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6. Kapitel

Von der Schattenseite des Lebens, von hilfsbedürftigen Jungfrauen, von Verlobung und Tod.

Seit der Schullehrer so krank war, schrieb der Pfarrer keine befehlenden Zettel mehr, kam aber häufiger selbst, meistens in Unterrichtsstunden, auch wohl bei der Abenddämmerung, und war dann eines Tages von Selma begleitet, die es nicht hatte unterlassen wollen, sich selbst einmal nach dem Befinden ihres Lehrers zu erkundigen.

Wir brauchen hier wohl kaum hinzuzufügen, daß Erich schon seit einiger Zeit seine Unterrichtsstunden im Pfarrhause aufgegeben hatte: »hoffentlich nicht für immer,« sagte das junge Mädchen, »denn ich fühle es, wie ich nach und nach wieder alles verlerne, und das ist mir höchst schmerzlich – ach, wenn Sie es wüßten, mein lieber Herr Erich, wie sehr, sehr schmerzlich!«

Sie stand neben ihm am Fenster des Schulzimmers, während der Herr Pfarrer bei Herrn Wacker in der Wohnstube war – »ach, so tief schmerzlich, daß ich nicht anders kann, als es Ihnen sagen, mein lieber Herr Erich!« Dabei lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter, und er fühlte zu seinem Schrecken an dem Zucken ihres Körpers, daß sie plötzlich und sehr heftig anfing zu weinen.

»Um Gottes willen, was fehlt Ihnen, Fräulein Selma?«

»Was mir fehlt,« rief sie schluchzend, »was mir fehlt – mir fehlt alles, alles auf der weiten Erdenflur! Ich bin ein bedauernswürdiges Geschöpf, ich werde geliebt, ohne wieder zu lieben, ich liebe, ohne geliebt zu sein! Doch Sie verstehen das nicht, nein, Sie können das nicht verstehen und brauchen es auch nicht zu verstehen. Aber Eines müssen Sie von mir anhören, aus der Tiefe meines zitternden Herzens, eine Wahrheit, die Ihnen vielleicht fürchterlich erscheinen wird und um deretwillen Sie mir wohl einst eine Thräne des Mitleids nachweinen werden – einstens, wenn ich nicht mehr da bin, wenn nur noch ein Geist der Erinnerung, sanft geschlungen um den Namen Selma, über diese Fluren, die mich einst so entzückten, schmerzlich trauernd dahinzieht – o, bemitleiden Sie mich, Erich, beklagen Sie mich, ein armes, wehrloses Opferlamm, denn ich werde geopfert, ja, von einem unerbittlichen Vater, von einer hartherzigen Mutter – geopfert!«

Nun aber hatte Erich keinen rechten Begriff von einem solchen Opfer, und wenn er sich auch den gestrengen Pfarrer mit dem löwenartigen Haar und der lärmenden Stimme füglich als den Erzvater Abraham hätte vorstellen können, so doch durchaus nicht Fräulein Selma in der Rolle des Isaak; auch schien ihm so gar kein Grund vorhanden zu sein, um in unseren aufgeklärten Zeiten an eine solch greuliche That zu glauben, weshalb er auch in voller Überzeugung sagte: »O, Sie müssen sich irren, Fräulein Selma! Es kann durchaus nicht in der Absicht Ihres Herrn Vaters oder Ihrer Frau Mutter liegen, Sie in irgendwelcher Weise zu opfern. Sie müssen sich irren.«

»Irren,« rief sie und schüttelte dabei ihre hochblonden Locken, »irren! Allerdings wird man sich irren, aber in mir, darauf können Sie sich verlassen! Nein, ich will es nicht dulden, daß man mich in die Arme jenes Moloch schleudert, daß ich allen Freuden dieses Daseins entsagen soll, ohne vorher anderweitig gelebt und geliebt zu haben! Doch ist hier nicht der Ort,« setzte sie mit sanfter Stimme hinzu, »auch habe ich nicht die Zeit, um Ihnen diesen schändlichen Verrat näher auseinanderzusetzen, der an meinem armen jungfräulichen Herzen begangen werden soll, wogegen es sich unter allen Qualen sträubt und auf Mittel und Wege denkt zu einer fürchterlichen Rache – und von Ihnen bin ich überzeugt, Erich, Sie werden mir in diesem Rachewerk beistehen – versprechen Sie mir, mich nicht ganz schutzlos zu lassen, ja, mir beizustehen, sobald ich es für nötig finde, einen Ruf an Sie ergehen zu lassen.«

Erich befand sich in einer nicht geringen Verlegenheit, ein solches Versprechen zu geben, denn er hatte damals noch die Ansicht, daß Versprechen auch gehalten werden müßten, und konnte deshalb in eine sehr unangenehme Geschichte kommen, wenn er sich mit der aufgeregten Selma vereinigte, um Rache an dem Pfarrer, der Pfarrerin, vielleicht auch an dem jungen Geistlichen zu nehmen. Worin konnte eine solche Rache bestehen? Vielleicht daß man dem jungen Geistlichen abends irgendwo ein Bein stellte, damit er in einen schmutzigen Graben falle, oder daß man der Pfarrerin heimlicherweise Salz in ihren Kaffee thäte, oder daß man sogar ein großes Loch schlüge in das Trommelfell Seiner Hochwürden! Alles Dinge, zu welchen er doch nicht gern seine Hand bieten mochte.

»Sie zaudern, Erich! Sie zaudern, mir das Versprechen Ihrer Hilfe zu geben!« rief das junge Mädchen leidenschaftlich, und da sie zu gleicher Zeit zu schwanken schien, auch ihre Augen schloß und alle Vorbereitungen traf, um ohnmächtig in seine Arme zu stürzen, so hatte er nichts Eiligeres zu thun, als ihr die Versicherung zu geben, daß er bereit sein würde, ihrem Rufe Folge zu leisten, worauf sie ungestüm seine beiden Hände ergriff, dieselben an ihr klopfendes Herz drückte und ihm zuflüsterte: »O, Erich, die Rache ist süß!«

Glücklicherweise hörte man in diesem Augenblicke die schweren Tritte des Pfarrers, weshalb Selma mit einem sehr kalten, förmlichen Tone, dabei aber sehr laut zu ihrem jungen Begleiter sagte: »Ich danke Ihnen, ich werde meinen Weg allein finden! –«

Worin das Opfer, von dem Selma gesprochen und zu dem sie auserkoren, eigentlich bestehe, darüber ging dem jungen Manne am nächsten Sonntage ein ziemlich klares Licht auf, als der Pfarrer nach gespendetem Segen am Schlusse seiner Vormittagspredigt einen kleinen Zettel entfaltete und der Gemeinde daraus verkündigte, daß sich in den Stand der heiligen Ehe begeben würden nachfolgende Personen, und zwar »Ernst Friedrich Schmelzig, Pfarrer zu Birnstetten, derzeit noch wohlbestallter Vikar dahier, und Jungfrau Selma Adelheide Leontine Wendler, eheliche Tochter des Pfarrers hiesiger Gemeinde.« Wer Hindernisse wüßte, daß gemeldete Personen nicht ehelich zusammenkommen könnten, der zeige es beizeiten an oder enthalte sich nachher, etwas dagegen einzuwenden. »Ihnen aber und uns allen,« schloß der Pfarrer mit tiefbewegter, dumpf dröhnender Stimme, »verleihe der allmächtige Gott seinen väterlichen Segen! Amen.« Vielleicht war es nicht ganz passend, daß der junge Schulmeister später zum Heimgange der Gemeinde, mit Beihilfe aller nur möglichen Register, eine großartige Fuge über das herrliche Kirchenlied: »Nun danket alle Gott!« spielte, obgleich er von dem Pfarrer darüber in wohlwollender Art belobt wurde. –

Mittlerweile war der Sommer vergangen und der Herbst gekommen, der die Vorboten einer strengen Regierung, Nebel und scharfe Winde, jetzt häufig über Berg und Thal sandte und der hier und da schon begann, die qrünen Laubmassen mit gelben und roten Blättern zu schmücken, vielleicht um ihnen allgemach durch diese Vorbereitungen das Scheiden von der freundlichen Erde zu erleichtern, oder auch um sie festlich für das große Opfer zu schmücken, das des Winters eisiger Hauch zu halten bereit war, sobald er die Regierung angetreten. Und in der That festlich geschmückt war Wald und Heide. Förmlich wie in Flammen lodernd oder wie brennende Büsche standen die glänzenden, gelben Bäume und die wie glühend bestrahlten Sträucher da unter dem Strahle der milden Herbstsonne. Und wie beschäftigt war alles, was Hände hatte, in Garten und Feld, einzubringen in die Scheunen und Vorratskammern, was die gütige Erde gespendet und was der Herbst so herrlich verziert und freundlich lächelnd darbot! Erich hatte viele freie Zeit, denn es war Herbstvakanz, und konnte sich deshalb dem armen Lehrer widmen, mit dem es zusehends täglich schlechter ging. Vom Spazierengehen war bei diesem schon lange keine Rede mehr, und es hatte seinem jungen, kräftigen Gehilfen keine kleine Mühe gemacht, ihn nochmals auf seinen Lieblingsplatz zu bringen, wohin ihn der Lehrer am ersten Tage seines Hierseins geführt. Die Sonne senkte sich prächtig hinter Wolken, bei unbeschreiblich schöner Form und Färbung, weiß und lichtrot wie sanft geblähte Segel anzusehen, auf einem milden, seegrünen Grunde, während der jetzt unsichtbare Lichtkörper der Sonne einen gewaltigen Strahlenglanz in einem großen Halbkreise bis hinauf an den Himmel warf. Wer da so schmerz- und reulos in einen jener Wolkennachen mit einsteigen dürfte, langsam und immer weiter und weiter der Sonne folgend, mit unverwandtem Blicke an ihrem Strahlenantlitze hangend, bis dann endlich sanft und schmerzlos die ewige Nacht einträte! »Oder,« meinte er, als sie langsam nach Hause gingen durch eine kleine Waldung hindurch, wo unter den Stämmen das abgefallene buntfarbige Laub gleich einem dicken Teppiche die Schritte unhörbar machte, »wer so, von einem milden Lufthauche bewegt, sich von dem Lebensbaume ablösen und – ein verwelktes Blatt – dahinflattern konnte in die Unendlichkeit ohne Schmerz und Klage!« – Dabei war der Gang des Kranken so schwer und er schien so ermüdet, daß Erich ihn verschiedenemale am Wege niedersitzen ließ, was ihm ganz besonders zu gefallen schien und ihn förmlich fröhlich stimmte durch die freundlichen Begrüßungen der Bauern, der Männer, Weiber und Kinder, die von draußen heimgingen, auf Wagen und Handkarren, in Säcken und Körben Früchte und Obst mit sich führend. Alle freuten sich, den Schullehrer wieder draußen zu sehen, und prophezeiten ihm, daß es mit seiner Gesundheit gewiß bald besser gehen würde.

»Ja, ja, das fühle ich auch,« sagte er alsdann, heiter in sich hineinlächelnd, »und wenn es einmal wieder recht gut gegangen ist, so werden wir uns froh und glücklich wiedersehen!«

Zu Hause angekommen, setzte ihn Erich auf einen alten bequemen Stuhl, den er für ihn vom Thalmüller leihweise erhalten hatte; dann kamen die kleinen Buben, setzten sich ruhig zu seinen Füßen auf ein niedriges Bänkchen, und Anna mußte ihm aus der Bibel eine Stelle vorlesen, die er ihr bezeichnete. Erich ging ab und zu, und es freute ihn, zu sehen, mit welcher Milde, ja Heiterkeit das eingefallene Gesicht des Kranken bestrahlt war, und wie er zuweilen freundlich mit leiser Stimme sagte: »Sehr gut! Schön, schön!« – Er meinte damit ebensowohl die Worte der heiligen Schrift als die Fortschritte, welche seine kleine Tochter im Lesen gemacht.

Später, als Erich wieder hereinkam, saßen die drei Kinder dicht bei einander und hatten flüsternd die Köpfe zusammengesteckt, »Bst, Bst,« sagte Anna, »der Vater schläft!«

Ja, er schlief, aber es war jener Schlaf, der uns einstens allen beschieden ist, jener feste Schlaf, in dem uns weder gute noch böse Träume stören und aus dem es diesseits weder ein freudiges noch schmerzliches Erwachen gibt.

»Kommt, Kinder,« sagte Erich, furchtbar erschüttert, ohne aber klugerweise die drei armen Waisen davon in Kenntnis zu setzen, was sie sahen und nicht verstanden, was sie vielleicht fühlten und nicht begriffen. »Kommt, Kinder, ihr sollt jetzt zu Nacht essen und dann geht ihr zu Bette und schlaft jedenfalls.« Er mußte sich über sich selbst wundern, wie ruhig und gefaßt er bleiben konnte, während die Kinder ihr spärliches Nachtessen bekamen und dann von einer alten Person, die gewöhnlich bei häuslichen Verrichtungen aushalf, zu Bette gebracht wurden, in das Bett ihres Vaters, wo sie immer geschlafen, während Anna auf einer kleinen Matratze am Boden lag.

Daß er dabei zuweilen ein heftiges Schluchzen, das hastig in ihm aufstieg, gewaltsam unterdrücken mußte, war ebenso natürlich, als daß ihm, wie er später auf die Straße trat und an den sternbesäeten, klaren Himmel emporsah, die Thränen unaufhaltsam aus den Augen stürzten. Es war das so natürlich in seiner Lage und zu gleicher Zeit so wohlthuend und tröstend! Dann war sein erster, richtiger Gedanke, nach dem Pfarrhause zu gehen und dort den Tod des Schullehrers anzuzeigen. Wie linde und mild war der schöne Herbstabend! Die Leute sahen plaudernd und singend vor ihren Häusern, und durch die offenstehende Thür erblickte man die lodernde Herdflamme, um den mit Suppe oder Kartoffeln gefüllten Kessel. Häufig wurde ihm freundlich ein »guten Abend« geboten, häufig wurde er auch, wie das oft geschah, zum Mitessen eingeladen; doch setzte er, dankend, seinen Weg fort, ohne aber irgend jemand zu sagen, warum er noch so spät am Abend nach dem Pfarrhause ging.

Im Pfarrhause angekommen, drückte Erich gewaltsam seine Thränen zurück, und als ihm das Dienstmädchen die Thür öffnete, fragte er mit einer ganz ruhigen Stimme nach dem Herrn Pfarrer. Dieser war mit der Pfarrerin über Land, und auch der junge Geistliche war ausgegangen; Selma aber, die den Ton seiner Stimme erkannt hatte, kam aus dem Wohnzimmer und nötigte ihn, dort einzutreten.

»Um Gottes willen, was ist Ihnen geschehen?« rief sie leidenschaftlich aus. »Sie haben geweint!«

»Mir selbst ist gerade nichts geschehen, Fräulein Selma, aber ich wollte Ihrem Herrn Vater nur sagen, daß der Schullehrer soeben gestorben ist.«

»Ach, wie Sie mich dauern! Und nun sind Sie allein in dem Trauerhause?«

»Allein nicht, die Kinder sind da und die alte Lisbeth, welche zuweilen aushilft.«

»O, ich kann mir denken, lieber Herr Erich, wie schmerzlich für Sie das gewesen ist! Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie mir darüber oder plaudern mit mir, was Sie sonst wollen; das wird Sie zerstreuen und beruhigen. Mein Vater und meine Mutter sind nach der Stadt gefahren, von wo sie vor elf Uhr nicht zurückkommen können, und – er ist ihnen entgegengegangen. Ach, wenn Sie fühlen könnten, lieber Herr Erich, wie wohlthuend im Schmerze Ihr Leid zu meinem verwundeten Herzen paßt und wie ich so glücklich bin, mit Ihnen, der mich gewiß versteht, reden zu können! – Sie hatte seine Hand erfaßt und führte ihn nach dem alten Familiensofa, wo er neben ihr Platz nehmen mußte. Dann sagte sie mit weicher Stimme: »Doch nicht von mir wollen wir reden, sondern Sie müssen mir erzählen, was Sie bei jenem Verluste gelitten und was Sie nun zu thun gedenken. Sie bleiben wohl nicht hier. Nicht wahr, Sie bleiben wohl nicht hier?«

Darauf vermochte nun Erich allerdings keine bestimmte Antwort zu geben, wußte auch in der That nicht, welches passendere Gesprächsthema er ergreifen sollte, als wenn er von dem großen Unglück spreche, welches nun die drei armen Waisen getroffen.

Wie bewegt, gerührt hörte ihm Selma zu und wie innig schaute sie ihn dabei an mit ihren heißen, halb geschlossenen Augen, welche wie die seinigen von Thränen umflort waren! Wie schwer atmete sie durch die leicht geöffneten, üppig geformten Lippen! Wie begreiflich war ihr inniges Mitgefühl und der so verschiedenartige Ausdruck desselben, ihre tröstenden Worte, der leichte Druck ihrer Hand auf sein dichtes, krauses Haar, dann das Anlehnen ihres Hauptes an seine Schulter, während sie ihm unter Thränen versicherte, daß auch sie recht, recht unglücklich sei.

»Damals, als ich bei Ihnen war,« sagte sie, indem sie seine Rechte auf ihr Herz drückte, »damals hatte sich mein Schicksal entschieden, ich befand mich im ersten Stadium meines tiefen Leides, das Ihnen, Erich, wohl noch unverständlich ist, dem Sie es aber zu gute halten müssen, wenn ich wilde Gedanken gegen Sie aussprach, vor denen ich heute selbst zurückschaudere. Was ist überhaupt das Los eines Weibes? Zu dulden und sich in die Verhältnisse zu schmiegen, und ich will das ja gewiß thun und gern thun, besonders jetzt, wo ich überzeugt bin, daß Sie freundlich an mich denken werden, wenn ich einst fern bin, wenn das Geschick uns weit, weit auseinander gerissen. Nicht wahr, das versprechen Sie mir, Erich? Sie werden so gewiß an mich denken, als ich Sie nie, nie vergessen will – nie – nie...«

Sein Herz war in diesem Augenblicke so von Leid und Kummer erfüllt und er hatte sich besonders in letzterer Zeit so sehr nach einem mitfühlenden Herzen gesehnt, daß ihm die innige Teilnahme Selmas wohlthat. Es überkam ihn eine Erinnerung aus seiner frühesten Jugend, wo er mit einer Gespielin, der kleinen Tochter eines Nachbars, im Walde Beeren gesucht, wo sie, von einem Unwetter überfallen, unter reichlichen Thränen in einer mächtigen hohlen Eiche Schutz gesucht. Damals hatte sich das jüngere Mädchen an ihn, den älteren Knaben, weinend angeklammert, hatte ihre heiße Wange an sein Haar gedrückt, wie es jetzt Selma ebenfalls that, und er hatte mit tröstenden Worten sanft mit der Hand ihre Augen bedeckt, damals, daß die blendenden Blitze sie nicht erschrecken möchten, und jetzt that er wieder so, weil er sich fürchtete vor den leuchtenden Augen des jungen Mädchens – bis damals ein furchtbarer Wetterstrahl, unter dessen Wucht der Wald erbebte, die beiden Kinder aufschreckend aus ihrem Versteck trieb, und bis im gegenwärtigen Augenblicke etwas anderes die gleiche Wirkung auf ihn und Selma ausübte, allerdings kein zuckender Blitzstrahl, aber etwas noch viel Schrecklicheres – die Gestalt des jungen Geistlichen, welcher rasch und unvermutet die Stubenthüre öffnete und erstarrt auf der Schwelle stehen blieb.

Erich, der wie Espenlaub zitterte, obgleich er durchaus nichts Böses gethan hatte, blickte ratlos auf Selma, die ebenfalls im ersten Augenblicke unangenehm überrascht schien; doch faßte sie sich mit einer erstaunlichen Schnelligkeit, schüttelte ihre Locken aus dem erhitzten Gesichte und sagte alsdann, sich wieder breit auf das Sofa niedersetzend: »Da ist der Herr Vikar, sagen Sie ihm, weshalb Sie hierhergekommen sind und warum ich mich veranlaßt sah, Sie in Ihrem grenzenlosen Kummer zu trösten.«

Der junge Geistliche hatte sich langsam genähert, und die Hände auf dem Rücken krampfhaft zusammenfaltend, nagte er mit sehr bleichem Gesichte an der Unterlippe und sagte dann nach einem langen, tiefen Atemzuge: »Es wäre mir in der That sehr erwünscht, den genügenden Grund zu einer solchen Tröstung zu erfahren.«

»Zu einer solchen Tröstung?« rief sie ihm rasch und heftig entgegen. »Zu einer solchen Tröstung? Was verstehen Sie unter dem Ausdrucke ›solcher Tröstung‹? Fangen Sie schon wieder an, nachdem Papa und Mama eben erst den Rücken gewandt, und nachdem Sie heute morgen noch versprochen haben, mich freundlich und milde zu behandeln? – Nennen Sie das, mich freundlich und milde behandeln, wenn Sie da ins Zimmer hereinstürzen und Augen machen, als wenn Sie mich ermorden wollten, und Sachen in Gegenwart eines dritten zu mir sprechen, die einer so häßlichen, schlimmen, abscheulichen Deutung fähig sind? – O, gehen Sie, lassen Sie mich in Ruhe, Sie sind unverbesserlich.«

»Sie werden mir doch nicht abstreiten wollen, daß ich es gesehen, wie dieser – junge Mensch äußerst nahe noch bei Ihnen auf dem Sofa saß!«

»Auf dem Sofa saß!« spottete sie ihm nach. »Das werde ich gewiß nicht leugnen, aber äußerst nahe, das ist eine große Lüge!« setzte sie mit weinerlichem Tone hinzu, indem sie mit dem Schnupftuche an ihre Augen fuhr. »Ja, eine große Lüge, und ich werde es Papa und Mama nicht verschweigen, wie Sie mit mir vor fremden Leuten umgehen, ja, ich werde es ihnen sagen und mich schon vor Ihrer Anklage, der ich entgegensehe, zu rechtfertigen wissen.«

»Noch habe ich von keiner Anklage gesprochen,« versetzte der junge Geistliche mit vor Zorn bebender Stimme, »und es gibt Sachen, die man am besten unter sich ausmacht!«

»Nun denn, so machen Sie es aus, mit wem Sie wollen! Ich will aber einmal nicht tyrannisiert sein, jetzt nicht, später noch viel weniger – nie – nie – nie!« Dann wandte sie ihr Taschentuch krampfhaft zwischen den Händen und verließ stürmisch das Zimmer.

Der junge Geistliche drehte sich stumm gegen das Fenster, ohne mit dem Schulgehilfen ferner ein Wort zu reden, und blickte in die dunkle Nacht hinaus, und Erich that das Beste, was er thun konnte, nämlich langsam das Zimmer und das Pfarrhaus zu verlassen.

Draußen blieb er noch einen Augenblick an dem Gitterthore stehen, ehe er dieses hinter sich zudrückte, und schaute zurück auf den vom Monde beschienenen Garten und auf das stille Haus, welches, scheinbar nur Frieden atmend, vor ihm lag. Jetzt erhellte sich dasselbe Fenster, aus welchem damals der Strauß Maiblumen herausgeflogen war; das war im Frühjahr gewesen, bei sprossendem Laube und duftenden Blüten, und jetzt, wo der Herbst gekommen, rauschte das verwelkte, abgefallene Laub unter seinen Füßen, recht passend für die traurigen Gedanken, die ihn bewegten, wenn er daran dachte, wie er diesen Sommer verlebt, sowie an das, was ihn in dem stillen Schulhause erwartete.

Er hatte auf Beihilfe von dem Pfarrhause gerechnet, doch mußte er sich jetzt an ein paar Nachbarn halten, von denen er glücklicherweise auch einige fand, die noch, den schönen Abend genießend, vor ihrem Hause saßen. Er sagte es ihnen leise, daß der Schulmeister gestorben und der Pfarrer verreist sei, worauf die Leute sogleich mit ihm gingen, um das Notwendigste für die erste Nacht zu besorgen.

Auch die nun folgenden recht traurigen Tage gingen vorüber, und zwar durch Arbeit und Sorge nicht minder rasch, als eine heitere Zeit; dann kam der Bruder des Verstorbenen, der kinderlose Maurermeister, und nahm die beiden kleinen Buben und das kleine Mädchen mit sich, zahlte auch die wenigen Schulden des Schullehrers und besorgte einen bescheidenen Denkstein auf das Grab seines Anverwandten; es war ein recht schmerzlicher Abschied, den die Kleinen von Erich nahmen, sie hingen sich an seine Arme und Hände und mochten lange nicht von ihm lassen. Ja, als sie endlich auf den kleinen Wagen gepackt wurden, der sie hinwegfühlen sollte, ging er rasch ins Haus und schloß die Thüre hinter sich zu, um diesen Abschied, bei dem es auf beiden Seiten nicht an Thränen fehlte, zu beendigen. Dann ging er lange in dem leeren Schlafzimmer auf und ab, betrat hierauf sein ärmliches Zimmer, dessen Möbel sowie auch die der Wohnstube von dem wohlhabenden Maurermeister als zu unbedeutend zurückgelassen worden waren. Erich hatte gerade keine glückliche Zeit hier verlebt, doch wenn er an den ersten Tag seines hiesigen Aufenthaltes dachte, so stahl sich ein tiefer Seufzer aus seiner Brust, und er hätte gern alles Leid, alle Entbehrungen noch länger getragen, nur um nicht allein sein zu müssen.

Ein Zettel des Pfarrers brachte einige Abwechslung in seine düstern Gedanken. Se. Hochwürden schrieb ihm: da nun der Schullehrer, Herr Wacker, gestorben, und in den nächsten Tagen ein jüngerer, rüstiger Mann eintreten würde, so würde er selbst einsehen, daß alsdann seines Bleibens hier länger nicht sei.

Vermehrten diese Zeilen seine Traurigkeit?

Im Gegenteil, sie ließen ihn freier aufatmen und übten die Wirkung auf sein umdüstertes Gemüt, wie wenn sich an einem trüben Regenhimmel plötzlich das Gewölk zu verschieben anfängt und eine lichte blaue Stelle zeigt. Aus eigenem Antriebe hier fortzugehen, hätte er Herrn Schmelzer zu liebe nicht gethan. Diesen setzte er von allem, was ihn betraf, in Kenntnis, und sein alter, wackerer Lehrer hatte ihm auch in betreff der letzten Ereignisse geschrieben, er solle sich krampfhaft an seine jetzige Existenz anklammern, er solle alles thun, um sich die Gunst des neuen Lehrers zu verschaffen; wer das sei, hoffe er zu erfahren, und wolle er es alsdann bei demselben nicht an guten Ermahnungen fehlen lassen. »Du mußt in deiner Stellung aushalten,« schrieb Herr Schmelzer, »denn nur wenn du ein paar Jahre zur größten Zufriedenheit deiner Vorgesetzten gedient hast, wird es vielleicht möglich sein, dich nach der Residenz zu bringen.«

Das war nun freilich alles vorbei, und wer den Zettel, den ihm der Pfarrer schrieb, eigentlich diktiert, darüber hatte er durchaus keinen Zweifel; ließ es sich doch die Pfarrerin angelegen sein, ihn auch in Kleinigkeiten ihren Haß fühlen zu lassen. War doch sein ehrfurchtsvollster Gruß nach dem Gottesdienste kaum imstande, ihr ein unbedeutendes Neigen mit dem Kopfe abzugewinnen, und wenn sie einmal nicht anders konnte, da der Pfarrer auf eine Erwiderung dieser Höflichkeitsbezeigung hielt, so hatte er feine Ohren genug, einige boshafte Bemerkungen über irgend etwas zu vernehmen, die er ohne allzu großen Scharfsinn auf sich beziehen konnte.

Selma hatte er seit jenem Abende nicht wieder gesehen. Sie war verreist; sie sollte den Winter bei ihren Anverwandten in der benachbarten Stadt bleiben und dort das Kochen gründlich erlernen. Ein Zeichen, daß und wie sie sein gedenke, schien sie ihm allerdings noch nach ihrer Abreise geben zu wollen, und zwar durch einen losen Zettel aus ihrem Gesangbuche, das sie absichtlich in der Kirche vergessen und sich nun durch ihr Dienstmädchen von Erich, der die Schlüssel zur Kirche hatte, zurückerbitten ließ. Erich hatte das Buch gefunden und auch den Zettel gelesen, auf dem der Anfang des schönen Liedes von Freiligrath stand:

O lieb', so lang du lieben kannst,
O lieb', so lang du lieben magst,
Es kommt die Zeit, es kommt die Zeit,
Wo du an Gräbern weinst und klagst.

Was die militärischen Uebungen der Schulbuben anbelangte, so hatten sie über die Zeit der Herbstferien geruht, und der Pfarrer fand sich nun auch bewogen, den Wiederbeginn bei veränderter Sachlage und beim Herannahen der strengen Jahreszeit vorläufig zu suspendieren.

Zum guten Glücke war Erich während seines hiesigen Aufenthaltes mit seiner kleinen Barschaft sehr sparsam umgegangen und besaß noch die Mittel, um notdürftig leben zu können, denn seit dem Tode des Schullehrers bekümmerte sich niemand um seine Existenz. Es war ja die Zeit der Herbstferien, wo er nichts zu arbeiten hatte und wo er also auch nichts zu essen brauchte. Indessen hatte er Zeit genug, um über seinen Büchern zu sitzen; doch konnten bei den Mißtönen, die durch seine Seele zogen, selbst die Regeln der Harmonielehre in ihm keinen rechten Anklang finden. So hatte er an einem trüben Herbsttage mißmutig das betreffende Buch auf die Seite gelegt und hätte sich so gern an das Klavier gesetzt, um durch Variieren irgend eines Themas eine freundliche Stimmung zu finden. Doch hatte begreiflicherweise der Maurermeister das Instrument verpacken lassen und weggeschickt. Erich griff nach einem anderen Buche, als das, welches er eben weggelegt, und zwar nach einem ziemlich dicken Bande, der bisher unbeachtet in einem Winkel gelegen. Er kannte dieses Buch wohl. Es war noch ein Vermächtnis seines Vaters, und der Name: Joachim Freiberg, Unteroffizier, stand auf der rechten Seite in breiten, kräftigen Zügen geschrieben – der Leitfaden für Artillerie-Wissenschaften, in dem er als Knabe so gern gelesen, und auch jetzt wieder hatte er kaum ein Kapitel aufgeschlagen, das ihn von jeher besonders interessiert, nämlich: »Vom Verpacken der Shrapnels und Granaten,« als er mit einem wahren Heißhunger darüber herfiel und mit Lust die Zeichnungen der geöffneten Wagen betrachtete, wo eines der runden Geschosse neben dem anderen so zierlich verpackt war, die sorgfältig verklebten Zünder nach links gerichtet. Und dabei erweiterte sich plötzlich seine Phantasie. Er hörte wieder die Erzählungen seines Vaters, er sah die weite Heide vor sich mit der kleinen Schanze, nach der geschossen wurde, er vernahm die Kommandoworte bei der Haubitze, die ihm schon als Kind so geläufig waren, er sah das zischende Hohlgeschoß in die Luft hinauffliegen, sich von oben in einem zierlichen Bogen herabneigen, und hörte es dann mit einem dumpfen Knalle explodieren.

Erich sah – nein, er hörte eine etwas rauhe Stimme hinter sich, welche sagte:

»Ah, da findet man doch endlich jemanden in diesem verlassenen Hause, und zwar über Büchern sitzend. Auf Cerevis eine gute Vorbedeutung!«

Erich sprang rasch auf und sah eine eigentümliche Gestalt vor sich stehen. Es war ein junger Mann in den zwanziger Jahren, breit, untersetzt, mit einem dicken, rötlichen Gesichte, etwas struppigem Haar, auf welchem eine so kleine dunkelfarbige Mütze saß, daß man kaum begriff, wie sie sich da oben zu halten vermöge. Die Gestalt war bekleidet mit einem grauen Flausrocke, mit einer schwarzen Weste, auf welcher sich ein dreifarbiges Band sehen ließ, mit ebenfalls schwarzen Beinkleidern, und in der rechten Hand trug sie einen derben Knotenstock, während sie in der linken ein Mittelding zwischen Reisesack und Ranzen hatte.

»Mit wem habe ich das Vergnügen?« fragte Erich.

»Ob es ein Vergnügen für Sie ist, wenn ich Ihnen meinen Namen nenne,« gab die Gestalt mit einem gemütlichen Lachen zur Antwort, »weiß ich nicht ganz genau; doch ich bin weder ein so großer Mann, noch ein so ungeheurer Lump, um Ursache zu haben, meinen Namen zu verschweigen. Ich heiße Franz Färber, also aus dem FF, war candidatus theologiae, bis mich dieser Schmiß hier auf meiner Wange von aller zukünftigen Heiligkeit befreite und mich zwang, ein Schulamtskandidaten-Examen zu machen, und zwar so famos, daß ich zu einer Hilfslehrerstelle in der Residenz begnadigt wurde, dort aber wegen unbedeutender Dinge, die nicht hierher gehören, mit der heiligen Inquisition, zu Deutsch: Kirchenkonvent, in fatale Berührung kam und zur Ablösung meiner Sünden hierher in dieses Rattennest geschickt wurde. Sie staunen mich an, junger Mensch, ungewiß und zweifelnd, was ich bei der trostlosen Prosa dieses Dorfes begreiflich finde – Himmel, was ist das für ein Nest! – und will ich mich deshalb selbst ins Genießbare übersetzen, indem ich Ihnen sage, daß ich als Lehrer hierher geschickt wurde, um fern von Madrid darüber nachzudenken, ob denn die Liebe in der That ein gar so großes Verbrechen ist.«

»Ah – der neue Herr Lehrer!«

»Ja, so was Ähnliches; und Sie sind wohl die Hilfe meines Vorgängers?«

»So ist es, Herr Lehrer. Erich Freiberg, seit einem halben Jahre hier in Zwingenberg.«

»O Zwingenberg,« entgegnete der andere seufzend, »welch vortrefflich passender Name für mich! Und doch kann ich mir noch gratulieren, denn ohne einige Schürzenbekanntschaften, und zwar höchst anständige von seiten meiner achtbaren Frau Mama, hätten sie mich wahrscheinlich auf die Proskriptionsliste gesetzt und damit meiner künftigen Carriere einen unwiderruflichen Fußtritt versetzt. – Aber nun sagen Sie mir, Herr Erich Freiberg, wo kann ich etwas Vernünftiges zu essen und zu trinken herbekommen, denn ich habe Hunger und Durst? Hier ist kleine Münze. Machen Sie einige kleine Anschaffungen, was wohl notwendig sein wird, denn diese kahlen Wände sehen mir nicht danach aus, als seien im Keller Schätze vorhanden.«

Dies war auch allerdings nicht der Fall, doch sorgte Erich für einen genügenden Imbiß und freute sich über den Heißhunger, mit dem der neue Lehrer über das Essen herfiel und das dünne Bier vertilgte.

»So die Restauration wäre vollbracht, und nun werden Sie so freundlich sein, mir das Pfarrhaus mit seinen Bewohnern zu schildern und mir Scylla und Charybdis zu beschreiben. Gibt es einen diensteifrigen Vikar, der auf dem armen Schulmeister herumzureiten liebt? Und wie – sind die Pfarrerstöchter? Freundlich, von schöner Gestalt, oder alt und trostbedürftig?«

Erich berichtete gewissenhaft und ohne Uebertreibung über das Pfarrhaus und dessen Bewohner, worauf Herr Färber achselzuckend sagte:

»So komme ich also für die schöne Selma zu spät. Der Schatz ist verschwunden, aber der Drache, welcher ihn hütete, ist geblieben. Und was diesen Drachen anbelangt, so habe ich für denselben ein gewichtiges Briefchen aus der Residenz mitgebracht, in welchem auf die unverantwortliche Intrigue aufmerksam gemacht ist, welche mich hierhergetrieben und die so die Residenz eines ihrer tüchtigsten Lehrer beraubte. Suchen wir also die Pfarrerin zu gewinnen, denn was ihn, den Jupiter tonans, anbelangt, so scheint er mir, wie leider so oft, auch hier Nebensache zu sein. Vielleicht kann ich auch etwas für Sie thun,« setzte er gutmütig hinzu, »denn ich muß Ihnen gestehen, Sie gefallen mir, ebenfalls Ihre Lektüre dort. Ich schaute ein bißchen hinein, als Sie den Imbiß holten, und fürchtete schon, vom Handwerk begrüßt zu werden und Sie beim Katechisieren zu ertappen. Helfen Sie mir jetzt ein wenig meine Toilette machen, damit ich mich droben würdig vorstellen kann.«

Darauf wurde der kleine Nachtsack ausgepackt, aus dem ein ziemlich anständig schwarzer Überrock zum Vorschein kam, auch ein Hemdkragen nach neuester Mode, eine hohe Krawatte von Lasting, ein Paar dunkle Handschuhe sowie ein weicher, runder, schwarzer Hut, der, gehörig aufgestellt, ein recht ehrbares Ansehen hatte.

Erich brachte gefällig einen kleinen Spiegel herbei, auch etwas Wasser sowie ein Stück Baumwollzeug, welches als Handtuch diente; dann aber ging er diskreterweise auf die Seite, bis sich Herr Färber um- und angezogen hatte. Wie erstaunte er aber später, als er sah, daß vermittelst der obenbenannten Kleidungsstücke eine förmliche Umwandlung mit demselben vorgegangen war, und nicht nur im Äußeren, sondern auch was seinen Gang, seine Gebärden, ja, seine Sprache anbelangte! Sein struppiges Haar hatte er vermittelst eines Kammes und eines Stückchens Kosmetique so gewaltsam gebändigt, daß es nun melancholisch hinter seinen Ohren herabhing, den weichen Hut so gerade als möglich aufgesetzt, und als er nun obendrein seine Augen mit einer Brille bewaffnete und sich in demütiger Haltung, mit zusammengefalteten Händen und lispelnder Stimme erkundigte, ob er das außerordentliche Glück haben könnte, sich dem Herrn Pfarrer in geziemender Demut vorzustellen, da mußte Erich sich gestehen, daß er es mit einem jungen Manne von großen Talenten zu thun habe.

»Wäre der militärisch donnernde Pfarrer droben,« sagte der Schullehrer, in seinen gewöhnlichen Ton verfallend, »der Herr im Hause, so würde ich es vielleicht wagen können, ihm mit einem ›Grüß Gott, alter Knabe!‹ unter die Augen zu treten; da aber sie das Regiment führt, so muß ich schon eines liebsamen Kontrastes wegen als stiller Demutspinsel auftreten. Nun behüte Sie der Himmel! Ich hoffe, Ihnen bald vermelden zu können, wie es droben ausgefallen ist.«

Damit verließ er das Haus, und Erich sah ihm durch das Fenster nach, wie er mit demütig gesenktem Haupte, die Grüße der Bauern verbindlich erwidernd, zum Pfarrhause hinaufging.

Auch kam er so bald nicht wieder und statt seiner ein Zettel des Pfarrers, worin dieser schrieb: »Der neue Schullehrer, Herr Kandidat Färber, werde für einige Tage im Pfarrhause bleiben, bis die Schulwohnung wieder in anständige Verfassung gesetzt worden sei.«

Erich konnte nicht anders, als es schmerzlich empfinden, daß man den neuen Schullehrer für zu gut hielt, um in den allerdings ärmlichen Mauern zu Hausen, welche ihm selbst bisher lieb und wert gewesen. Und gerade dieser Mann, der ihm so eigentümlich erschien, der, gar kein Hehl daraus machte, daß er seines Vorteiles wegen vor dem Pfarrer und der Pfarrerin droben eine ganz andere Gestalt annahm, wurde mit Freundlichkeit, gewiß auch mit Achtung behandelt, während man ihn, der mit redlichem Streben hierher gekommen war, wenig besser als einen Hund angesehen hatte.

Der arme Erich hatte eben auch keinen Begriff von Protektionen im allgemeinen und von gewichtigen Empfehlungsbriefen im speciellen, sonst hätte er jene Aufnahme des Herrn Färber begreiflich gefunden. Schrieb doch die Verwandte aus der Stadt an die Pfarrerin:

»Gegenwärtige Zeilen bringt Dir Herr Färber, der Sohn des Dir bekannten Konsistorialrates, der ohne Neigung zur Theologie dieses Studium auf den Wunsch seiner Eltern ergriff, aber die erste beste Gelegenheit benutzte, dasselbe zu verlassen und zum Schulfache überzugehen. Er war Lehrer an der hiesigen Hauptschule und wurde vom Konsistorium durch Schikanen seiner strengen Vorgesetzten gewissermaßen zur Strafe nach Zwingenberg versetzt; doch kann ich ihn Dir als aus guter Familie sowie als einen jungen Mann von angenehmen gesellschaftlichen Talenten bestens empfehlen. Seine Mutter, welche noch lebt, besitzt einiges Vermögen, und wenn er einmal ein Jahr bei Euch gewesen ist, so kannst du ja Deinen Mann veranlassen, recht gute Zeugnisse über ihn einzuschicken, worauf ich alsdann nicht zweifle, daß er durch Verwendung guter Freunde hier eine erträgliche Stelle bekommt. Wäre das nichts für Dein Bäschen, die kleine Pauline? Alt genug wäre sie schon, um ans Heiraten zu denken. Die angenehme Nachricht über Deine Selma hat mich recht gefreut. Du bist doch eine gute Seele, das Muster einer liebenden Mutter! So hast Du also weder auf hohen Stand, noch auf großes Vermögen gesehen, da es galt, den Bund zweier liebenden Herzen nicht zu trennen. Mein Mann hat leider immer noch seine Kopfschmerzen. Herr Färber, der uns häufig besuchte, wird Dir sagen, was ich dadurch zu leiden habe.«

Da in dem Zettel des Pfarrers an Erich auch noch stand, man solle von dem Gepäcke des Herrn Kandidaten nur dessen einen, schon geöffneten Nachtsack hinaufschicken, so kam der junge Gehilfe diesem Befehle pünktlich nach, was ihm sehr leicht wurde, da von anderen Gepäckstücken nicht das Geringste zu sehen war, man hätte denn den Knotenstock dazu rechnen müssen. Er stopfte den Flausrock mit hinein, auch was noch an Büchern herumlag: die schwäbischen Pfarrhäuser der Frau Ottilie Wildermuth, die Leiden des jungen Werther, die Jobsiade und die Räuber von Schiller. Dann verschloß er den Nachtsack und übergab ihn dem Boten sowie auch den Schlüssel, den er vorher sorgfältig in ein Papier gewickelt.

Und was sollte er jetzt noch beginnen? Der Pfarrer schien es nicht einmal der Mühe wert zu halten, ihm einen förmlichen Abschied zu erteilen, da er sich den Anschein gab, als betrachtete er Erich als in keiner Weise angestellt, sondern nicht anders, wie die übrigen zurückgebliebenen erbärmlichen Effekten des verstorbenen Schullehrers.

Bei diesem Gedanken warf er zuweilen trotzig den Kopf in die Höhe und faßte den Entschluß, hier zu bleiben und nur erst dann zu weichen, nachdem man ihm eine genügende Erklärung gegeben, warum man seine Dienste nicht mehr wolle, oder was noch besser sei, er beschloß, sich diese Erklärung droben im Pfarrhause selbst zu holen, wobei es ihm aber so wenig Ernst mit diesen Beschlüssen war, daß er sich gleich darauf vornahm, das Schulhaus abzuschließen, die Schlüssel ins Pfarrhaus {bild} zu schicken und mit seinen Effekten zum Thalmüller zu gehen, der ihn für einen ähnlichen Fall schon häufig freundlich eingeladen.

Ehe er dies aber ins Werk setzte, schrieb er an seinen alten Freund, Herrn Schmelzer, erzählte ihm ausführlich die letzten Begebenheiten und teilte ihm den gefaßten Entschluß mit, wobei er die Hoffnung aussprach, bei dem Thalmüller so lange bleiben zu können, bis er in Beantwortung dieser Zeilen einen guten Rat erhalten. Dann packte er seine Effekten zusammen, um am anderen Morgen die Schule zu verlassen.

Mit dem anderen Morgen kam aber auch Herr Färber vom Pfarrhofe herunter, und obgleich er auch hier wieder so ziemlich den burschikosen Ton von gestern anschlug, so sprach er doch mit großer Zurückhaltung von dem Pfarrhofe und dessen Bewohnern, wobei er schließlich bedauerte, daß es sich doch wohl nicht thun lasse, jetzt schon einen Gehilfen in Anspruch zu nehmen.

»Auch fürchte ich, daß man mir unter keiner Bedingung gestatten würde,« setzte er mit aufgehobenem Finger hinzu, »Sie, mein lieber Freund, hier zu behalten, denn Sie haben sich da droben ein ganz verfluchtes Renommee gemacht; schon so jung und noch so lustig, könnte man sagen.«

»Ich verstehe Sie in der That nicht,« versetzte Erich mit großer Ruhe.

»Nun, wissen Sie, was mich anbelangt, so drücke ich bei den Schwächen meiner Nebenmenschen bereitwillig beide Augen zu, dieselbe Duldsamkeit auch für mich in Anspruch nehmend; aber nach so handgreiflichen Beweisen darüber, welch kleiner verfluchter Kerl Sie gewesen...!«

»Darf ich bitten, mir zu sagen, worin diese Beweise bestanden?«

»Oder, wenn Sie wollen, Anklagen, die aber von dem heiligen Trifolium droben unisono bestätigt wurden.«

»Und welche Anklagen?«

»Nun, daß Sie, anstatt sich mit dem Lesen und Schreiben Ihrer Kinder zu beschäftigen, mit denselben Soldatenspiele und sonstige Allotria getrieben, und, was man aber gütigst Ihrem mangelhaften Wissen, die Buben etwas Besseres zu lehren, zuschreiben wolle; daß Sie aber Unterrichtsstunden im Pfarrhause, die man Ihnen in wohlwollendster Absicht verschafft, dazu benutzt haben, um süße Augen an Selma zu machen, muß selbst ich ein bißchen stark finden!«

Erich fand es nicht der Mühe wert, sich gegenüber diesen lächerlichen Vorwürfen irgendwie zu entschuldigen, sondern deutete als einzige Antwort auf seinen bereits verschlossenen Koffer, worauf Herr Färber lachend fortfuhr:

»Ja, ja, Sie schleichen sich davon wie der Marder vom Taubenschlage, und ich will nicht einmal so indiskret sein, um mich nach Ihren Erfolgen zu erkundigen, doch nach dem Porträt der hübschen Selma zu urteilen, könnte ich fast bedauern, nicht an Ihrer Stelle gewesen zu sein.«

Aufrichtig gesagt, müssen wir die wahrhaftige Versicherung abgeben, daß Erich durchaus nicht im klaren war über den Grund dieses Bedauerns, daß ihm aber schon gestern, und heute noch mehr, manches in den Reden des neuen Schullehrers so wenig gefiel, daß es ihm nicht schwer wurde, das Schulhaus zu verlassen. Auch jener nahm das Scheiden leicht, und so trennten sie sich auf der Schwelle des alten Hauses mit kurzem Wort und Gruß. {bild}


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