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25. Kapitel

Stubenarrest und Beförderung. Erich wird zu einer reitenden Batterie versetzt.

Wenn auch die Begnadigung Erichs und des Bombardiers Schmoller von Untersuchungsarrest und Standrecht geradeso umfassend vor sich ging, wie der junge Flattich dieselbe berichtet, ja, wenn auch Freiberg wirklich zum Bombardier der reitenden Batterie ernannt war, so hatte der Oberst es doch für gut befunden, über die beiden Verbrecher bis zu deren Abgang einen strengen Stubenarrest zu verhängen, um, wie er sich in dem Brigadebefehle aussprach, fernere Excesse dieser jungen Leute in hiesiger Stadt unter seinen eigenen Augen zu verhüten, sowie um ihnen Zeit zum Nachdenken zu geben über einen künftigen geregelteren Lebenswandel. Was den Bombardier Freiberg anbelangt, hieß es weiter, so soll derselbe wissen, daß von seinem künftigen Batteriechef vierteljährlich ein Führungszeugnis über ihn eingereicht wird, wonach sich bestens zu achten, da es von dem Facit dieser Führungsatteste am Schlusse eines Jahres abhängen wird, ob der benannte Bombardier Freiberg wieder in die Schule aufgenommen werden kann.

Daß dieser Stubenarrest streng gehandhabt würde, dafür hatte auch, was Erich anbelangte, Hauptmann Wetter gesorgt, indem dieser ihm nach einigen freundlichen, ermunternden Worten, worin er ihm gesagt, daß es für seine zukünftige Carriere durchaus nicht schaden würde, wenn er ein Jahr lang praktischen Dienst thue, das Versprechen abgenommen hatte, diesem Stubenarreste auf das gewissenhafteste nachzukommen. Nur in einem Punkte war dies hart für den Betreffenden: er hätte so gern etwas über Ticzka erfahren, hatte aber niemand, dem er sich anvertrauen konnte und mochte. So viel erfuhr er allerdings, daß die Kunstreitertruppe noch einige Vorstellungen gab, aber ohne die berühmte Kolma, deren Unwohlsein immer noch nicht gehoben war. Allerdings fand er einigen Trost gerade in diesem Unwohlsein, denn er hatte Schlimmeres befürchtet ob aber am Ende nicht noch Schlimmeres zu befürchten war? Wer vermochte ihm das zu sagen? Und so gab es für ihn Stunden, wo ihm diese Ungewißheit fast unerträglich wurde. Nicht als ob er ein innigeres Gefühl liebender Zuneigung für die schöne Ticzka empfunden, nein, es war vielmehr, als er sie hier wiedersah, das Gefühl der Dankbarkeit, verbunden mit der Bewunderung über die großartigen Leistungen, was ihn stolz machte, von ihr gekannt zu sein, was ihn antrieb, sie aufzusuchen, was ihn an sie fesselte und was ihn auch wieder von ihr trennte. Ja, so hatte er für sie gedacht und gefühlt an jenem Abende, bevor die unglückliche Katastrophe eintrat, und wenn auch zuweilen einer ihrer warmen Blicke, einem Blitze ähnlich, blendend in sein Herz fiel, so zündeten doch diese Blitze nicht, sondern erschienen ihm wie fernes Wetterleuchten, wie die Ahnung eines herrlich abkühlenden Gewitters, das vielleicht später einmal über die Landschaft hinziehen werde, dessen Blitze zwar jetzt nur, allerdings ahnungsvoll, seinen Horizont erleuchteten, ihn aber veranlaßten, sich wie zum Schutze gegen die Wirklichkeit und wie am Herzen einer Schwester an die schöne Kolma anzuschmiegen. Unter diesen Gedanken und Empfindungen war er auch von ihr gegangen, trostlos, tief ergriffen über das Unglück, welches sie betroffen, und wenn er sie, wie während der Nacht im Traume und Wachen oft geschah, vor sich sah, bleich, mit geschlossenen Augen auf ihrem Lager, und er mit innigem Drucke ihre Hand ergriff oder sich über sie beugte, um ihre bewegungslosen, kalten Lippen zu küssen, da hatte er das Gefühl, eine teure Schwester plötzlich kennen gelernt und ebenso plötzlich wieder verloren zu haben, und bei allem Schmerze um sie war ihm dieses Gefühl doch ein mildes, tröstliches gewesen, bis ihm Selma entgegentrat, wie die Schlange im Paradiese, und ihm eine Frucht reichte vom Baume der Erkenntnis, worauf er denn aus seinem eigenen Paradiese, aus allen seinen Himmeln hinausgeworfen worden und allerdings zur Erkenntnis gekommen war, daß es vielleicht thöricht von ihm gewesen wäre, sich gestern vor dem heranziehenden Gewitter zu verbergen. Ah, die schöne, wilde und doch so gute Ticzka, und ihr gegenüber jene andere, jene Selma, deren herausforderndes Wesen ihn schon damals abgestoßen hatte!

Wenn er daran so lebhaft dachte, und das geschah ihm häufig in diesen Tagen, so preßte er den Kopf zwischen seine Hände, murmelte ein Wort des Hasses gegen die hochblonde Pfarrerstochter und flüsterte wohl vor sich hin: Vergib mir, Kolma, daß ich mir das angethan!

Übrigens dauerte der Zimmerarrest der beiden jungen Leute nur kurze Zeit, und schon nach vier Tagen erhielten sie beim Appell ihre nötigen Papiere eingehändigt, sowie auch eine Marschroute mit Verpflegungsanweisungen und dem Befehl, am anderen Morgen nach ihrem neuen Bestimmungsorte abzugehen. Damit war auch der Arrest aufgehoben, und Schmoller beeilte sich, in der Stadt umherzutraben, um seine dringendsten Privatverhältnisse abzuwickeln, während sich Erich auch gleich von dem Appell hinweg auf den großen Platz begab, wo sich wohl noch die Bude der Kunstreiter befand; aber sie selbst waren nach ihrer letzten Vorstellung gestern abend heute in aller Frühe abgezogen. An dem öden Cirkus vorbei führten ihn seine raschen Schritte nach dem kleinen Hause, wo die Ticzka gewohnt; doch sah er auch schon hier von weitem an den offen stehenden Fenstern und Thüren, an Stroh und Papier vor dem Hause, daß er zu spät komme. Und in der That fand er eine alte Frau, die damit beschäftigt war, die Räume des leeren Hauses notdürftig in Ordnung zu bringen.

»Seit wann haben die Bewohner dieses Haus verlassen?« fragte er die Alte, worauf sie ihm entgegnete:

»Dienerschaft und Pferde sind heute morgen mit den anderen abgezogen, während die kranke Dame mit ihrem Begleiter, einem alten Manne, schon vorgestern in einem bequemen Reisewagen abgereist ist.« »War die Dame noch sehr krank?«

»So, so blaß genug sah sie allerdings aus; die Leute erzählten, die Dame hätte sich bei einer Probe durch den Sturz ihres Pferdes verletzt. Doch so arg gefährlich glaube ich nicht, daß es gewesen ist, wenigstens ging sie, nur leicht auf den Arm ihres Begleiters gestützt, ohne Anstand die Treppe hinunter.«

»Vorgestern war das?«

»Ja, junger Herr.«

»Und wohin sie fuhren, wißt Ihr nicht?«

»Wahrscheinlich den anderen voraus, die heute morgen nachgereist sind. Doch ist das wohl leicht zu erfahren.«

»Ja, das wird wohl leicht zu erfahren sein. Ich danke Euch.«

Erich hatte so gut wie gar keine Bekannte in der Stadt, da ihn der strenge Schulzwang verhinderte, welche zu machen. Heute war er nicht nur von diesem befreit, sondern wenn er auf die goldenen Tressen an seinen Aermelaufschlägen blickte und die ehrfurchtsvollen Grüße der ihm begegnenden Gemeinen bemerkte, so fühlte er nicht ohne Stolz, daß er der Welt etwas geworden sei. Ja, das Bewußtsein, jetzt die erste, wenngleich sehr kleine Stufe erklommen zu haben, ließ ihn seine Verweisung von der Schule nicht so bitter empfinden, als dies sonst wohl der Fall gewesen wäre.

Der Hauptmann Wetter hatte recht, dachte er bei sich; es kann mir nur von Nutzen sein, ein Jahr lang praktischen Dienst zu thun, und wenn ich dann wieder als Bombardier hierher zurückkehre und, wie es sich von selbst versteht, in die höchste Klasse aufrücke, da ich bei der Batterie tüchtig über meinen Büchern sitzen werde, so wird sich auch alsdann das langweilige Schulleben anders gestalten.

Ja, er freute sich auf seine neue Bestimmung, wie jeder andere Schüler auf eine beginnende Ferienzeit.

Es war ein kalter, aber trockener Novembertag, und ohne Zweck und Ziel streifte er ein paar Stunden in der Stadt umher; Privatverhältnisse abzuwickeln, wie Schmoller, hatte er nicht, auch brauchte er keine Schulden zu bezahlen oder seine Gläubiger auf die Zukunft zu vertrösten. Die einzigen Orte, die er absichtlich aufsuchte, waren die Hallen des heiligen Augustin, an denen er sozusagen glücklicherweise nur hart vorbeigestreift war, denn es war auch von den diktierten drei Tagen Mittelarrest weiter keine Rede mehr gewesen, sowie ferner die Wohnung des Obersten, die er sich allerdings nur schüchtern aus der Entfernung betrachtete, sich aber dabei lebhaft des Morgens erinnernd, wo er von dem Brigadechef allerhöchstselbst festgenommen worden war; gern hätte er den guten alten Kommandeur noch einmal gesehen, allerdings in nicht gar zu großer Nähe, und wurde ihm dieses Glück auch gänzlich unverhofft, doch nicht gerade so, wie er es gewünscht, zu teil. Denn nachdem er das besagte Haus mit der vor demselben auf und ab wandelnden Schildwache, sowie die Fenster des Ordonnanzzimmers, schaudernd in der Erinnerung, einen Augenblick betrachtet und dann um die nächste Straßenecke gebogen war, sah er den Oberst keine drei Schritte entfernt, auf sich zuwackeln, und er konnte nichts thun, als in der ersten besten militärischen Haltung Front machen.

Fast wäre der Oberst an ihm vorbeigegangen; doch sagte ihm sein Begleiter, der Adjutant Lindenbaum, lächelnd ein paar Worte, worauf er stehen blieb und den jungen Mann mit einem majestätischen Blicke betrachtete und dann zu sich heranwinkte.

Glücklicherweise war Erich so vorschriftsmäßig wie möglich angezogen, hatte auch den Säbel, wie es der Oberst gern sah, beinahe ganz auf den Rücken geschoben, dazu blank gewichste Stiefel und blank geputzte Knöpfe, reine Handschuhe und hell leuchtende Tressen, glücklicherweise auch statt seiner eigenen besseren Kopfbedeckung eine ordonnanzmäßige Dienstmütze auf dem Kopfe.

»Aha,« rief der Oberst, nachdem er ihn eine Zeitlang betrachtet, in launigem Tone, »dat is der Eene von den zwee Beeden, der Freiberg, den ick zur reitenden Batterie versetzt habe. Ja, sieht Er, mein Sohn, Ordnung muß sind, und Er wird mir zugeben, dat ick bei allem dem sein gnädigster Oberst gewesen bin. Doch hätte ick diese Gnade nicht gehabt, wenn sein Herr Hauptmann Wetter und sein Herr Oberfeuerwerker Doll ihm nicht die besten Zeugnisse erteilt. Und nun kann Er sich trösten, denn wenn et auch sehr schön ist, drei Jahre lang über den Büchern zu sitzen und Federfuchser zu sind, so kann et doch eenen jungen Mann nich schaden, wenn er ein Jahr lang dazwischen den praktischen Dienst erlernt. Hat Er mir verstanden und begriffen?«

»Zu Befehl, Herr Oberst, und ich bin dem Herrn Oberst für die gnädige Strafe dankbar!«

»Dat freut mir, und wir werden ihn im Auge behalten, nicht wahr, Herr Hauptmann Lindenboom? Und wir haben ihn ooch zu eener ganz passenden Batterie gethan, zu dem Herrn Hauptmann Freiherrn von Manderfeld« bei dem Worte Freiherr hob der Alte mit komischer Gravität die Hand grüßend an die Mütze , »ein Mann, der seine Manieren hat und der eenen Premierlieutenant besitzt, der, wat den Dienst anbelangt, den Teufel im Glase fängt, der Premierlieutenant nämlich. Nun, gehab Er sich wohl, mein Sohn, und wenn ick ihn wiedersehe, hoffe ick, nur Gutes über ihn zu hören!«

Gern hätte Erich die Rechte des guten, alten, biedern Offiziers, so tapfer im Kriege und so wohlwollend für seine Untergebenen, der gediegenste, prächtigste Kern in allerdings rauher Schale, mit seinen beiden Händen ergriffen und an seine Lippen gedrückt; doch wäre ein solches Unterfangen gerade so gut gewesen, wie eine schon unterschriebene Anweisung für die Hallen des heiligen Augustin. Deshalb stand er so regungslos wie möglich, in schönster Haltung, den kleinen Finger an der Hosennaht, wie es damals zu einer untadelhaften militärischen Stellung erforderlich war, und that nur das Erlaubte, dem Oberst nämlich mit langsam gewendeten Augen nachblicken, würde auch vielleicht in einem leicht begreiflichen Gefühle der Verehrung länger stehen geblieben sein, als gerade notwendig war, wenn ihn nicht ein leichter Schlag auf die Schulter hatte umschauen machen, wo er dann in das heitere Gesicht Schmollers blickte, der ihm lachend versicherte, daß die eben stattgehabte Scene, von weitem gesehen, sich recht vortrefflich gemacht habe. »Gerechter Himmel, wenn das mir passiert wäre, ich glaube, ich wäre abermals zum heiligen Augustin gesandt worden!«

Und wenn je eine Befürchtung wahr gewesen wäre, so diese; denn etwas Dienstwidrigeres wie Schmollers Anzug, in welchem er seine privaten Verhältnisse abgewickelt hatte, war nicht leicht denkbar: sein eigenes, wieder zusammengeflicktes Beinkleid von viel zu Heller Farbe, eine weiße Weste unter der halbzugeknöpften Uniform, einen Hemdkragen über der schwarzen Halsbinde und Sporen an den Stiefeln Sporen für den Bombardier einer Festungscompagnie!

»Du bist wirklich ein unverbesserlicher Geselle!« sagte Freiberg.

»Was willst du?« entgegnete Schmoller, die Achsel zuckend. »Man ist es sich schuldig, einen vorteilhaften Eindruck zurückzulassen. Meine Marschroute habe ich in der Tasche, und wenn es mir auch allerdings nicht angenehm gewesen wäre, dem Alten in die Finger zu laufen, so hat es mir doch wohlgethan, mit meinem Anzuge ein paar Freunde zu ärgern. Ich sage dir, der Brigadeschreiber ist gelb geworden vor Neid, wie er mich so angesehen, und sämtliche Kerls da oben, der Block und der junge Flattich, hätten viel darum gegeben, wenn sie ebenfalls zu einer Batterie nach der Residenz versetzt worden wären. Doch mußt du mir einen Gefallen thun; ich muß noch einmal an jenem Hause vorbei, wo ich so glücklich gewesen, und da es sich viel schöner macht, wenn man zu zweien lachend und plaudernd flaniert, so wirst du mich begleiten.«

Erich that das nicht gern, denn für ihn hatte jenes Haus keine angenehmen Erinnerungen; doch hatte Schmoller schon seinen Arm in den Erichs gelegt und zog ihn mit sich fort.

Da war das betreffende Haus, dem sich Freiberg nicht ohne Herzklopfen näherte. Sehr angenehm war es ihm aber, von niemand gesehen, wenigstens nicht erkannt zu werden, ein Gefühl, das sich Schmoller den Anschein gab, mit ihm zu teilen, denn dieser sagte achselzuckend:

»Es thut mir eigentlich leid um das hübsche Mädchen, das jetzt in seiner Küche sitzt und wahrscheinlich um mich weint das ist nun einmal nicht anders!«

Ein bekanntes Gesicht hatte aber Erich, schüchtern aufwärts blickend, dennoch bemerkt, das des Herrn Professors, der am Fenster stand und an den Himmel hinaufblickte. Seine ganze Vergangenheit in Zwingenberg trat damit in einer so unangenehmen Lebendigkeit, zugleich mit einer anderen Erinnerung, vor seine Seele, daß er froh war, im nächsten Augenblicke das Haus hinter sich zu haben und am anderen Morgen die Stadt.

In jenen glücklichen Zeiten, wo es noch keine Eisenbahnen gab, welche einen versetzten Militär mit oft so unangenehmer Geschwindigkeit an seinen neuen Bestimmungsort liefern, wo Post- und Eilwagen nur als großer Luxus betrachtet wurden, strich man gemütlich an der Hand der Marschroute und unter dem Schutze des »Vorzeiger dieses« zu Fuß durch einen guten Teil der Monarchie und nahm das meistens wie eine Ferien- oder Vergnügungsreise aus der Jugendzeit hin, besonders in guten, wohlhabenden Gegenden, wo sich der Ortsvorsteher eine Ehre daraus machte, ein paar einzeln anlangende Militärs in seine eigene Wohnung und abends mit sich ins Wirtshaus zu nehmen, wo der hübsche Unteroffizier und Soldat die Augen der Dorfschönen auf sich zog und wo er häufig nach einem Ruhetage mit unruhigem Gemüte weiterzog, Thränenspuren, Versprechungen hinter sich lassend, heiße Wünsche und sonst noch allerlei mit sich davonnehmend. Leider war es schon sehr spät im Herbste, als unsere beiden Freunde über Berg und Thal ihrem neuen Bestimmungsorte entgegenzogen, was sie diese an sich hübsche Tour nicht so genießen ließ, als wenn sie dieselbe im Frühjahre oder Sommer, gemacht hätten; doch hatte es trotz Morgennebel und kühler Nächte immer noch hie und da kleine Abenteuer, die der Erinnerung wert waren, gegeben. So versicherte wenigstens Schmoller seinem Freunde, wenn sie das betreffende Dorf eine Stunde oder so etwas hinter sich gelassen hatten, wobei alsdann der ältere Bombardier, von einem Hügel oder sonstiger Anhöhe rückwärts schauend, irgend einen beliebigen Kalendernamen seufzend zurückrief. Erich aber, der wohl wußte, wie gern sein Freund in Erzählung ähnlicher Abenteuer übertrieb, hatte deshalb auch wenig Mitleid mit all den gebrochenen Herzen, welche nach Schmollers Versicherung hinter ihm zurückblieben.

Da indessen auf dieser kleinen Reise nichts besonders Bemerkenswertes vorfiel, was von Interesse für den Lauf unserer Erzählung gewesen wäre, so wollen wir den Faden der Begebenheiten wieder aufnehmen am letzten Tage ihres Marsches, wo sie aus ihrem letzten Quartier, statt der Chaussee zu folgen, die sich an der Seite eines breiten Flusses auf Umwegen durch ein weites Thal dahinzog, den näheren Weg über einen bewaldeten Gebirgskamm nahmen, von dessen Höhe sie um die Mittagszeit einen herrlichen Anblick genossen auf die in der Ferne vor ihnen liegende, weit ausgedehnte Stadt mit ihren Kuppeln und Türmen. Leichte Anhöhen umgaben sie in einem Halbkreise, und diese Anhöhen waren mit kleinen Festungswerken gekrönt. »Leider wird wohl eines davon der Schauplatz meiner künftigen Thaten sein,« meinte Schmoller mit bedenklichem Kopfschütteln; »es ist ein ziemlicher Weg von da in die Stadt, und da hätte man ebensogut ins Kloster geschickt werden können. Nun, wir wollen sehen, was uns die Zukunft da unten bringt.« Sie lagerten sich auf der Höhe unter einer mächtigen Eiche und blickten in die prachtvoll herbstlich gefärbte Landschaft, die von der glänzenden und noch immer warmen Sonne eines echten Altweibersommertages bestrahlt wurde. Ringsumher sah man die lebendigsten und buntesten Farben, eine wahre Musterkarte von Rot und Gelb, während sich der klare Himmel tiefblau darüber ausspannte und die reine, durchsichtige Luft die sonderbaren Verschlingungen der Aeste und Zweige bis zu den höchsten Spitzen der Bäume hinauf aufs deutlichste sehen ließ.

»Welch herrliches Jagdwetter!« meinte der ältere Bombardier, worauf Erich hinzusetzte: »Und wird auch zu diesem Vergnügen benutzt, wie mir scheint, denn ich habe schon mehrere Male das Knallen der Gewehre gehört und sah leichten Rauch zwischen den entlaubten Büschen aufsteigen. Sieh, dort gerade wieder und da rechts, und dorthin weiter auch es ist wie ein Treibjagen, wie ein Halbkreis um uns her, und ich glaube, wir sollten trachten, eine breitere Straße aufzufinden, damit wir nicht selbst in den Trieb eingeschlossen werden, um selbst mitzujagen oder als Wild zu dienen danke für beides!«

Sie hatten auf diesem Lagerplatze ihre wohlgefüllten Brotbeutel abgelegt und behaglich gefrühstückt von dem, was ihnen im letzten guten Quartier eine freundliche Wirtin mitgegeben.

»Hier möchte ich ein paar Stunden träumen,« meinte Schmoller, indem er die Hände unter den Kopf legte und sich selbst, so lang er war, auf die weichen, dürren Blätter ausstreckte; »hier möchte ich mich in Phantasie ergehen, was mir wohl da unten beschieden ist, ob ich einstens, wenn ich dieser Stadt wieder den Rücken kehren muß und abermals auf dieser Höhe hier angekommen, von freundlichen oder traurigen Erinnerungen erfüllt bin. Denkst du nicht auch so, Erich?«

Wohl dachte dieser Ähnliches und hatte sich schon längst in ähnlichen Gedanken verloren, ja, er fühlte sich tief bewegt, wenn er an seine Zukunft dachte, und schon zuckte seine Hand nach jenem kleinen Geldstücke, das er immer bei sich trug, um es abermals zu einem Spiel des Zufalles zu verwenden und es, von Schmoller ungesehen, einer tiefen Spalte des Baumes anzuvertrauen. Doch schämte er sich im nächsten Augenblicke, so zweimal auf gleiche Art das Schicksal zu versuchen, und verbarg die kleine Münze wieder an ihrem früheren Platze. »Und nun wollen wir heiter und froh den letzten Rest unseres Weges machen!« rief er aus. »Komm, Schmoller, erhebe dich! Ich fürchte in der That, wir sind mitten in einen Jagdtrieb hineingeraten; hörst du jetzt das Hallo der Treiber und ihr Anschlagen an die Bäume? Komm, wenn wir uns jetzt links wenden und jenem kleinen Fußwege folgen, erreichen wir wahrscheinlich eine breitere Straße.«

»Was geht mich die ganze Treiberei an, ich habe weder Treiber noch Jäger eingeladen und bekümmere mich den Teufel um sie schau, Erich, was ist das da vor uns?«

Dieser beugte sich rasch zu seinem Kameraden herab, legte ihm die Hand auf den Mund und flüsterte ihm zu: »Ein kapitaler Hirsch, der weit vor den Treibern vorausgegangen ist! Gib acht, wie er abstreicht, wenn er uns hier oben merkt!«

»Siehst du denn etwas?«

»Nein, ich höre ihn nur durch die Büsche brechen und mit den Stangen die Äste streifen. Sprich nicht mehr, Schmoller, und bleib unbeweglich liegen!«

Nach diesen Worten kauerte sich Erich geräuschlos hinter ihm an dem Stamme der Eiche nieder, und nun hörten sie beide das Herannahen des edlen Tieres, ja, Erichs geübtes Auge erkannte es im nächsten Augenblicke zwischen den grauen Stämmen hervorbrechend und hielt fast den Atem an, um es nicht zu verscheuchen.

Nicht so Schmoller, welcher den kapitalen Hirsch nun ebenfalls erblickte und darüber vor Vergnügen mit den Beinen strampelte, aber nur die Idee einer Sekunde, während welcher das edle Tier stehen blieb, um gleich darauf seinen Lauf zu ändern.

In diesem Augenblicke krachten hinter den beiden Bombardieren zwei Schüsse rasch nacheinander, und zwar in solcher Nähe, daß Schmoller sich mit seinem Kopfe tief in die dürren Blätter hineinduckte, und dies um so mehr, da gleich darauf von seitwärts her ein dritter Schuß knallte, dessen Kugel, wie der Bombardier später versicherte, er an seinem Ohr habe vorbeipfeifen hören.

»Ah, das geht über den Spaß,« rief er aufspringend, »mir scheint, man ist hier in der Nähe der Residenz im offenen Walde seines Lebens nicht sicher! Erlauben Sie mir,« wandte er sich an einen jungen Mann in Jagdkleidung, der, seine Flinte schulternd, rasch aus den Büschen hinter ihm hervorkam, »das ganz merkwürdig zu finden!«

»Und ich finde es ebenfalls merkwürdig,« antwortete der andere in hochfahrendem Tone, »wie man, gelinde gesagt, so unbesonnen sein mag, sich mitten in den Bogen eines Treibjagens zu legen verstanden?«

»Allerdings verstanden, aber nicht recht begriffen!« gab Schmoller trotzig zur Antwort. »Ich habe nirgendwo ein Plakat gelesen, daß es gefährlich sei, diesen Waldweg zu benutzen! Im gewöhnlichen Leben wird man doch vor Fußangeln und Fallgruben gewarnt, auch benachrichtigt, wo man einen Hemmschuh einzulegen hat!«

»Sie sind ein Narr!« gab der andere kurz zur Antwort, indem er sich gegen einen der Jäger umwandte, der von der anderen Seite herkam und mit verdrießlicher Miene sagte:

»Hätte der Hirsch noch ein paar Schritte weiter gemacht, so wäre er mir angelaufen, wie nie etwas Aehnliches! Fast fürchte ich, ich habe ihn weidwund geschossen wäre schade drum, ein so kapitales Tier, unfehlbar ein starker Vierzehnender!«

»Und daß er nicht näher kam, haben wir diesen beiden Burschen da zu verdanken, die da in aller Gemütsruhe mitten im Treiben liegen bleiben und das Wild verscheuchen hol sie der Teufel!«

»Den Wunsch heg' ich auch,« sagte der zweite Jäger, näher tretend. Dieser war ein Mann vielleicht hoch in den Dreißigern, mit einem feinen, aber verlebten Gesichte, zierlich gedrehtem Schnurrbarte und mit eingeklemmtem Augenglas, um sich die Betreffenden näher anzuschauen. Er sprach in einem scharfen, etwas näselnden Tone, sehr bedächtig und langsam, wobei er seinen Kopf sehr hoch erhoben hielt und dazu unter den halb geschlossenen Lidern hervorschaute. »Ei der Tausend,« sprach er jetzt, »wen haben wir denn da eigentlich?«

»Zwei herumstreichende Bombardiers, wie mir scheint, trotzige Bursche, wenigstens der eine, der mir soeben eine recht naseweise Antwort gab.«

Schmoller blickte auf Erich, vielleicht in der Absicht, sich auf dessen Gesichte Rat zu erholen; doch hatte sich jener auffallenderweise abgewendet und blickte, mit dem Arme an den Stamm der Eiche gelehnt, ganz wo anders hin, als wo die beiden Jäger standen. »Wollen Sie mir sagen, was Sie hier treiben?« fragte der mit dem Augenglase in hochmütigem Tone.

»Wir treiben eigentlich gar nichts; doch es scheint mir fast, als ob wir selbst getrieben worden wären, und finde ich das im höchsten Grade sonderbar!«

Auf diese Worte trat der erste der beiden Jäger rasch vor Schmoller hin, betrachtete ihn von oben bis unten und herrschte ihn an: »Lassen Sie Ihr dummes Gerede, Sie haben einen Offizier vor sich, der, obgleich in Civil, doch imstande ist, Sie irgend wohin spazieren zu schicken, wohin es Ihnen wahrscheinlich nicht angenehm wäre!«

»Gut so, Herr Graf,« fügte der andere mit einem unangenehmen Lächeln hinzu, »diese Herren da werden Vernunft annehmen und mich nicht zwingen, ihnen Aehnliches zu sagen. Ich fürchte fast, ich werde später das Vergnügen haben, Ihre Bekanntschaft zu erneuern.«

Daß er einen Offizier vor sich habe, war dem Bombardier Schmoller recht unangenehm in die Glieder gefahren; auch glaubte er aus Erichs Stillschweigen schließen zu dürfen, daß es besser sei, hier klein beizugeben und sich seitwärts sachte in die Büsche zu schlagen, ja, er grüßte militärisch und wandte sich zum Gehen. Erich, halb durch den Baum gedeckt, schien noch einen Augenblick unentschlossen zu sein, ob er ihm folgen solle; doch wandte auch er sich jetzt, wobei Schmoller zu seinem größten Erstaunen sah, wie furchtbar bleich die Gesichtszüge seines Kameraden waren. Aber dieses Erstaunen wuchs, als er zu gleicher Zeit bemerkte, daß der erste der beiden Jäger, der jüngere, mit einem halbunterdrückten Ausrufe einen Schritt zurücktrat; dann schritten sie langsam an den beiden Jägern vorüber und hörten hinter sich die Worte sagen: »In der That, das ist seltsam!«

Schweigend verfolgten sie den kleinen Fußweg, der sie in kurzer Zeit auf eine Fahrstraße brachte, und erst hier, als Schmoller Raum hatte, neben seinem Freunde zu gehen er war ihm bisher gefolgt blickte er ihn von der Seite an und sagte dann in fragendem Tone: »Nun, Freiberg, was war denn das eigentlich?«

»Ich denke mir,« gab dieser ruhig zur Antwort, »das waren unangenehmerweise für uns ein paar Offiziere von der Garnison da unten in Civil, ein Zusammentreffen, das schwerlich angenehme Folgen für mich haben kann.«

»Für mich und für dich. Kennst du einen derselben? es schien mir fast so.«

»Ja, ich glaube, ich kenne einen derselben näher, bin aber nicht imstande, dir heute etwas darüber mitzuteilen.«

»Höre, du bist in der That, wie ich schon oft gesagt, ein heimlicher Kerl und ein Duckmäuser, ich aber ein viel zu anständiger Mensch, um mich in anderer Leute Geheimnis drängen zu wollen! Reden wir daher von etwas anderem und erwarten, was kommt.«

»Wir werden nichts Besseres thun können, als erwarten, was kommt,« meinte Erich, denn an dem Reden über andere Gegenstände schien er für jetzt keinen besonderen Gefallen mehr zu finden, sondern schritt schweigend und einsilbig neben Schmoller dahin.

Ihn hatte dieses Wiedersehen in der That furchtbar erregt, das gelblich unangenehme Gesicht hatte ihn mit verbissener Wut und dabei wieder so höhnisch lächelnd angeblickt. Wie war es doch so traurig, daß er immer wieder und wieder mit diesem zusammentreffen mußte, und jetzt in Verhältnissen, die ihn fürchten ließen. Er fühlte es tief, wenn ihm je eine traurige, unheilvolle Katastrophe bevorstand, so mußte sie durch diesen kommen, durch diesen herbeigeführt werden, und er, Erich, mußte unterliegen bei der hohen Stellung und der Macht des anderen.

Nach dem Marsche einer guten Stunde hatten sie, beständig abwärts steigend, die breite Landstraße im Thale wieder erreicht und dann eine vierfache Allee hoher Platanen, die sie an zierlichen Landhäusern, sowie an entfernter liegenden großartigen Fabrikgebäuden vorüberführte; dann durchschritten sie eine kleine Vorstadt, kamen durch Parkanlagen auf einen großen, breiten, links mit Bäumen bepflanzten Platz, in dessen Mitte sich eine kolossale, bronzene Reiterstatue befand, und erreichten endlich die Thorwache, wo sie sich bei dem Wachthabenden nach ihrem Bestimmungsorte erkundigten. Erich hatte nicht sehr weit mehr zu gehen, da sich die Kaserne der reitenden Artillerie seitwärts von dem eben erwähnten großen Platze befand, wogegen Schmoller die ganze Stadt durchschreiten mußte, um zu einer jener kleinen, außerhalb liegenden Festungen zu gelangen, wo sich seine Compagnie befand und wo ihn, wie er seufzend sagte, wahrscheinlich ein sehr langweiliges Klosterleben erwartete.

 


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