gleichsam Verstecken voreinander spielten und so täten, als hätten sie sich noch nie im Leben gesehen, während sie doch in Wirklichkeit zusammen auf dem alten Birnbaum im Stenzelschen Gärtchen gesessen und die auf der Dorfstraße Vorübergehenden mit den unreifen Holzbirnen bombardiert hätten. Es seien hübsche pralle Geschosse gewesen, und wohin sie trafen, da habe man sich nicht erst zu kratzen brauchen.

Der Generalkonsul hatte zu diesen Enthüllungen etwas säuerlich gelächelt. Er liebte es überhaupt nicht sehr, den Vorhang, hinter dem seine Frühzeit lag, gelüftet zu sehen. Nicht daß er sich seiner Herkunft aus dem bescheidenen Lehrerhause geschämt hätte. Es kam im Gegenteil nicht selten vor, daß er sich ausdrücklich darauf berief. Aber dann geschah es ohne nähere Einzelheiten, gewissermaßen nur, um anzufeuern und vor den Nachkommenden ein beherzigenswertes Beispiel aufzurichten. Intimere Züge, wie man doch auch nur ein fehlbarer Mensch gewesen war, erschienen als überflüssig, ja, als die Werbekraft des großen Beispiels herabmindernd. Nun gar solche Züge, wie die von Helene zum besten gegebenen, die geradezu auf eine jugendliche Nichtswürdigkeit und Verworfenheit mußten schließen lassen. Aber selbst wenn solche schlimmen Flecken auch durch die nachfolgende unermüdliche Lebensarbeit als ausgetilgt gelten konnten, so war ihre Erwähnung in Gegenwart eines jungen, unwissenden, allerdings höchst reizvollen Mädchens nur allzusehr geeignet, seiner Würde als seriöser Mann und Generalkonsul Abbruch zu tun. Wie richtig er die Folgen von Helenes unbedachter Offenheit beurteilte, hatte ihm sofort Ginevras ironische Randbemerkung bewiesen:

»Schau! Schau! Meine allerliebste Mama! Und der Herr Generalkonsul, Großkaufmann und Reedereibesitzer, Ritter hoher Orden undsoweiter!« (So stand es auf Stenzels ausführlicher Besuchskarte.) »Die beiden würdigen Herrschaften sind also auch einmal jung gewesen und haben mit Birnen nach älteren, würdigen Mitmenschen geschmissen! Und da wunderst du dich, beste Mama, daß deine Tochter ein ähnliches Früchtchen geworden ist? Weißt du denn nicht, daß die Holzbirne nicht weit vom Stamm fällt?«

Ginevras frivole, wenn auch von verführerischen Lippen abgeschnellte Worte hatten Stenzel in der Seele getroffen. Die Wunde schmerzte, denn sie saß beinahe an seiner empfindlichsten Stelle, nämlich in seinem moralischen Selbstbewußtsein. Dieses schöne, kluge, aber begreiflicherweise noch unreife junge Mädchen machte sich über einen Johann Sebastian Stenzel lustig! Das tat weh und war beschämend!

Aber nicht genug daran! Er fühlte deutlich, daß da noch ein anderer Schmerz war, der viel tiefer saß und wie eine Flamme in seinem Herzen brannte: er hatte sich auf den ersten Blick und nach allen Regeln in Ginevra verliebt! So sehr auch sein Verstand, seine Vernunft, sein ganzes besseres Ich sich dagegen zur Wehr setzte: es war jener Blitzstrahl, jene Liebe auf den ersten Blick, von der in den Romanen zu lesen steht und wovon die Opern voll sind! Und Derartiges mußte einem Johann Sebastian Stenzel zustoßen, nachdem er achtundfünfzig Jahre alt geworden war und – sofern in Träumen Wahrheit ist – kein Jahr mehr zu leben hatte! Aber dies zu bedenken, war jetzt nicht die Zeit! Oder vielmehr, falls man es dennoch bedachte, so konnte es Anlaß sein, sich über jenes bessere Ich, über alle Vernunft, alle Einsicht, allen Verstand mit einem besinnungslosen Sprung hinwegzusetzen, denn wenn doch die Zeit jetzt bald für immer Abschied von ihm nehmen wollte, was brauchte er seinerseits sich noch um sie oder um die Arbeit oder um irgendein anderes Pflichtgebot zu kümmern, dessen Peitsche sein Leben wie ein Zirkuspferd in die Runde gehetzt hatte.

Darf man sich wundern, daß, solcherlei erwägend, der kleine wunderliche Mann etwas einsilbig geworden war und auch die beiden Damen schließlich damit angesteckt hatte? Helene van Düren war jedoch nicht die Frau, um sich längerer Kopfhängerei hinzugeben. Am allerwenigsten in Gesellschaft. Sie war eine durchaus heitere und fröhliche Natur, die von ganzem Herzen lachen konnte und mit ihrem Lachen manchmal ansteckend wirkte. Was in dem Generalkonsul vorging, hatte sie als kluge Frau und vielerfahrene Lebensgefährtin van Dürens beinahe mit dem ersten Blick durchschaut. Die Behandlung dieses leicht entzündlichen Herzens hatte ihr oft die schwersten Aufgaben gestellt. Gefährliche Brände waren zu verhüten oder wenigstens einzudämmen gewesen. Es hatten viel Takt und manche Entsagung dazu gehört, mit dem teils überhitzten, teils schwerblütigen, immer genialen und immer kindsköpfigen Mann fertig zu werden und ihn auf geschickte, ihm selbst kaum bewußte Art an Abgründen vorbeizugeleiten. Sie wußte, wo die Männer der Schuh drückt und wie sie ihr Geheimstes oft mit einem Wort, einem Blick, einer Miene verraten, ohne daß sie es wollen. Van Düren hatte sich manchmal mit Händen und Füßen gegen diese Art von Durchleuchtung, von Röntgenisierung gewehrt, wie er es nannte. Geholfen hatte es ihm nichts. Seine Frau hatte ihm manches auf den Kopf zugesagt, was er sich selbst kaum eingestanden hatte. Helene bildete sich im stillen etwas auf ihre seelenärztliche Kunst ein, mit der sie ihn behandelt hatte.

Der Fall des Generalkonsuls und Jugendfreundes erschien ihr als ein Kinderspiel dagegen. Der kleine, aufgeregte Mann war beim ersten Anblick Ginevras wie zur Bildsäule erstarrt. Als dann der krampfhafte Versuch kam, den Harmlosen und Unbeteiligten zu spielen, da hatte sich ihr Mund in jener spöttischen Art verzogen, über die van Düren sich oft genug geärgert hatte. Gut, daß Johann Sebastian in seiner Verzauberung nichts davon merkte! Er hätte es womöglich als weibliche Eifersucht ausgelegt. Wie kindisch das gewesen wäre! Es war doch ihre eigene Tochter, in die der kaum erst wiedergefundene alte Freund sich verliebt hatte. Hätte ihr etwa in den Sinn kommen sollen, neidisch auf ihre eigene Tochter zu sein? Helene hätte in diesem Augenblick bei ihrem Leben geschworen, daß nicht der leiseste Hauch von Eifersucht den Spiegel ihrer Seele trübe. Aber war es nicht spaßig, den verhärteten alten Junggesellen plötzlich in Liebe erglühen und auf eine verspätete Weise girren zu sehen? Große, wenn auch oft nicht leicht zu meisternde Kinder, die Männer allesamt! Ginevras Pflicht wäre es gewesen, den betörten Mann von Anfang an fühlen zu lassen, daß es zwecklos sei, sich Hoffnungen zu machen. Aber das arglistige Geschöpf (oh, Weiber! Weiber! dachte sie) nahm die Huldigungen ihres wunderlichen Verehrers mit einem heiligen Ernst auf, für den man sie hätte prügeln können! Im Grunde ging ja das alles sie nicht das geringste an. Ginevra war alt genug, um zu wissen, was sie tat und wie weit sie ihr Spiel mit dem armen Kerl treiben wollte. Und schließlich war ja sie selbst zur Stelle und konnte, wenn es nottat, Schlimmeres verhindern, teils als Mutter einer über die Stränge schlagenden Tochter, teils als guter Genius eines von jeher närrisch gewesenen Jugendfreundes.

»Könntest du nicht die Bedienung jetzt abpfeifen, lieber Generalkonsul?« flüsterte sie in einer Pause des Gesprächs dem in sich gekehrt Dasitzenden zu, als gerade Renz und die Gottschalk sich um einen Kredenztisch des Rauchsalons ballten und von dorther ihre Blicke auf die kleine Gesellschaft am Teetisch hefteten. »Die beiden stehen ja da wie zwei Wachsfiguren aus der Schreckenskammer!«

Ginevra, deren Ohr die geflüsterten Worte der Mutter grade noch erreicht hatten, lachte laut auf, so daß der Generalkonsul zusammenfuhr und jetzt erst den Sinn von Helenes Worten begriff. Er gab Renz und Fräulein Gottschalk ein Zeichen mit der Hand.

»Wir benötigen Sie jetzt nicht mehr. Wenn Sie gebraucht werden, klingle ich. Und sobald Herr Köhler anruft, benachrichtigen Sie mich. Oder falls er noch kommt, führen Sie ihn herein.«

Die beiden entfernten sich, Renz mit einem klagenden Ton des Einverständnisses, die Wirtschafterin mit dem bitterbösen Blick einer gereizten Natter.

»Gott sei Dank, daß die beiden Wachsfiguren von der Bildfläche verschwunden sind!« bemerkte Helene mit einem komischen Seufzer der Erleichterung. »Sie gingen mir auf die Nerven. Ich hätte es nicht lange mehr ausgehalten! Und mit den beiden Erscheinungen hast du dein Leben gelebt?«

»Wenigstens die letzten fünfzehn Jahre!« bestätigte Stenzel, nicht ohne leisen Unterton von Mißbilligung. »Warum hätte ich es denn nicht tun sollen? Es sind treue, anhängliche Menschen. Man findet das selten in einer Zeit wie der unsern, wo alles auf den Kopf gestellt ist. Mein Grundsatz im Leben ist: Treue um Treue! Und Liebe um Liebe! Danach werde ich handeln, solange noch ein Atemzug in mir ist!«

Er machte eine Handbewegung auf die Brust, dorthin, wo das Herz sitzt, und erhob seine Augen mit einem vollen Blick zu Ginevra. Helene fing den Blick auf und lächelte anzüglich.

»Na, ich hätte längst Reißaus genommen aus dem Raritätenkabinett! Oder aus der Schiffskajüte! Einerlei, wie man es nennen will! Oder ich hätte mir an deiner Stelle eine richtige, auch wirklich zu dir passende Frau hereingesetzt. Jetzt ist es natürlich zu spät! Ich beneide dich wirklich nicht um das Leben, das du gelebt hast! Und was deine Grundsätze anbetrifft, mein lieber Hans ...«

Sie hatte diesen gewohnten Namen aus der Jugendzeit wieder aufgenommen, der erst später der feierlicheren Verbindung Johann Sebastian Platz gemacht hatte.

»Entschuldige, daß ich dich unterbreche, Mumpili,« fiel in diesem Augenblick Ginevra ein. »Aber ich finde die Grundsätze des Herrn Generalkonsuls geradezu begeisternd! Liebe um Liebe und Treue um Treue! Wo gibt es denn das noch in der heutigen Männerwelt?«

»Vielleicht etwa bei den heutigen Weibern?« warf Helene dazwischen.

»Sage das nicht, Mumpili! Sage das nicht!« rief Ginevra in einem Ton von Enthusiasmus, der Stenzel hinriß, ohne daß ihm dessen geheime Komik bewußt wurde. »Willst du dein eigenes Fleisch und Blut hier vor den Ohren des letzten Mannes herabsetzen, der noch an Liebe und Treue glaubt?«

Sie zog die Stirn hoch und hatte wieder das tiefernste Clowngesicht, über das jeder andere gelacht hätte, nur Stenzel nicht, in dessen so plötzlich entflammter Seele kein Raum für den Gedanken war, dieses bezaubernde Geschöpf könne sich etwa über einen Johann Sebastian Stenzel lustig machen wollen. Er legte von neuem die linke Hand auf sein jetzt fühlbar klopfendes Herz und erhob die rechte zu einer beteuernden Geste.

»Niemand wird etwas Herabsetzendes von Ihnen annehmen wollen, gnädiges Fräulein! Am allerwenigsten ich! Und sicher auch nicht Ihre Frau Mama, von der ich ja aus früherer Zeit mich zu erinnern glaube, daß sie sich manchmal einen kleinen Scherz auf fremde Kosten erlaubt.«

»Meine allerliebste Mama ist sogar ein richtiggehender Witzbold!« rief Ginevra. »Sie muß nur die geeignete Zielscheibe finden! Und wenn es ihre leibliche Tochter ist!«

»Sie sollten es sich doch nicht so zu Herzen nehmen!« äußerte Stenzel bewegt.

»Ich bin leider nicht so glücklich wie Mama!« fuhr Ginevra mit trauriger Miene fort. »Sie macht einen Witz oder eine anzügliche Bemerkung oder schimpft auch mal drauf los! Und dann ist sie mit einer Sache fertig! Ich kann das nicht! Ich habe das nicht von ihr geerbt! Jeder hat nicht den Humor wie sie!«

»Glaube ihr keine Silbe, mein lieber Hans! Das rate ich dir!« bemerkte Helene, die ein Weilchen stumm gewesen war und über ihre Teetasse weg die beiden beobachtet hatte.

»Ich glaube jedes Wort, das aus Ihrem Munde kommt!« beteuerte Stenzel. »Ich kann mich Gott sei Dank auf mein Urteil verlassen! Es hat mich noch nie getäuscht. Wo wäre ich auch ohne Menschenkenntnis hingekommen im Leben!«

»Sehen Sie, da hören Sie es wieder, Herr Generalkonsul!« rief Ginevra mit eifrigem Kopfnicken. »Die eigene Mutter nimmt Partei gegen das eigene Kind! Aber so ist diese ältere Generation, womit nicht gesagt sein soll, daß sie nun schon tatsächlich alt ist oder gar so aussieht! Von dir kann das wirklich kein Mensch behaupten, Mumpili! Aber sage selbst, ihr seid ja nun mal das vorhergehende Geschlecht und ihr wart die Glücklichen! Es ist doch immer nur eine bestimmte Portion Glück da in einer Zeit. Ihr habt nicht nur eure eigene Portion Glück konsumiert. Ihr habt auch noch unsern Anteil mitverbraucht! Ihr habt sozusagen Schulden gemacht bei euern Kindern! Daran leiden wir jetzt, wir Jungen!«

Stenzel, der bewundernd zugehört hatte, wandte sich mit erhobenem Zeigefinger zu Helene.

»Es liegt eine sehr tiefe Wahrheit in den Ausführungen von Fräulein Ginevra! Du hast nicht nur eine sehr schöne, sondern auch eine bei aller Jugend sehr kluge und vor allem sehr ernste Tochter, meine beste Helene! Man kann dich nur aufrichtig dazu beglückwünschen!«

Er streckte Helene etwas zerstreut die Hand hin und kehrte seinen Blick gleich wieder dem schönen Mädchen zu, dem er soeben eine unzweideutige Liebeserklärung gemacht hatte. Ginevra schien diesen tieferen Sinn überhört zu haben.

»Ernst?« rief sie. »Sie nennen mich ernst, Herr Generalkonsul? Da liegt der Hase im Pfeffer! Wie sollten wir nicht ernst geworden sein, nachdem wir so schwer am Leben zu tragen haben? Wir jungen Menschen von heute alle!«

»Tragen Sie persönlich wirklich so schwer am Leben?« fragte Stenzel, einen Augenblick doch etwas ungläubig.

»Schrecklich!« entgegnete sie mit dieser starren Miene wie von Stein.

»Das wäre ja furchtbar!« rief Stenzel, während sich seine Fäuste krampften. »Aber läßt sich denn gar nichts dagegen tun?«

»Hoffnungslos! Weil eben niemand von euch älteren Herrschaften Vertrauen zu uns hat! Weil niemand von euch an uns glaubt! Ist es da ein Wunder, daß auch wir zu keinem Menschen Vertrauen haben? Daß wir ebenfalls an niemand und an nichts glauben?«

Das junge Mädchen saß steif aufgerichtet, mit tragischer Miene da und führte langsam ein Lachsbrötchen zum Munde. Stenzel steckte die rechte Hand in den Westenausschnitt unter dem schwarzen Gehrock, so daß seine Haltung noch etwas offizieller wurde als sonst. Unauslöschliches Mitleid mit dem armen schönen Geschöpf brannte in seiner Seele.

»Gnädiges Fräulein!« sagte er. »Ich möchte mich nicht einer für meine Jahre und für meine Lebensstellung vielleicht nicht ganz passenden Überschwenglichkeit schuldig machen. Aber es ist meine feste Überzeugung – und ich weiß, was ich spreche –, es ist meine heilige Überzeugung, daß jeder Mann, ob jung oder alt, dem Sie Ihr Vertrauen schenken würden, sich unsagbar glücklich schätzen müßte.«

Er ließ sein Monokel klirrend aus dem linken Auge fallen und legte die Hand an die Stirn. Das törichte Perpetuum mobile auf Zeit, sein Herz, klopfte und dröhnte tief in der Brust wie eine kleine unermüdliche Baggermaschine. Stenzel erinnerte sich nicht, daß er das je so deutlich gehört hatte; selbst nicht bei ganz entscheidenden Generalversammlungen und Konferenzen, wo alles auf dem Spiel gestanden hatte.

Eine kleine Pause entstand. Frau van Düren saß stumm da; ihre Lippen zuckten auf eine spöttische und anzügliche Art. Ginevra hatte ein süßes, schmelzendes, gradezu verklärtes Lächeln auf ihrem Gesicht. Aber auch sie zog vor, zu schweigen. Stenzel glaubte trotzdem genug zu wissen. Konnte man sich dieses bezaubernde Lächeln anders denn als stumme Zustimmung, als Einverständnis und Einklang der Seelen deuten? Ein plötzlicher Jubel durchbrauste ihn. Wie schön war doch dieses Leben, dessen Einmaligkeit und Unwiederbringlichkeit sich ihm jäh enthüllte! Durch die offenen Fenster flutete die schmeichelnde Wärme des wolkenlosen, fast sommerlichen Maitages. Die Nachmittagssonne malte goldene Kringel auf die Bilder rings an den Wänden und erweckte sie zu einer Leuchtkraft, von der ihre Urheber sich nichts hatten träumen lassen. Der zarte verschwiegene Duft blühender Kirschbäume, die irgendwo im Garten hinten an der Berglehne stehen mußten, zog manchmal als eine ganz schwache Welle daher. Bauhofers Amseln oder Drosseln schmetterten ihren Frühlingsjubel um die Wette in den verwilderten alten Park, der die Rückseite des Hauses gegen die Festungsbastion abschloß. Ja, es war schön, dieses Leben! Stenzel hatte das nie gewußt. Eine späte Erkenntnis! Aber noch immer nicht allzu spät! Ein Jahr zehnfach gelebt, wiegt es nicht zehn Jahre jenes Alltagskalibers auf, die der Reihe nach auf seinem Lebensschiff verfrachtet waren und eigentlich nichts als Ballast bedeuteten?

Stenzel schrak aus seinem Sinnen auf. Er hörte Helenes Stimme. Ihm war, als müsse dieses Schweigen eine Stunde gedauert haben, aber es war noch keine halbe Minute, seit er zuletzt gesprochen hatte.

»Das war eine sehr schöne und rührende Erklärung, mein lieber Generalkonsul, die du eben abgegeben hast!« hörte er Helene sagen. »Vor dreißig Jahren, als wir beide jung waren, du und ich, hätte man sie in der bürgerlichen Welt als eine Art Heiratsantrag aufgefaßt. Aber sei unbesorgt! Ich habe eine höchst modern denkende Tochter, die dich gewiß nicht beim Wort nehmen wird. Stelle dir vor, was das für ein Malheur geben würde, wenn ein alter Junggeselle wie du sich plötzlich in die Launen einer jungen Frau fügen müßte oder sie sich in deine, was wahrscheinlich noch schlimmer wäre!«

Bei Stenzel hatte Helenes lieblose Bemerkung etwa die Wirkung einer plötzlichen eiskalten Brause. Er schnellte ordentlich in die Höhe und verlieh dem Ton seiner Worte wieder jene hochoffizielle Färbung.

»Ich möchte dir zu bedenken geben, verehrte Freundin, daß ein Generalkonsul Stenzel überhaupt keine Launen besitzt oder von ihnen besessen ist! Dazu hat er viel zu viel zu arbeiten und viel zu wenig Zeit gehabt!«

»Oh! Oh! Oh!« lachte Helene. »Ich sehe, man ist gekränkt. Habe ich deine schwache Stelle getroffen, Generalkonsul? Entschuldige vielmals! Es war nicht so gemeint! Du bist und bleibst ein lieber Kerl, dem es nur manchmal ein bißchen hier oben ...«

Sie deutete auf ihre Stirne, ohne den Satz zu vollenden, und reichte Stenzel ihre Hand, der sie nicht frei von Empfindlichkeit nahm.

»Wann fahren wir nach Ellerndorf?« fragte sie nach einem Augenblick in verändertem Ton. »Ich möchte es doch gern sehen. Es ist bald dreißig Jahre her, seit wir dort raus mußten. Das war ein Sturz! Vater hat ihn ja nicht lange überlebt. Es war keine Kleinigkeit für uns drei Mädels. Plötzlich ins Wasser geworfen! Jetzt schwimmt! Aber es ging! Es geht immer, wenn man muß! Alle drei sind wir ins Trockene gekommen! Das beste Teil hat ja Olga erwählt. Schwerreiche Witwe. Der Mann war Generaldirektor vom Einhorn-Konzern. Im andern Sinne ist Ottilie am besten dran. Die hat wenigstens noch ihren Mann, wenn auch längst nicht das viele Geld wie Olga. Er war Inspektor bei uns. Du hast ihn vielleicht auch noch gekannt. Heute gehört ihm ein großes Gut in Schlesien. Der hat um sich gebissen, bis er soweit war! Das Aschenbrödel bin natürlich ich. Ich habe es nur zu einem Maler gebracht! Und der ist tot!«

Sie schwieg und ließ den Kopf hängen.

Ginevra streichelte über den Teetisch weg die Hand der Mutter.

»Du darfst dich nicht aufregen, Mumpili! Du weißt, dein Herz ist nicht so ganz in Ordnung.«

Helene gab sich einen Ruck und warf den Kopf zurück. Ihre blaugrauen Locken ringelten sich um die Stirn.

»Ja, es muß zu Ende gelebt werden! So oder so! Im übrigen ist das Unsinn, was du da redest! Ich habe ein Herz von Stahl!«

Renz glitt unhörbar herein. Man wurde ihn eigentlich erst gewahr, als er wie Banquos Geist hinter dem Stuhl des Generalkonsuls auftauchte. Herr Köhler habe angerufen, so meldete er, und habe von einem Autounfall berichtet, der jedoch nicht ihn selbst, sondern eine Dame betroffen habe. Das Unglück sei aber noch im letzten Augenblick verhütet worden. Er bringe die Dame, der nur etwas schwach geworden sei, nach Hause und komme dann selbst noch vorbei. Man möge ihn solange entschuldigen.

Der Generalkonsul nickte befriedigt. Es wäre ja auch unverzeihlich gewesen, wenn der junge Mann seine Einladung einfach als Luft behandelt hätte. Man unterhielt sich über den glücklich verlaufenen Unfall, der also eigentlich keiner gewesen war, und über Jan Wilhelms vermutliche Rolle als Retter und jedenfalls als Ritter jener fremden Dame.

»Du kennst ja Herrn Köhler, wie es scheint, ziemlich gut?« bemerkte Frau van Düren und warf ihrer Tochter einen fragenden Blick zu. »Wenigstens nach dem zu schließen, was du mir von ihm erzählt hast?«

Ginevra zog die Stirn kraus und schüttelte den Kopf.

»Sollte ich wirklich so mitteilsam gewesen sein, allerliebste Mama? Es entspricht eigentlich nicht meiner Art.«

»Ja, das weiß Gott!« bestätigte Frau van Düren mit einem Seufzer des Unmuts.

»Nun also!« triumphierte Ginevra. »Es wird wohl demnach mehr in deiner Phantasie beruhen, liebste Mumpili. Du weißt, die ist immer sehr rege gewesen!«

»Ganz als ob ich deinen Vater reden hörte!« gab Frau van Düren geärgert zurück. »Ich träume weder, noch phantasiere ich! Wenn man einen jungen Mann soundso oft zum Tee bei sich hat ...«

»Dreimal ...« verbesserte Ginevra.

»Genügt auch! An drei Nachmittagen kann man den ganzen Dekamerone durchnehmen! Mit einigem guten Willen! Früher hätte es daran auch nicht gefehlt! Was ihr heutigen jungen Leute tut, wenn ihr so stundenlang zu zweien vor euren Teetassen sitzt, weiß ich nicht. Sprecht ihr immer nur von überirdischen Dingen?«

»Im Gegenteil! Nur von höchst irdischen! Vom Sport! Tennis! Hockey! Golf! Schwimmen! Rudern! Reiten! Fechten! Es gibt doch genug!«

»Barmherziger Himmel!« rief Frau van Düren und schüttelte sich. »Wo sollen da schließlich die Kinder herkommen? Auf diese Weise wird es mit dem Menschengeschlecht wohl bald Matthäi am letzten sein! Was ist deine Meinung darüber, Generalkonsul? Bist du auch schon auf den Geschmack gekommen, daß Männlein und Weiblein jedes in einer Taucherglocke sitzt und sich nur durch Lichtsignale verständigt?«

Stenzel hatte dem lustig kriegerischen Geplänkel zwischen Mutter und Tochter zuerst zerstreut und wie von weitem zugehört, ganz nur in die leibesnahe Gegenwart des schönen Mädchens versunken, nur dem Klang ihrer Stimme, fern allem Wortbegriff, hingegeben. Aber schließlich hatte doch durch die ihn umhüllende Dunstschicht der mehrmals wiederkehrende Name des Neffen den Weg zu seinem Ohr gefunden und ihn aus seinem Wachtraum geweckt. Und sofort begann mit seiner Aufmerksamkeit auch sein Argwohn rege zu werden. Was man da hörte, waren ja höchst überraschende Tatsachen! Dreimal hatte Jan Wilhelm bei dem unvergleichlichen Mädchen Tee getrunken!

»Woher kennen Sie eigentlich meinen Neffen?« fragte er ziemlich unverblümt und kaute an seiner Unterlippe. »Er hat mir kein Wort davon erzählt!«

Das war nur bedingt richtig, aber im Kriege und in der Liebe gilt jede List.

»Ihr Neffe hat sich bei mir photographieren lassen, Herr Generalkonsul,« erwiderte Ginevra kurz und sachlich.

»Wozu war das nötig?« fragte Stenzel, noch um einen Ton verdrießlicher.

»Er wird Bilder gebraucht haben, denke ich mir,« entgegnete Ginevra, jetzt ihrerseits einigermaßen kühl. »Das kommt ja zum Glück für uns Photographen manchmal im Leben vor. Vielleicht wollte er sich um eine Stellung bewerben?«

Der geärgerte kleine Mann runzelte die Stirn.

»Der Neffe von Generalkonsul Stenzel hat es nicht nötig, sich um eine Stellung zu bewerben! Ich habe ein Objekt von ausreichender Größe für ihn gekauft.«

»Ah!« rief Ginevra sichtlich erfreut, um sofort in gleichgültigem Ton hinzuzufügen:

»Ihr Neffe hat sich übrigens seit Wochen nicht mehr sehen lassen. Wir können den Fall also zu den Akten legen. Und jetzt, denke ich, wollen wir uns einmal das Haus betrachten! Ist es dir recht, Mumpili? Ich vergehe schon vor Spannung, wie es bei einem richtigen Generalkonsul und Seebeherrscher aussieht, der noch dazu unverheiratet ist!«

Das waren gute Worte, die Balsam auf Stenzels zerrissenes Herz träufelten. Auch Frau van Düren war mit dem Vorschlag ihrer Tochter einverstanden. Man stand vom Tisch auf und durchwanderte unter des Generalkonsuls gewissenhafter Führung sämtliche Kojen und Kabinen des schiffsähnlichen Hauses vom Keller bis zum Speicher. Ginevra war voll bedingungsloser Bewunderung für alles, was sie zu sehen bekam. Selbst die vielen Bilder – Landschaften, Porträts, auch zahlreiche Akte –, die alle Wände bedeckten und nicht gerade durchweg von ersten Meistern stammten, entlockten ihr keine Äußerung ihrer sonst sehr regen, ja bissigen Kritik. Nur einmal, als es ihr vor einem besonders glatt gemalten Damenbildnis beinahe schwach wurde, konnte sie sich nicht enthalten, zu fragen, wie denn der glückliche Besitzer der Sammlung zu all den schönen Bildern gekommen sei. Das Modell dieses entzückenden Frauenkopfes zum Beispiel, der wie von Porzellan zu sein scheine, habe gewiß einmal seinem Herzen nahegestanden. Stenzel überhörte die mit bezauberndem Lächeln vorgebrachte Schlußwendung und setzte den Damen in ernstem Vortrag auseinander, daß er es von jeher für die Pflicht eines vermögenden Mannes in öffentlicher Stellung wie der seinigen betrachtet habe, Kunst und Künstler nicht nur mit schönen Worten zu bedenken, sondern auch durch die Tat zu unterstützen. Was solle und was wolle der Künstler? Arbeiten! Immerfort arbeiten! Aber um das zu können, müsse er wenigstens so viel verdienen, daß er sein Leben zu fristen vermöge. Deshalb habe er, der Generalkonsul, schon vor einem Vierteljahrhundert begonnen, nicht nur bei den Malern der heimatlichen Kunstschule, sondern auch weit und breit auf seinen vielen Geschäftsreisen Bilderkäufe zu betätigen. Was man hier sehe, sei also kein Zufallserzeugnis, sondern das Ergebnis einer wohlbewußten Lebenstendenz. Die Galerie Stenzel habe ihren primären Zweck erfüllt, den Malern zu helfen. Darüber hinaus ihren Kunstwert zu taxieren, müsse er den Sachverständigen überlassen, schätze ihn aber nicht gering ein. Es sei das alles sehr lobenswert, meinte Ginevra mit stark betonter Ernsthaftigkeit, und ein bißchen sachverständig fühlten sie beide, Mutter und Tochter, als Träger des Namens van Düren sich natürlich auch.

»Dann bitte ich also um Ihr Urteil!« rief Stenzel, zu Ginevra gewandt, und mit einer zweiten Wendung zu Helene, die gerade den Inhalt einiger von dem Hausherrn geöffneter Schränke und Kommoden besichtigte. »Um das deinige, beste Freundin, natürlich auch.«

»Ich finde, du bist ausgestattet wie eine Braut!« erwiderte Frau van Düren, ein besonders erlesenes Stück der Leinenweberei gegen das Licht haltend. »Sieh dir nur die Tischtücher an, Ginevra! Feinster Damast! Und mindestens zwei Dutzend, doppelte Länge und Breite!«

Ginevra trat hinzu und bewunderte mit besonderem Eifer, was sich ihren Augen darbot. Der vorher gestellten Frage nach dem Kunstwert der Bildersammlung ward keine Erwähnung mehr getan. Stenzel selbst hatte sie längst wieder vergessen. Er deutete auf einen Fenstergriff, dicht neben dem schweren, prunkvollen Barockschrank, vor dessen blinkenden Schätzen sie gerade standen.

»Eigene Erfindung!« sagte er nicht ohne Stolz. »Ich habe sie mir patentieren lassen! Vielleicht probierst du mal? Es ist ein Trick dabei. Wenn man ihn kennt, geht es ganz leicht.«

Helene umspannte den Griff mit ihrer gedrungenen Hand, um das Fenster zu öffnen, da es sowieso etwas stickig in dem wenig benutzten Wohnzimmer war, und stieß im nächsten Augenblick einen kleinen, aber recht vernehmlichen Schrei aus.

»Au! Potztausend! Da klemmt man sich ja!«

»Ich sagte dir ja, es ist ein Patent!« entschuldigte der Generalkonsul, seinen Henryquatre streichend. »Man muß eben den Trick kennen. Siehst du, so!«

Er legte die Hand an den Griff, drehte und stieß gleichfalls einen allerdings unterdrückten Schmerzenslaut aus.

»Renz scheint wieder nicht geölt zu haben!« meinte er mit unmutigem Kopfschütteln. »Anständiger, grundehrlicher Mensch! Aber vergeßlich! Vergeßlich!«

Er näherte sich der widerspenstigen Vorrichtung von neuem, aber diesmal mit größerer Vorsicht, während Helene und Ginevra rechts und links zusahen, und jetzt gelang das Unternehmen. Es gab ein markdurchdringendes Kreischen, und das Fenster flog auf, wie von einer Gespensterhand geöffnet. Stenzel schloß es wieder und ließ nun auch Ginevra probieren. Sie hatte von ihren Vorgängern gelernt und hatte Glück. Es ging, ohne daß sie sich sehr klemmte. Der Griff kreischte von neuem. Das Fenster flog abermals auf, als stiebe eine Windsbraut daher. Der Generalkonsul stand bewundernd vor dem schönen Mädchen, das sich insgeheim doch ein wenig die Finger rieb. Hier waren Jugend, Schönheit, Klugheit, Geschicklichkeit, Ernsthaftigkeit zu einem unvergleichlichen Bunde vereint!

Die beiden Damen hegten natürlich größtes Interesse für das Arbeitszimmer des Generalkonsuls, in welchem dieses Wunderwerk eines tätigen und arbeitsamen Lebens der Hauptsache nach sich abgesponnen hatte. Stenzel hatte es sich bis zuletzt aufgespart. Es sollte eine besondere Überraschung für Mutter und Tochter werden, wenn sie plötzlich vor dem Pastellbild van Dürens stünden, vor der nackten Aphrodite mit dem kirschroten Tuch um die blühenden Schenkel.

Man war endlich oben im Speicher angelangt und hatte durch eine Dachluke die in der Tat hinreißende Aussicht auf alle die vielen Türme und auf das dunstige Häusergewirr der schicksalumwitterten Stadt bewundert.

Gleich neben der Luke befand sich an der Außenseite des Hauses, zwischen zwei Türmchen, eine hölzerne Figur mit ausgebreiteten Flügeln. Es war ein fliegender Drache und erwies sich, Stenzels Bericht zufolge, als eine Schiffsgallion von einem jener borstigen Kriegsfahrzeuge des fünfzehnten Jahrhunderts, mit denen die seegewaltige Stadt ihren Widersachern zu Leibe gegangen war. Stenzel hatte sie in einem Altertumsladen aufgestöbert und gleichsam als Sinnbild seines eigenen Erobererlebens an der Stirnseite seines Hauses angebracht. Allerdings an verborgener, von der Straße her nicht sichtbarer Stelle, um nicht womöglich den schnellbereiten Witz seiner spottlustigen Mitbürger herauszufordern und zu schnöden Vergleichen Anlaß zu geben.

Die kleine Gruppe war wieder in den ersten Stock des Hauses hinabgestiegen und näherte sich dem in einem Seitenflügel ganz für sich liegenden Arbeitszimmer des Hausherrn, als dessen Fuß plötzlich stockte. Die Tür des Zimmers schien offen zu sein. Auf dem Gang vor der Tür waren Stühle und Sessel übereinandergetürmt. Aus dem Innern hallte das Geräusch heller weiblicher Stimmen, klappernder Eimer, klatschenden Wassers.

»Großreinmachen ...!« rief der Generalkonsul und schwippte halb betroffen, halb verdrossen, mit den Fingern der rechten Hand durch die Luft, daß es schnalzte. »Mußte denn das grade heute und in diesem Augenblick sein, wo ich Gäste habe?«

Der Schatten von Fräulein Gottschalk fiel über den Gang. Sie mußte die Äußerung des Hausherrn vernommen haben und verteidigte sich, etwas außer Atem, mit der erregten Feststellung, daß die Reinigung des Arbeitsraumes längst auf den heutigen Tag angesetzt gewesen sei, als man von der unvermuteten Einladung noch nichts habe wissen können. Gestern oder heute sei es nun zu spät gewesen, die Säuberungskolonne abzubestellen.

Der Generalkonsul hatte, von einem Fuß auf den andern wippend, aber ohne zu unterbrechen, zugehört. Jetzt wandte er sich mit einem bestätigenden Kopfnicken an die beiden Damen, die, Blicke miteinander wechselnd, aber wortlos, dem Schauspiel beiwohnten.

»Man soll jedem Menschen Gelegenheit geben, seine Argumente vorzubringen,« sagte er. »Dann wird man auch keinem Menschen unrecht tun. Obwohl es mir lieber gewesen wäre, Fräulein Gottschalk, Sie hätten das Großreinemachen auf morgen verlegt.«

Wer weiß, welchen Lauf der schon entfesselte Redestrom der erzürnten Matrone nach diesen Worten noch genommen hätte, wenn nicht im gleichen Augenblick Renz erschienen wäre, der in seinem dumpfen, immer etwas geheimnisvollen Ton das Eintreffen von Jan Wilhelm meldete.


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