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9

Die Gäste des Großfürsten waren vollzählig erschienen. Der warme, wolkenlose Maitag ging zur Neige. Man konnte auf einen milden Abend rechnen, wenn die lange, bleiche Dämmerung des nordischen Frühlings so zu nennen war. Längs den Gartenwegen schaukelten kreuz und quer bunte Lampions. Glühbirnen im regelmäßigen Wechsel von Grün, Rot, Blau, Gelb, Gold, Orange und Violett waren als Einfassung rings um die Tulpen- und Stiefmütterchenbeete angebracht und bildeten leuchtende Kreise, Halbmonde, Spiralen, Schlangenlinien. Aber noch war es zu hell, um Licht und Farben sich voll entfalten zu lassen. Es war etwas Bleichsüchtiges und Blutleeres in all ihrer Buntheit. In einer Art von türkischem Pavillon oder Kiosk war auf dem kostbaren großfürstlichen Tafelservice, ein reichhaltiges kaltes Büfett angerichtet, in dem graukörniger Kaviar, Ostender Hummer, Lachs aus der Ostsee nicht fehlten, aber auch für den bürgerlichen Gaumen gesorgt war. Der Großfürst hatte diesen Teil der Festvorbereitung persönlich in die Hand genommen. Er galt als Sachverständiger in allen Fragen der Gastronomie, ja mehr noch der Gastrosophie, war ein beliebter Einkäufer und hochwillkommener Gast in den zahlreichen Feinkostgeschäften und Frühstücksstuben der alten wohllebigen Hansestadt.

Adele Waldmann hatte sich an allen diesen Vorbereitungen und Anordnungen nicht sehr beteiligt. Sie wußte, daß der Großfürst sich in seine Festentwürfe nicht gern hineinreden ließ. Er vertrug überhaupt Widerspruch nicht besonders, was ja auch, wie Adele meinte, kein Wunder sei, wenn man dreißig Jahre Balkan hinter sich habe. Im übrigen war sie klug genug, sich selber einzugestehen, daß ihr in den Fragen der gesellschaftlichen Erziehung, in jenen letzten Unwägbarkeiten, in dem gewissen Etwas, das sich nicht sagen läßt, noch mancherlei fehle. Da sie ebenso lernbegierig wie entwicklungsfähig war, so hatte sie nicht nur in ihrer Bühnenlaufbahn, sondern auch durch ihre verschiedenen Liebesbeziehungen vielerlei angenommen und rasche gesellschaftliche Fortschritte gemacht. Am meisten natürlich während des letzten halben Jahres in der Schule des Großfürsten, der ein geborener Erzieher war, allerdings mit der schnell bereiten Knute im Hintergrunde. Manchmal lehnte sich ein gewisses kleinbürgerliches oder proletarisches Klassenbewußtsein Adeles gegen diesen lächerlichen Gesellschaftszwang auf. Dann war ihr, als müsse sie all den Firnis und alle die Politur gleichsam mit den Fingernägeln abkratzen, die Fesseln mit den Zähnen zerbeißen und irgend etwas ganz Gewöhnliches sagen oder tun. Das waren Anwandlungen, die schnell wieder verflogen; besonders wenn sie den Blick von Herrn Weßlowski, dem Haushofmeister des Großfürsten, auf sich ruhen fühlte, der in aller Verbindlichkeit doch immer etwas Spöttisches hatte. Sie hätte ihn manchmal ohrfeigen können. Und sie nahm sich vor, es auf alle Fälle so weit zu bringen, daß selbst ein Weßlowski keinen Fehler mehr entdeckte. Bis dahin hieß es schweigen, lernen und sich möglichst keine Blöße geben.

Weßlowskis Aufmerksamkeit war heute natürlich besonders rege. Er hatte seine Augen überall, war bald hier, bald dort und entdeckte jedes leere Glas, das auf irgendeinem der im Garten verteilten Tischchen neuer Füllung harrte. Sein Wink beflügelte die beiden Diener zu rastlosem Aufwarten und Umhereilen. Es wurde Waldmeisterbowle gereicht. Dem kalten Büfett im Kiosk sah man mit Spannung entgegen. Eine Schnur vor dem Eingang, wie man sie in Museen vor unzugänglichen Kabinetten findet, verwehrte einstweilen den Zutritt in das Allerheiligste. Den Augenblick seiner Eröffnung schien der Gastgeber noch nicht für gekommen zu halten. Aus den offenen Fenstern des Musiksaales, der zu ebener Erde nach dem Garten zu lag, kamen schmeichelnde Streichmusik und das Meckern des Saxophons. Der Großfürst hatte einige Künstler der Kurkapelle für den Abend gewonnen, zog es aber vor, sie im Innern des Hauses statt im Garten musizieren zu lassen, um keine unerbetenen Zaungäste aus dem Badeort anzuziehen. Er war kein Freund von allzu öffentlichen Sensationen. Sein Bedarf hieran, so pflegte er sich zu äußern, sei in den dreißig Jahren Balkan vollständig gedeckt worden. Diesem Bedürfnis nach Unauffälligkeit und Diskretion entsprang es wohl auch, daß er in seinem Verkehr mit Adele selbst vor nahen Bekannten den förmlichen Ton wahrte, obwohl natürlich das wirkliche Wesen dieser Beziehung stadtbekannt war. Die Schauspielerin redete ihren fürstlichen Freund mit Hoheit an, wenn auch gelegentliche Abweichungen und kleine Entgleisungen vorkamen.

Es war begreiflich, daß die Beziehungen des alten Fürsten zu der jungen Schauspielerin in vielen Kreisen der Stadt mißfällig beurteilt wurden, wobei der Fürst fast noch schlechter wegkam als die Schauspielerin. Auch heute abend war in einer kleinen Gruppe der Gäste wieder davon die Rede. Man saß zu dreien auf der kleinen Hügelterrasse, die am seewärts gekehrten Rande des Gartens einen besonders hübschen Blick auf die unten gebettete lichterbekränzte Stadt und auf das dämmernde Meer darbot.

Augustin Haller, der eine von den dreien, war der bekannte Begründer und Leiter des Kabaretts »Zum winkenden Känguruh«, das einige Jahre hindurch der Magnet des Willominer Vergnügungslebens gewesen, jetzt aber etwas in den Hintergrund getreten war. Die Schuld daran schrieb man Haller selbst zu. Er war bei allem künstlerischen Talent, das niemand bestritt, ein unruhiger Kopf und schon darum wahrscheinlich kein guter Direktor. Seine Vergangenheit war wildbewegt, wie man ohne Übertreibung sagen durfte. Er war ursprünglich Offizier gewesen, übrigens in der gleichen Garnison und zur selben Zeit wie Prinz Alban, dann Schauspieler geworden, um nach längeren Jahren, wie man sagte während eines Gastspiels in Südafrika, auch der Schminke überdrüssig zu werden und sein Glück als Farmer zu versuchen. Dabei sollte ihm ein Diamant, groß wie ein Kinderkopf, in die Hände gefallen sein und ihn zum Krösus gemacht haben. Die Erzählung stammte von ihm selbst und wurde daher nicht ganz ernst genommen. Man wußte, daß es ihm auf eine Handvoll Noten nicht ankam, wenn er in der Hitze des Gesprächs oder der Debatte war. Und wann wäre er das nicht gewesen! Man konnte an einen Hochofen denken, der fortwährend in Weißglut steht. Nach seiner afrikanischen Farmerzeit hatte er den Erlös jenes überlebensgroßen Diamanten dazu benutzt, um als reicher, unabhängiger Mann alle Erdteile zu bereisen und auf sämtlichen Kriegsschauplätzen mitzufechten, von denen es in jenem unruhigen Zeitalter um die Jahrhundertwende beinahe jedes Jahr einen neuen gab, als hätten diese kleineren Beben bereits auf das große Weltbeben vorbereiten wollen. Es war ein Genuß, Augustin Haller von allen diesen Feldzügen und den darin bestandenen tausendfältigen Gefahren berichten zu hören. Die Gefangensetzung im Weltkrieg durch die Japaner hatte seinen Taten ein Ende gemacht, dafür aber auch sein Leben vor weiterer Gefährdung bewahrt. Nach dem Friedensschluß war er in die Heimat zurückgekehrt und hatte die letzten Stäubchen jenes Diamanten, die noch an seinen Fingern hafteten, für das »Winkende Känguruh« verpulvert. Wieder, wie so oft in seinem Leben, schlug ihm Fortuna ein Schnippchen, indem sie ihm für ein Weilchen einen Zipfel ihrer Locke in die Hände spielte und dann ins Blaue entschwebte. Auch das »Winkende Känguruh« war drauf und dran mitzuentschweben. Seine Freunde wußten, daß er grade in diesen Tagen oder Nächten krampfhaft nach einem hilfreichen Mäzen suchte. Es war bisher keiner zu finden gewesen.

»Adele hat doch mehr Glück als Verstand!« sagte Lasar Apfel, der erste Charakterspieler des Landestheaters, zu Augustin Haller und goß den Inhalt des vollen Bowlenglases mit einem Zuge durch seine stets trockene Kehle. »Man muß es ihm lassen, dem alten Briganten, der sie sich mit seinen Millionen gekauft hat: ein Filz ist er nicht! Sein Wein ist gut und sein Sekt ist noch besser! Und vor allem ist mehr Sekt als Wein in dem Gebräu! ... Aber gibt es denn in dieser Spelunke keine Bedienung?«

Das war eine lieblose Bemerkung von Apfel. Denn sein Glas war erst vor zwei Minuten frisch gebracht worden. Aber der schwarze, lange, hagere Mann mit dem Totenkopfschädel kannte, wenn die Geister des Weines in ihn eingezogen waren, keine Scheu vor den Mächtigen dieser Erde und keine Schonung seiner selbst oder der übrigen Welt. Er wollte eben mit der Faust auf den Tisch schlagen, als wie von Zauberhand ein volles Glas vor ihn hinschwebte und das leere entschwand. Er sah verblüfft um sich, aber der dienende Geist war schon fort.

»Donnerwetter! Fixigkeit!« bekannte Apfel und fügte zitierend aus einer seiner letzten Rollen hinzu:

»Wirkt mein Wille, kaum gedacht, schon als Befehl?«

Apfel setzte sein Bowlenglas an den Mund und blickte dabei herausfordernd in die Runde, ob Widerspruch laut werde, aber weder Haller, noch Doktor Matthieu, der dritte Mann der kleinen Gruppe, schienen Lust dazu zu haben. Der Besitzer des »Winkenden Känguruhs« war viel zu sehr in seine eigenen Gedanken und Sorgen versunken, um auf die krause Deklamation des bereits halb angesäuselten Charakterspielers achtzugeben. Er lag schwer, breit und massig in seinem Gartenstuhl, streckte die elefantenhaften Beine weit hinaus und hatte die Hände hinter sich in den grauen Haarkranz vergraben, aus dessen Umrahmung der blanke rötliche Schädel wie eine glattpolierte Kegelkugel im ungewissen Schein der Glühlichter und Laternen erglänzte.

»Kinder! Kinder! Kinder!« grollte seine sonore Baßstimme. »Kann mir niemand einen Menschen sagen? ... Gütige Vorsehung! Schicke mir einen Menschen! Nur einen einzigen Menschen!«

Lasar Apfel hatte in sein wieder halbleeres Glas gestiert.

»Sind wir etwa keine Menschen, Sie alter Sklavenhändler?« gurgelte er plötzlich. »Sind wir etwa Schweinepriester? Oder sind wir Lemuren?«

Augustin Haller hatte ein kurzes dröhnendes Auflachen.

»Lemuren? Ganz richtig! Das seid ihr, meine Kinder! Ich aber suche einen Menschen! Vorsehung! Wo hast du den einen Menschen für mich?«

»Sie haben ja Connaissancen genug!« warf Doktor Matthieu ein, der, bisher wenig gesprochen, nur eine Zigarette nach der andern entzündet hatte, um sie nach wenigen Zügen fortzuschleudern. In seinem harten, bösen Gesicht, aus dem eine Habichtsnase in die Luft stach, war ein beständiges Flimmern und Zucken, wie von einer immer wieder verdrängten Nervenstörung. Es hieß von ihm, dem ehemaligen Diplomaten, daß er der eigentliche Hintermann der Spielbank, die Seele des Kurkasinos sei, denen Willomin seinen Weltruf verdankte.

»Lemuren und Schweinepriester!« unkte Apfel, mit den schwarzen Augen rollend, so daß das Weiße darin sichtbar wurde. »Schweinepriester oder Lemuren! Ja, da liegt es! Wir haben nur die Wahl: Eines oder das andere!«

»Für welches von beiden würden Sie sich entscheiden, Signor Apfel?« fragte Doktor Matthieu mit einem malitiösen Lächeln.

»Wenn ich die Wahl hätte für Sie, Apfel,« grunzte Haller, »so würde ich mich an Ihrer Stelle unbedingt zu den Schweinepriestern zählen!«

»Gut gebrüllt, meine Herren Löwen!« donnerte Apfel. »Ausgezeichnet gebrüllt! Hervorragend gebrüllt! Häuft nur allen Dreck der Welt auf mich! Meine Schultern sind stark genug, um auch noch euern Dreck ... euern Dreck ... euern Dreck zu tragen!«

Er hatte seine Worte mit immer wilderer Betonung herausgespien und versank von neuem in dumpfes Brüten.

»Soll ich euch erzählen, meine Kinder,« hub Augustin Haller wieder an, »wie mir einmal in einer ähnlichen Lage, in einer durchaus verzweifelten Situation, die Vorsehung beigesprungen ist?«

»Wir sind ganz Ohr!« sagte Matthieu und hatte wieder sein schiefes, bösartiges Lächeln. »Déchargez-vous!«

»Also hört zu, meine Kinder! Die Geschichte ist ebenso kurz wie lehrreich! Denn sie beweist, daß es eine Vorsehung oder einen Schutzengel gibt! Ich befinde mich ... im März war es zwanzig Jahre her ... ich befinde mich mitten im australischen Busch! Tausend Meilen von Sidney ins Innere hinein! Keine Wasserstelle weit und breit! Seit drei Tagen keinen Tropfen zu trinken!«

»Auch kein Whisky?« warf Apfel, plötzlich wieder erwachend, ein.

»Auch kein Whisky! Nichts, was auch nur entfernt einem Getränk ähnlich! Die Zunge klebt am Gaumen! Wir schleppen uns von Schritt zu Schritt weiter! Jeder Schritt ist näher zum Tode des Verdurstens! ... Was denken Sie, meine Herren, daß in diesem Augenblick geschieht?«

Haller hielt einen Augenblick inne, Antwort von den beiden heischend.

»Ein Affe läßt eine Kokosnuß herunterfallen?« riet Apfel.

»Sie hören einen Quell murmeln?« meinte Matthieu.

»Weder das eine noch das andere, meine Kinder! In diesem Augenblick tritt majestätisch ein Känguruhbock aus dem nahen Sykomorenwald. Eine Herde von weiblichen Känguruhs folgt ihm. Der Bock, mich erblickend, schreitet langsam auf mich zu ...«

» Ein Bock zum andern!« höhnte Apfel, aber Haller würdigte ihn keines Tons der Erwiderung.

»Der Bock bleibt einen Augenblick vor mir stehen, wirft mir aus seinen großen treuen Känguruhaugen einen nachdenklichen, träumerischen Blick zu, macht mit seinen Vorderhänden eine winkende Bewegung ... ich kann es nicht anders bezeichnen ... eine winkende Bewegung und schreitet an der Spitze seiner Herde weiter in den Busch. Ich rufe meine Genossen zusammen, wir folgen ihm und seiner Herde, und wo finden wir sie? Keine zehn Minuten entfernt an einem muntern Bächlein im Eukalyptuswald!«

Augustin Haller schwieg ergriffen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Auch seine Zuhörer schwiegen einen Augenblick. Plötzlich schlug Apfel eine dröhnende Lache auf und sagte laut und unmißverständlich:

»Sie sind ein A...loch, mein lieber Herr! ... Aber verdammt noch eins! Die Geschichte hat mir Durst gemacht!«

»Begreift ihr jetzt, meine Kinder,« resümierte Haller, ohne sich um Apfel zu kümmern, »begreift ihr, warum ich mein Überbrettl, die Gründung meiner reifen Mannesjahre, ›Zum winkenden Känguruh‹ genannt habe? Ich war es meinen Rettern schuldig! Und ich bin es ihnen schuldig, dieses Kind meiner Laune auch weiter am Leben zu erhalten! ... Heilige Vorsehung! Schicke mir einen Menschen, wie du mir damals den Känguruhbock geschickt hast!«

»Wenden Sie sich doch an den Großfürsten!« meinte Doktor Matthieu mit seinem schiefen Lächeln. »Vielleicht gibt er was her? Sie waren ja Regimentskameraden! Oder zapfen Sie den Generalkonsul an!«

»Meinen Jugendfreund Stenzel! Johann Sebastian Stenzel!« bestätigte Haller mit der ganzen Tiefe seines Basses.

»Nun also! Zapfen Sie diese Quelle im Eukalyptuswald an! Wozu hat man seine Jugendfreunde? Da drüben steht er ja gerade mit der van Düren und mit der Waldmann!«

»Das ist Rasse!« fiel Apfel ein und krampfte die Fäuste.

»Rasse ist die van Düren!« erläuterte Matthieu. »Die Waldmann ist Norm! Das ist wie bei den Autos! Es gibt Normalwagen und es gibt den Spezialwagen. Letzterer nur für Kenner. Brauchbarer, gangbarer ist natürlich der Normaltypus. Wenigstens scheint unser maître d'hôtel, der Großfürst, diesem Geschmack zu huldigen. Er hat sich die Publikumsmarke, die Waldmann, zugelegt. Immerhin, die Karosserie ist gut! Polsterung prima!«

»Hat einer von den Herren eine Ahnung, wann der Gralstempel aufgemacht wird?« fragte plötzlich aus der Dämmerung eine fettige Stimme hinter den dreien. Es war Henrici, der Direktor des Landestheaters, ein wohlbeleibter Fünfziger mit einem Eberkopf und kleinen, hinter dem Klemmer listig funkelnden Augen. Er war weit über den engeren Theaterbezirk hinaus wegen seiner scharfen Zunge und seines koddrigen Witzes bekannt, ja gefürchtet. »Was macht eigentlich Ihr hinkendes Känguruh, Herr Kollege, pardon, sinkendes Känguruh?« fuhr er fort, indem er nähertrat und Augustin Haller auf die Schulter schlug. »Ich höre, Sie haben jetzt einen neuen Schlager gefunden: Ach, du lieber Augustin, alles ist hin!«

Henrici lachte über seine gelungene Bosheit herzlich in sich hinein und nahm Doktor Matthieu unter den Arm. Es sei Zeit, die Pforte des Gralstempels zu sprengen, auch wenn man dazu über die Schnur schlagen müsse. Doktor Matthieu quittierte mit einem schmerzlichen Au und Augustin Haller lachte grollend mit. Nur Apfel fühlte sich über die schnöden Witze seines Direktors erhaben.

Er umklammerte mit beiden Händen sein Bowlenglas, als könne es ihm irgendwie entfremdet werden, und blieb in bohrenden Gedanken sitzen, während die andern die Pilgerschaft zum Gralstempel antraten.

»Sie müssen mir Ihren Neffen abtreten,« sagte Kasimir Wladimirowitsch zu Stenzel, ihn in den Hintergrund des Gartens ziehend. »Ich habe große Dinge mit Ihrem Neffen vor, mein lieber Generalkonsul.«

Johann Sebastian hatte ein etwas gemischtes Gefühl bei den Worten des Großfürsten. Einerseits tat die Vertraulichkeit des hohen Herrn, den er ja noch als jungen Offizier gekannt hatte, seinem demokratischen Herzen wohl. Andrerseits wußte er aber aus Erfahrung, daß Kasimir Wladimirowitsch nichts ohne Absicht tat, immer irgendwelche Hintergedanken hatte, die einem manchmal teuer zu stehen kamen.

»Scharmanter Junge, Ihr Neffe!« fügte der Fürst hinzu. »Hat Haltung! Benehmen! Scheint ein Charakter! Sein Einspringen für Fräulein Waldmann im Augenblick, wo das wahnsinnig gewordene Auto sie beinahe schon unter den Rädern hatte: Hochachtung! ... Sie wissen, mein lieber Generalkonsul, ich verfüge da unten in Ungarn über beträchtlichen Landkomplex. Ich suche schon lange nach einer geeigneten Vertrauensperson. Güterdirektor, oder wie man das Ding nennen will! Generaladministrator! Auf den Titel kommt's mir nicht an. Mir scheint, Ihr Neffe ist der Mann, den ich brauche! Ich habe ihm Vorschläge gemacht. Ihre Erlaubnis natürlich vorausgesetzt!«

Stenzel war unangenehm berührt. Er hatte schon etwas von dem Plan verlauten hören. Wenn er zustande kam, so war sein eigener Plan mit Ellerndorf und alles, was damit zusammenhing, vereitelt. Er mußte versuchen, die Sache abzubiegen, möglichst ohne den Großfürsten vor den Kopf zu stoßen. Keine leicht zu knackende Nuß! Aber ein geborener Diplomat, der er ja war, muß auch mit solchen Aufgaben fertig werden.

»Haben Hoheit schon mit meinem Neffen gesprochen?« sondierte er. »Hat er sich vielleicht schon geäußert? Es gehört zu meinen Grundsätzen, meinem Neffen gegenüber von jeder Beeinflussung abzusehen, wozu ich als Familienhaupt ja natürlich legitimiert wäre.«

Kasimir Wladimirowitsch rieb sich das Kinn und fixierte Stenzel durch seine Brillengläser mit einem kurzen Blick.

»Der junge Mann hat da etwas von gewissen Plänen Ihrerseits fallen lassen. Gutskauf hier in der Nähe oder dergleichen. Ich hoffe, wir kommen uns nicht in die Quere, mein verehrter Generalkonsul? Es täte mir leid, wenn ich ganz wider Willen Ihre Kreise gestört hätte.«

Stenzel machte eine beteuernd abwehrende Bewegung, die aber den andern nicht ganz zu überzeugen schien.

»Vielleicht dürfte es sich wirklich empfehlen, den jungen Mann selbst den Griff in die Urne tun zu lassen,« bemerkte der Fürst mit einem nachlässigen Achselzucken. »Es sind eben zwei Gewinnlose drin. Welches das bessere ist, wird vielleicht erst eine dereinstige Schlußbilanz ergeben! Vertagen wir die Frage noch! Es eilt ja nicht! Kommen Sie, lieber Freund! Man vermißt uns schon!«

Er legte seinen Arm kordial um die Schulter des Generalkonsuls und führte den zwischen seinen Gefühlen geteilten kleinen Mann zur Gesellschaft zurück.

Adele ging am andern Ende des Gartens neben Jan Wilhelm Köhler einher. Ihr leicht entzündliches Herz brannte lichterloh. Schon neulich im Atelier hatten Ginevras Schilderung und das Bild des jungen Mannes ihre Phantasie entsprechend durchtränkt, wie einen Haufen von Brennstoff, auf den noch zum Überfluß Öl gegossen wird. In solchen Fällen pflegt ein Streichholz zu genügen. Und hier war eine richtige Brandfackel geschleudert worden! Konnte man ihre Errettung durch Jan Wilhelm anders benennen? Adele Waldmann fühlte sich ihrem Retter und Ritter mit Leib und Seele verfallen. Sie erinnerte sich an das Bild eines modernen Meisters, das besonderen Eindruck auf ihre Phantasie machte. Sie hatte eine Nachbildung davon in ihrem Schlafzimmer hängen. Andromeda steht gefesselt, nackt am Felsen. Der Drache, soeben noch im Begriff, sie in Besitz zu nehmen, liegt erschlagen. Vor ihr prunkt Perseus im blinkenden Panzer, in feuriger Männlichkeit. Was bleibt Andromeda andres übrig, als im nächsten Augenblick, wenn die Fessel gefallen ist, ihrem Befreier als Sklavin zu Füßen zu sinken?

»Werden Sie nun das Anerbieten des Großfürsten annehmen?« fragte sie, zu Boden sehend, um die Erregung zu verbergen, die ihr die Wangen färbte.

»Ich weiß es wirklich noch nicht!« erwiderte Jan Wilhelm, offenbar in ziemlich verdrießlicher Stimmung.

»Es wäre in gewissem Sinne natürlich als Glück für Sie zu bezeichnen?« tastete Adele. »Oder meinen Sie nicht?«

»Auch das weiß ich noch nicht, gnädiges Fräulein!«

»Natürlich würden wir Sie dadurch verlieren ... für lange ... ja, eigentlich für immer ... wir alle hier ...«

Jan Wilhelm lachte kurz auf.

»Der Verlust ließe sich gewiß leicht ertragen für Sie alle!«

»Finden Sie?« sagte Adele und schlug ihre Augen zu ihm auf. Die seinigen begegneten den ihren. Der junge Mann gestand sich ein, daß diese Augen nicht nur die einer Blondine, sondern auch schön und verheißungsvoll und auf eine merkwürdige Weise verschleiert waren, wie wenn ein geheimes Leuchten dahinter versteckt sei. Eigentlich ärgerte er sich, daß ihm das auffiel, und blickte sofort wieder weg. Adele lächelte schwach.

»Vielleicht täuschen Sie sich doch, bester Freund?« begann sie von neuem. »Ich darf Sie wohl so nennen, nicht wahr? ... Aber bedenken Sie, was zum Beispiel meine Freundin Ginevra ... Fräulein van Düren für ein Gesicht machen würde, wenn Sie uns so plötzlich verließen? Denn bald, sehr bald müßte es sein, so hat wenigstens mein hoher Herr dekretiert! ... Glauben Sie, daß Ginevra schon etwas davon weiß? Ich fand sie verstimmt vorhin.«

»Wollen Sie sich über mich lustig machen?« fragte Jan Wilhelm ziemlich brüsk. Die Schauspielerin achtete nicht darauf.

»Der Großfürst meint es sicher sehr gut mit Ihnen. Ich will das nicht bestreiten. Seine Dankbarkeit, weil Sie mir das Leben gerettet haben, ist grenzenlos. Er hängt doch sehr an mir.«

»Das begreife ich vollkommen,« sagte Jan Wilhelm und verbeugte sich.

»Aber natürlich verfolgt er noch einen besonderen Zweck damit.«

»Zweck? Womit?«

»Mit Ihrer Verbannung!«

»Verbannung ...?«

»Nun ja! Es wäre doch gewissermaßen eine, wenn Sie dort in der ungarischen Pußta säßen! Wenn es gelungen wäre, Sie dahin abzuschieben!«

Jan Wilhelm schüttelte unmutig den Kopf.

»Ich verstehe Sie beim besten Willen nicht, Fräulein Waldmann! Möchten Sie sich nicht deutlicher erklären?«

»Darf ich?«

»Ich ersuche Sie sogar darum! Aber auf eines möchte ich Sie schon jetzt aufmerksam machen, Fräulein Waldmann! Man unterschätzt mich, wenn man meint, daß man mich hin und her schieben kann wie eine Schachfigur!«

»Bravo!« rief Adele und klatschte vergnügt in die Hände. Das schien also zu sitzen!

»Ich bin gewiß nur ein ganz kleiner Zeitgenosse,« fuhr Jan Wilhelm fort, »aber mein Freiheitsbedürfnis und mein Selbstgefühl sind so lebendig, daß sie auch vor gekrönten Häuptern nicht ersterben! Selbst nicht, wenn es historische Persönlichkeiten sind!«

»Bravo! Bravissimo!« wiederholte Adele. »Ganz meine Meinung!«

»Ihre?«

»Ach, Sie glauben, weil ich mit dem Großfürsten liiert sein soll? Sie irren sich, bester Freund! Ich sage ihm oft meine Meinung ins Gesicht! Ich geniere mich nicht!«

Der junge Mann blieb mit einer etwas ungeduldigen Bewegung stehen.

»Aber Sie wollten mir doch noch erklären ...?«

»Wenn Sie es durchaus wissen wollen,« lächelte Adele und zeigte ihre weißen Zähne hinter dem blühenden roten Mund. »Also auf gut deutsch ... ich sollte es ja eigentlich nicht sagen ... er möchte Sie natürlich so schnell wie möglich weghaben ...«

»Wer er?«

»Mein hoher Herr natürlich! Der Großfürst!«

»Ach so?!« machte Jan Wilhelm, dem etwas zu dämmern begann.

»Sie verstehen?« Adele lächelte von neuem und schlug die Augen nieder. »Vielleicht fürchtet er, daß Sie meinem Herzen gefährlich werden könnten. Natürlich ist das ein Unsinn! Aber er fürchtet es nun mal! Alte Herren mit jungen Freundinnen haben keine Vorliebe für jüngere Lebensretter! Drum lautet die Parole: Auf nach Ungarn!«

Jan Wilhelm hatte sich kerzengerade aufgerichtet.

»Gnädiges Fräulein! Sie mögen mich für altmodisch halten, aber eine Frau, die einem andern gehört, scheidet für meine Bewerbung aus! ... Wenigstens solange sie noch einem andern gehört! Ihr hoher Herr kann also deshalb ruhig schlafengehen!«

Wenigstens weiß man bei ihm, wie man dran ist! Umstände macht er nicht! dachte Adele bei sich.

»Ah! da haben wir ja die beiden Ausreißer glücklich beisammen!« klang eine Stimme in nächster Nähe. Beide drehten sich gleichzeitig um. Kasimir Wladimirowitsch und Ginevra standen hinter ihnen. Etwas weiter zurück tauchten Stenzel und Frau van Düren im ungewissen Widerschein der vom Abendwind sanft gewiegten Lampions auf.

Die Schauspielerin, von der Bühne her in der Erfassung wechselnder Stimmungen geschult, bewährte sich auch diesmal als Herrin der Lage.

»Gut, daß Sie kommen, Hoheit!« rief sie dem Fürsten entgegen. »Ich habe mir die Lippen wundgeredet, um Herrn Köhler, dem ich ja gar nicht genug danken kann, die Vorzüge Ihres ungarischen Plans ins hellste Licht zu setzen. Er scheint aber noch einige Zweifel zu haben.«

Sie sagte das mit vollendeter Unbefangenheit, wiewohl oder vielleicht gerade, weil sie sich nicht verhehlte, daß sie in Anbetracht von Jan Wilhelms offenkundigem Widerspruchsgeist kein ganz unbedenkliches Spiel damit spiele. Aber Verwegenheit gehört nun einmal zum Hasardieren, das wußte sie von ihren gelegentlichen Kasinobesuchen her.

Ginevra, die mit Jan Wilhelm im Lauf des Abends nur einige kühle Worte getauscht hatte, war bis jetzt schweigende und unnahbare Zuschauerin gewesen. Sie stand im goldfarbenen Abendmantel, einen gleichfarbigen Hut auf dem düsterroten Haar, mit dem Weißfuchspelz um die Schultern, wie eine Königin aus fernen Landen da. Adele, die als Dame des Hauses – sie war es ja schließlich – nur im kleinen Abendkleid, einem fließenden Gedicht in Blau, erschienen war, empfand den Abstand stärker als sonst. Sie wandte sich mit einem bezaubernden Bühnenlächeln an die königliche Freundin.

»Nun, liebste Gina, du schweigst ja in allen Tonarten? Möchtest du unsere Bemühungen nicht durch das Gewicht deiner Argumente unterstützen? Hoheit wird dir gewiß sehr dankbar dafür sein.«

Kasimir Wladimirowitsch verbeugte sich leicht vor Adele, dann um einige Millimeterstriche tiefer vor Ginevra.

»Die Argumente einer schönen Frau sind oft viel wirksamer, wenn sie schweigt, als wenn sie spricht. Sollte Ihnen das in Ihrer interessanten Bühnenlaufbahn entgangen sein, meine beste Adelina?«

»Sicher nicht, Hoheit! Nur die Art, wie Sie es formulieren, finde ich neu. Es liegt ebensoviel Weisheit darin wie Galanterie! Im übrigen wissen Sie ja, ich gehöre zu den Menschen, die gern Belehrung annehmen! Ich glaube, ich werde bis an mein Lebensende zu lernen suchen!«

Adele hatte das mit lächelndem Munde hingeworfen. Ein bitterer Geschmack war doch dabei. Der Generalkonsul, der ihre letzten Worte vernommen hatte, trat angeregt näher, während Frau van Düren mit gekreuzten Armen auf die Gruppe sah.

»Bravo, mein gnädiges Fräulein!« lobte Stenzel. »Bravo! Solche ernsten und klugen Worte hört man von einer jungen Künstlerin gern! ... Aber wir würden wirklich gespannt sein, jetzt auch Ihre Meinung zu vernehmen, mein verehrtes gnädiges Fräulein!«

Der letzte Satz war an Ginevra gerichtet, die denn auch, mit einem königlichen Lächeln des Dankes für ihren kleinen Verehrer, endlich in die Unterredung einzugreifen geruhte.

»Ich finde, jeder junge Mann von heute in unserem verriegelten Deutschland sollte jede sich bietende Gelegenheit benutzen, die Welt zu sehen und seine Kenntnisse zu erweitern! Und wenn er dazu bis zu den Papuas müßte!«

»Bravo! Bravo!« rief der Generalkonsul, um sich allerdings sofort zu berichtigen, indem er mit einem verlegenen Lächeln hinzufügte: »Das heißt, in diesem besonderen Fall kann ich nur mit Einschränkung zustimmen.«

»Ihr Herr Onkel und ich sind nämlich nicht ganz derselben Ansicht über die Nützlichkeit meines Plans für alle Beteiligten,« bemerkte der Großfürst, an Jan Wilhelm gewandt. »Aber die Hauptperson sind ja Sie selbst, mein werter Herr Köhler! Und diese Hauptperson bleibt stumm! Möchten Sie uns nicht mit einem Wort aus dem Dilemma helfen? Nur ja oder nein?«

Der junge Mann schlug die Hacken aneinander und nahm eine militärische Haltung ein.

»Hoheit mögen mir gestatten, meinen Entschluß in drei Tagen bekanntzugeben!«

Er salutierte und verschwand in der nun schon tieferen Dämmerung des Gartens. Die Blicke der Zurückbleibenden folgten ihm mit sehr verschiedenem Ausdruck.

»Gefällt mir ausgezeichnet, der junge Mann!« äußerte der Großfürst und sah in die Runde. »Sicher sehr schneidiger Soldat gewesen! Wenn Sie ihn mir nicht für Ungarn abtreten, bester Generalkonsul, sind wir für ewig geschiedene Leute!«

Er lachte herzlich, klopfte Stenzel auf die Schulter und wandte sich an Adele.

»Darf ich Sie bitten, meine liebe Adelina, Weßlowski das Zeichen zu geben? Ich sehe einige meiner Gäste bereits in einer Attacke auf den Kiosk. Weßlowski ist im Begriff, überrannt zu werden. Schwenken Sie die weiße Fahne!«

Die Schauspielerin entfernte sich eilends in der Richtung auf den erleuchteten, von dunkeln Gestalten umzingelten Kiosk.

»Darf ich Sie um Ihren Arm bitten, meine Gnädigste? Es wird drüben am Bassin für uns serviert.«

Kasimir Wladimirowitsch reichte Frau van Düren den Arm. Helene, in einer lilasamtenen Abendtoilette, die wie ausgesucht zu ihrem graublau metallischen Haar stand, legte ihren Arm in den des Großfürsten.

»Soll ich Ihnen etwas sagen, Hoheit?«

»Oh! Ich wäre außerordentlich glücklich darüber!«

»Sie wollen den jungen Mann nach Ungarn schicken? Aber mir scheint, der hat seinen eigenen Kopf. Ich glaube, der beißt nicht an!«

»Ich würde das ungemein bedauern! Vor allem im wohlverstandenen Interesse des Herrn selbst.«

Die weiche, biegsame Stimme des Großfürsten hatte einen verschleierten Unterton von Schärfe. Um Helenes Lippen spielte wieder dieses leise mokante Lächeln.

»Kennen Sie meine Theorie, Hoheit? Was geschehen soll, geschieht, und wenn man sich hundert Pläne dagegen ausdenkt! Und was einem bestimmt ist, dem entgeht man nicht! Das ist mein Gedanke!«

Kasimir Wladimirowitsch blieb stehen und wandte den Kopf zu seiner Begleiterin.

»Für mich sind dreizehn Pistolenkugeln, acht Bomben und zwei Höllenmaschinen bestimmt gewesen in dreißig Jahren Regierungszeit! Sie sehen, ich lebe noch

Frau van Düren lachte laut auf.

»A la bonne heure! ... Aber dann sind sie eben nicht für Sie bestimmt gewesen!«

»Doch! Doch! Die betreffenden Herren haben sich durch die Bank zu ihren Experimenten bekannt, ehe sie am Galgen hingen! Wir haben da auf dem Balkan ganz probate Methoden, um zu solchen Bekenntnissen zu gelangen. Sie versagen nie!«

Helene fröstelte es plötzlich an der Seite des milde lächelnden, breitschultrigen Mannes mit den grauen Haarschopf und dem aufgesträubten Hahnenkamm. Er schien es zu bemerken. Sein Gesicht wurde ernst.

»Im übrigen pflichte ich natürlich Ihrer Weltanschauung vollständig bei. Es ist auch die Lehre meines erhabenen Vorbildes und Meisters!«

»Wer ist das?« fragte Helene.

»Es ist Gautama Buddha, der größte Mensch, der je gelebt hat!« erwiderte der Großfürst mit weicher, vibrierender Stimme. »Ich bin seit vielen Jahren bestrebt, seine Lehre in mir zu verarbeiten, wiewohl ich natürlich weiß, daß ich nicht wert bin, auch nur seine Schuhriemen zu lösen.«

Drei Gongschläge hallten durch den abendlichen Garten. Weßlowski hatte sie auf Adeles Weisung abgegeben. Es war wirklich wie das Hissen der weißen Fahne auf den Wällen einer gründlich beschossenen und sturmreifen Festung. Weßlowskis Stellung gleichsam vor den Toren der Festung wäre gegen den Vorstoß von Henrici, Augustin Haller, Doktor Matthieu und dem inzwischen doch auch herbeigeeilten Apfel keine Minute länger zu halten gewesen. Kaum war das Signal zur Übergabe verklungen, als sich schon die Plünderung durch eine von langer Entbehrung angestachelte und zum Äußersten entschlossene Truppe vollzog. Die eben genannten vier Gewaltigen genossen dabei als die Vorhut natürlich auch alle Privilegien siegreicher Sturmkolonnen, Hummer, Kaviar, Lachs fielen sofort in ihre Hände. Die Nachzügler mußten sich an die noch immer stattlichen Überbleibsel halten.

Zu den Nachzüglern gehörten auch Ginevra und Stenzel.

»Ihre Worte vorhin haben mich sehr glücklich gemacht, Ginevra!« sagte der Generalkonsul, als sie sich auf einem einsamen Seitenwege dem inzwischen erstürmten Pavillon näherten. »Ich darf Sie doch Ginevra nennen?« fügte er nach einer Pause mit einem ehrerbietig zärtlichen Blick hinzu.

»Warum nicht?!« lächelte Ginevra. »Ich heiße ja so!«

Stenzel blieb stehen und faßte mit eingeklemmtem Monokel das schöne königliche Mädchen ins Auge.

»Ich gebe nämlich Ihren Worten die Deutung, daß Ihr Herz noch frei ist!«

»Wirklich ...?«

Ginevra lächelte wieder aus unendlicher Ferne.

Der Generalkonsul rang mit seinen Worten.

»Ich will damit sagen, daß Ihr Herz jedenfalls nicht meinem Neffen gehört ... Daß Sie kein tieferes Gefühl für ihn hegen?«

»Und warum nicht?«

»Sonst würden Sie doch nicht wünschen, daß er nach Ungarn geht? Von den Papuas gar nicht zu reden! Habe ich mit meiner Deutung recht?«

»Sterndeuter und Wahrsagerinnen haben immer recht, auch wenn manchmal das Gegenteil eintrifft! ... Aber ich gebe zu, Sie sind wirklich ein Menschenkenner, wie selten einer, Herr Generalkonsul!«

»Ein bißchen darf ich mich vielleicht so nennen,« erwiderte der Generalkonsul und lächelte zustimmend. »Wie wäre ich sonst auch der Stenzel geworden, der ich bin!«

Geheimrat Herzigkeit stand an den Birnbaum gelehnt, hielt sein Champagnerglas in der Hand und sprach zu der kleinen Gesellschaft, die um den leise glucksenden Springbrunnen an den gedeckten Tischchen saß. Herzigkeit war nicht nur als geübter und schlagfertiger Parlamentsredner bekannt, sondern auch durch seine wohldurchdachten Trinksprüche bei Taufen, Hochzeiten, Geburtstagen, Jubiläen und Liebesmahlen. Es gab in Stadt und Staat wohl keinen derartigen Anlaß, bei dem Herzigkeit nicht das Wort ergriffen hätte. Einer seiner Freunde, immerhin ein Spötter, hatte in dieser Hinsicht einmal geäußert, sein ganzes Begräbnis werde ihm keine Freude machen, wenn Herzigkeit ihm nicht die Grabrede halte. Und siehe da! Einige Jahre später war jener Spötter gestorben und Herzigkeit sprach wirklich und sehr ausgiebig an seinem Sarge, so daß also jener keinen Grund hatte, sich zu beklagen.

Auch seine Feinde – wer hat schließlich keine! – konnten nicht bestreiten, daß Geheimrat Herzigkeit eine ungewöhnliche Laufbahn hinter sich hatte und als ein Mann erst zu Ende der Fünfzig noch zu Größerem berufen sein möge. Auch er war – wie Johann Sebastian Stenzel – ein Lehrerssohn, der aus kleinen politischen Anfängen in der Gewerkschaftsbewegung sich zu seiner heutigen maßgebenden Stellung in Stadt und Staat emporgearbeitet und hinaufdebattiert hatte. Einer der wichtigsten Einflußbezirke in dem sehr rührigen, von politischen Leidenschaften durchwühlten Stadtstaat war seiner Leitung unterstellt: Unterricht, Kunst, Theater. Der ziemlich kleine Mann mit dem glattrasierten faltigen Gesicht, stets im offiziellen schwarzen Gehrock – hierin seinem Freunde und Altersgenossen Stenzel nacheifernd – sah aus wie ein Landpfarrer. Aber was in seiner Brust und in seinem Gehirn lebte, hatte nichts mit diesem Bilde zu tun. Er stand politisch ziemlich weit links, galt jedoch nicht als Fanatiker und wußte sich, wenn es das Interesse seines Amtes erforderte, geschmeidig zwischen den Parteistandpunkten und Parlamentsfallen hindurchzuschlängeln. Sein ganzes Herz gehörte dem Theater und allem, was es umschließt, Frauenreiz nicht ausgenommen. Aber da er unter sorgfältiger ehelicher Obhut stand, so war nicht viel Gefahr dabei. Frau Herzigkeit war klug genug, den Bogen nicht zu überspannen und hatte auch zu der Teilnahme ihres Mannes an dieser nicht unbedenklichen Abendgesellschaft ihren Segen erteilt. Es gibt Pflichten, die ein im öffentlichen Leben stehender Mann nun einmal zu erfüllen hat, und Herzigkeit war Pflichtmensch bis zur Selbstaufopferung.

Pflicht und Freiheit hieß denn auch das Thema, das der Geheimrat, an den Birnbaum gelehnt, den Kopf etwas vorneigend, das leere Champagnerglas wie einen Taktstock handhabend, vor dem kleinen erlauchten Kreise seiner Zuhörer abwandelte. Herzigkeit gehörte zu jenen geborenen Rednern, die eine Stunde oder zwei sprechen können, ohne müde zu werden und ohne daß man nachher weiß, was sie eigentlich gesagt haben. Als er nach zwanzig Minuten schloß, klangen allen eigentlich nur seine letzten Sätze in den Ohren, wonach die private Pflicht des einzelnen sich mit der öffentlichen Freiheit der Gesellschaft und wiederum die Pflicht der Öffentlichkeit sich mit der Freiheit des Individuums zu einer schönen Doppelehe zu verbinden habe. Von hier war nur noch ein kurzer Sprung bis zur Vermischung aller gesellschaftlichen, aller Standes- und Klassenunterschiede zu einer Art von höhermenschlichem Edelsalat. Herzigkeit tat den Sprung mit der behenden Grazie des fertigen Kunstturners und schloß, indem er sein eilends gefülltes Glas auf das Wohl der neuen Jugend leerte, die unsere einzige Hoffnung sei in den Stürmen dieses wilden, um und um gequirlten Zeitalters. Ihr vollgültiger Exponent, der Held des heutigen Abends, Herr Jan Wilhelm Köhler, solle leben gelassen werden.

Die Gläser klangen aneinander. Aber als man nach dem Helden des Abends suchte, um mit ihm anzustoßen und um ihn zu feiern, war er verschwunden. Es schien nicht mehr allzusehr aufzufallen. Französischer Champagner floß reichlich, wenn auch nicht gerade in Strömen, wie es am nächsten Tage aus der Feder des Doktors Matthieu im »Badeanzeiger« zu lesen war. Im Kiosk wurde getanzt. Das Büfett war weggeräumt, die Musik dorthin übergesiedelt. Erst jetzt entfalteten die feurigen Kreise, Halbmonde, Spiralen und Schlangenlinien längs den Blumenbeeten und Gartenwegen ihre volle Leuchtkraft in allen Farben des Spektrums. Ginevras Antlitz, selbst im Tanz unzugänglicher Marmor, war von huschenden Lichtern unwirklich umflossen. Im Gegensatz zu ihr zeigte sich Adele Waldmann ausnehmend vergnügt. Sie tanzte viel und fast mit allen Herren des Kreises. Besonders auch mit Geheimrat Herzigkeit, der erst im letzten Winter sich dem Studium der neuen Tänze in einem eigenen Privatkurs für Geheimräte hingegeben hatte. Helene van Düren unterhielt sich über Erwarten gut. Man hörte ihr fröhliches Lachen bald hier, bald dort aus dem Stimmengewirr des Gartens heraus.

Augustin Haller hatte man erst mit den Großfürsten, bald darauf mit Johann Sebastian Stenzel in einem schwach erleuchteten Laubengang verschwinden sehen. Als er nach geraumer Zeit wieder auftauchte, wohnte Siegesfreude auf seinen zottigen Brauen.

»Kinder! Kinder! Kinder!« rief er der kleinen Gruppe entgegen, die sich dicht um die Champagnerquelle geschart hatte. »Die Vorsehung hat meinen Schrei gehört! Der Känguruhbock ist da!«

»Der Großfürst?« fragte Matthieu, der wieder einen Anfall seines Gesichtszuckens hatte.

Haller schlug eine verächtliche Lache auf.

»Der Großfürst? Wer spricht vom Großfürsten? ... Den Großfürsten geb' ich auf!«

»Auf diesem steinigen Acker blühen keine meiner Rosen mehr!« deklamierte Apfel, das Zitat ergänzend, obwohl der Posa nicht eigentlich zu seinem Rollenfach gehörte.

»Also dann der Generalkonsul?« forschte Matthieu weiter.

»Mein Jugendfreund Johann Sebastian Stenzel! So ist es! Der Känguruhbock im Eukalyptuswald! Ich habe ihm zwar erst ein Loch in den Bauch reden müssen! Aber dafür zahlt er auch alles! Kinder! Ich führe euch großen Zeiten entgegen!«

Gegen Schluß des Abends war es noch einmal an Geheimrat Herzigkeit, einen zusammenfassenden Trinkspruch auszubringen. Er galt dem allverehrten Gastgeber, Seiner Hoheit dem Großfürsten, und unserem gewaltigen, mit keinem früheren vergleichbaren Zeitalter. Bald darauf empfahlen sich die Menschen dieser aus gestern und morgen wunderlich gemischten Gesellschaft von dem schon etwas ungeduldig gewordenen Großfürsten. Es war die Stunde, wo die drei leuchtenden Boten des Sommernachtshimmels, Vega, Deneb und Atair, bereits auf ihrer Bahn gen Westen abzusteigen begannen und von Osten über das stärker rauschende Meer hin der erste Frühschein des kommenden Tages kundschaftete.


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