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17. Kapitel

Der Held der Geschichte lernt Einiges vom militärischen Leben, besucht die Wachtparade und geht zum wirklichen Examen.

In dem Zimmer des Brigadcadjutanten befanden sich noch sechs andere junge Leute aus dem Civilstande, welche an dem demnächst stattfindenden Examen teilnehmen wollten, um dadurch ihre Befähigung zur Aufnahme in die Brigadeschule nachzuweisen. Diese Brigadeschule war in drei Klassen geteilt, und es wurde in den akademischen Stunden Unterricht gegeben in Mathematik, Zeichnen, Geschichte, Geographie, deutschen Aufsatz und französischer Sprache; daß nebenbei auch viele Artillerie-Wissenschaften getrieben wurden, verstand sich von selbst. Nach den Aufnahmeprüfungen stellte es sich heraus, ob die Aspiranten überhaupt angenommen wurden und ob sie der dritten oder der zweiten Klasse zugeteilt werden konnten.

Das alles erfuhren sämtliche Anwesenden von dem eiligen Brigadeadjutanten, sowie auch, daß sie sich übermorgen um zehn Uhr hier in diesem Lokale einzufinden hätten, in Paradeuniform, wollte er sagen, doch verbesserte er sich und bemerkte: »in anständig reinlicher Kleidung«. Dann nahm er die Papiere eines jeden in Empfang und übergab sie zur Durchsicht dem Brigadeoberschreiber, der mit seinem scharfen Blicke jeden genau und ganz besonders anschaute, sowie er an ihn herantrat. Alle verneigten sich hierauf mit einer mehr oder minder gelungenen Verbeugung und verließen das Zimmer, mit alleiniger Ausnahme Erichs und des langen Franz Werner, mit dem sich der Brigadeadjutant herablassend unterhielt, während unser junger Mann den Brief aus der Tasche zog, welchen ihm der Premierlieutenant Schramm gegeben und mit dem er sich nochmals an den Brigadeoberschreiber wandte.

»Ist nicht an mich,« entgegnete dieser scharf, »geht mich auch gar nichts an.«

»Dürfte ich Sie wohl fragen,« forschte Erich schüchtern, »wo ich den Herrn Oberfeuerwerker Doll auffinden kann?«

»Sehen Sie mich vielleicht für ein Adreßbuch an, junger Mensch?« erwiderte ihm der Schreiber mit dem Vogelgesichte und, hätte man sagen können, mit gesträubten Federn. »Schade, daß ich zu sehr beschäftigt bin, sonst würde ich mir den Arm und die Ehre Ihrer Begleitung ausbitten, um Sie hinzuführen. Ist das ein naseweises Zeug!« brummte er in sich hinein, als Erich, den Brief in der Hand behaltend, eingeschüchtert das Zimmer verließ.

Glücklicherweise fand er draußen auf dem Gange einen Unteroffizier, der ihm die Wohnung des Oberfeuerwerkers beschrieb, und diesen selbst zu Hause.

Doll war ein kleines, mageres Männchen, rasch und lebendig in allen seinen Bewegungen; aus seinen Augen leuchteten Geist und Gutherzigkeit, und nachdem er den Brief, den ihm Erich überreicht, aufmerksam durchgelesen, klopfte er ihm auf die Schulter und sagte: »Nun, wie es mit den Kenntnissen steht, davon wollen wir uns übermorgen überzeugen; stellen Sie sich aber die ganze Geschichte nicht so gefährlich vor und antworten sie frisch heraus auf alle Fragen, die man Ihnen stellt, allerdings nicht unüberlegt, aber auch nicht so lange gezaudert. Lassen Sie sich auch nicht einschüchtern, wenn unser hochverehrter Herr Oberst vielleicht einmal mit einem barschen Worte dazwischen fährt; er meint das nicht so übel und ist ein Herr von großer Einsicht und dem vortrefflichsten Gemüte. Wo wohnen Sie?«

»In einem sehr bescheidenen Wirtshause der Vorstadt, mit einigen anderen jungen Leuten, die gleichfalls ihre Aufnahme in die Brigadeschule nachsuchen, Herr Oberfeuerwerker.«

»Ach ja, ich weiß, Ihre Mittel sind nicht brillant, und Sie müssen eben sehen, wie Sie sich durchschlagen; doch hoffe ich, daß Sie Ihr Examen bestehen und dann der Schulcompagnie zugeteilt werden. Es ist allerdings nicht viel, was Sie dort haben, aber es schützt Sie vor dem Verhungern, und wenn Ihnen die Artilleriewissenschaften bald in den Kopf gehen, so kann man Sie wohl in Bälde zu dem Bombardierexamen vorschlagen. Also bis übermorgen!«

Erich verließ den freundlichen Oberfeuerwerker mit ziemlich gehobener Hoffnung, welche durch die schroffe Abweisung des Oberschreibers etwas verblaßt war. Er schlenderte durch die breiten Straßen der ihm unbekannten Stadt, ohne Zweck und Ziel, ja, ohne viele Aufmerksamkeit auf das, was ihn umgab, was wohl daher kommen mochte, daß seine Gedanken immer wieder zurückkehrten zu den so interessanten Erlebnissen der letztvergangenen Tage. Hatte die Geschichte mit dem geschossenen Hirsche weitere Folgen, oder wurde sie, wie ihm der Müller Burbus beim Abschiede versicherte, aus guten Gründen niedergeschlagen, so daß kein Hahn mehr danach krähen würde? Und wenn dem wirklich so war, hatte nicht sein persönlicher Feind, der junge Graf Seefeld, Veranlassung genug, sich seiner lebhaft zu erinnern und ihm in den Weg zu treten, wo ihm das möglich wurde? Allerdings hoffte er, durch seinen Eintritt in die Schule unter Anlegung der Uniform in der großen Menge gewissermaßen unterzugehen, und doch wieder konnte er gerade als Militär auf irgend eine Weise mit jenem in Berührung kommen. Ja, obgleich er wußte, daß die Residenz, wo das Husarenregiment stand, in dem der Graf diente, viele, viele Meilen von dieser Provinzstadt entfernt war, so beunruhigte es ihn in diesen Tagen doch jedesmal, wenn er einen Offizierssäbel klappern hörte und wenn er, wie hier, auf den Straßen häufig Husarenoffizieren, allerdings eines anderen Regiments, begegnete.

Glücklich aber sind jene Tage der Jugend, wo uns leichter Sinn und frischer Mut nicht lange bei drückenden Gedanken verweilen lassen, wo wir uns gern von einer trüben Vergangenheit ab einer heiter scheinenden Zukunft zuwenden.

Und schien ihn in der That seine Zukunft nicht heiter anzublicken? War er doch von einem wichtigen Manne der Examinationskommission, dem Oberfeuerwerker Doll, recht freundlich aufgenommen worden, hoffte er doch, wenn auch nicht glänzend zu bestehen, doch genügend durchzukommen, und hatte ihn nicht selbst das spaßige Vorexamen des jungen Bombardiers so heiter in jene lustigen Kreise eingeführt, denen er später ebenfalls angehören sollte? Ja, er sah sich schon im Geiste in der hübschen Uniform mit den blanken Knöpfen und goldenen Tressen, wie die jungen Leute, die ihm entgegen kamen und die er ehrerbietig grüßte. In wenigen Tagen war er berechtigt, sich ebenfalls als ein Glied jener schönen und großen Armee zu betrachten, von der soeben ein ansehnlicher Bruchteil, ein Bataillon Infanterie, die rauschend klingende Militärmusik an der Spitze, fest und dröhnend mit angezogenem Gewehr durch die Straßen marschierte, und dem er, wie viele andere Müßiggänger, in gleichem Schritt und Tritt zum Paradeplatze folgte.

Welch neues, herrliches Leben und Treiben auch hier für ihn!

Da standen die zur Wache kommandierten Truppenteile, von der Infanterie und Artillerie in einer langen Linie nebeneinander, und vor ihnen, auf der anderen Seite des Platzes, bewegte sich eine Menge zahlreicher glänzender Offiziere aller Waffengattungen durcheinander, so ungeniert plaudernd, als seien sie in einer Privatgesellschaft, bis sich an der nächsten Straßenecke ein schwarzer und ein weißer Federbusch zeigte, bis dann auf der ganzen Linie Stillstand und »Präsentiert das Gewehr« kommandiert wurde, sowie sich die beiden Federbüsche, langsam hin und her schwankend, näherten. Der schwarze gehörte einem mageren, kleinen Manne in der Uniform eines Obersten der Infanterie und Platzkommandanten, der weiße aber einem großen, breiten Artillerieobersten, der etwas breitspurig und schwankend ging, aber jedesmal mit einem einzigen Schritte zwei seines kleinen Kollegen überholte.

Ja, dies war bei Erichs Unerfahrenheit ein recht feierlicher, nie zu vergessender Moment, die erste Wachtparade, die er mit anzusehen das Glück hatte! Ja, die Wachen präsentierten allesamt keiner vergaß das oder kam zu spät, die Offiziere griffen an ihre Helme und verharrten in dieser Haltung, bis der weiße und schwarze Federbusch auf der Mitte des Platzes angekommen waren, wobei, dröhnend an den Häusern widerhallend, die Regimentsmusik spielte, unter taktmäßigem Gebrumme der großen Trommel und dem Klingeln des großen Schellbaums wahrhaftig prächtig!

Die Glücklichen, dachte Erich, die jetzt schon da stehen dürfen, mit dem blanken Gewehr oder dem gezogenen Säbel, bereit, eine königliche Wache zu beziehen! Doch machten gerade nicht alle zufriedene Gesichter, besonders die Kommandanten der verschiedenen Wachen nicht, als sie nun vortreten mußten, um von dem Platzmajor inspiziert zu werden. Dieser war ein älterer Mann, lang und hager, in einer abgeschabten, etwas schlotterigen Uniform; seine Stimme klang äußerst heiser, wenn er nach vollendeter Revision kommandierte: »Ober- und Unteroffiziere, marschiert auf eure Posten,« wobei er so undeutlich sprach, als habe er gesagt: »Ober- und Unteroffiziere, es ist mir kein Spaß.« Dann machte er wankend Front gegen seinen Chef, den Platzkommandanten, griff grüßend mit einem äußerst kummervollen Gesichte an seinen Helm, worauf der Vorbeimarsch begann.

Erich hatte zufällig einen so günstigen Platz eingenommen, daß er zu seiner Rechten die beiden vornehmen Federbüsche hatte, links aber eine Straße, nach welcher hin die meisten Wachen abmarschierten, besonders viel Artillerie, um den Dienst auf den Wällen der Stadt sowie den detachierten Forts zu versehen.

Bei diesen, welche ungeniert den Säbel immer im rechten Arme trugen, nachdem sie den Platz, wo die beiden Obersten standen, im Rücken hatten, fehlte es nicht an eigentümlicher Konversation dieser jungen Wachtkommandanten unter sich oder mit Kameraden, die zufällig oder absichtlich dicht an ihrem Wege standen, flüchtige Unterhaltungen, von denen Erich wohl die Worte, aber nicht den Sinn verstand.

»Nimm dich in acht, Schmitz,« rief einer, »der Alte jagt heute da draußen bei Nr. 4 herum, und ich bin überzeugt, statt durch das Thor nimmt er seinen Weg über die Lünette und die Ausfallbrücke.«

»Er soll nur kommen, und wenn er in Civil ist und keine Erlaubniskarte bei sich hat, so arretiere ich ihn, darauf kann er Gift nehmen!«

»Du,« rief ein anderer Abmarschierender, »sage dem Wallrevidierenden vom Seethore, er soll nicht vergessen, mir zwei Schoppen Rum heraus zu bringen und ein Spiel neuer Karten, auch es dem Wallrevidierenden vom Hochthore zu sagen.«

»Nehmt euch in acht mit euren Whistpartien, der Alte hat ohnedies ein Auge auf euch!«

»Meinethalben, wir wollen es auch nicht besser haben, als die anderen, und gehen so lange zum Wasser, bis wir auf dem Trockenen sitzen.«

»Sage doch dem Fellinger draußen, der Alte habe ihm höchstselbst drei Tage Mittelarrest diktiert, weil er gesehen haben will, es sei gestern auf dem Glacis vom Fort Nr. 2 Wäsche getrocknet worden.«

»Werd's besorgen; o, es sieht dem Fellinger ähnlich, daß er sich mit einer hübschen Wäscherin niedlich gemacht hat.«

»Gewiß, gewiß, und deshalb drei Tage zur Abkühlung.« »Wer mag denn eigentlich der Alte sein,« dachte Erich, »der Alte, von dem so oft die Rede, und der, wie es scheint, nur drohend und strafend auftritt!«

Und in diesem Augenblicke war es gerade, als sei jemand

hinter ihn getreten, um ihm durch den halblauten Ausruf. »Sehen Sie, da steht der Alte,« die nötige Aufklärung zu geben.

»Der mit dem weißen Federbusche!«

»Ja, mit dem breiten, roten Gesichte. Hören Sie, jetzt spricht er in seiner Art recht freundlich mit dem jungen Artillerieoffizier, der sich bei ihm gemeldet, und doch dröhnen seine Worte wie ein fern hinrollender Donner. Ich versichere Ihnen, wenn er jetzt plötzlich aus dem FF einen Millionenhund losließe oder dergleichen, so würde das krachen, wie ein Wetterschlag, und könnte am Ende auch einschlagen. Ich habe Aehnliches erlebt. Ja, er ließ mir einmal beim Manöver, als ich in der Geschwindigkeit und Duselei statt das Zündloch zuzuhalten, frischweg am Aufpudern war, ehe noch die Kartusche angesetzt worden, seine Faust so derb auf den Helm fallen, daß ich meinte, er schlüge mich ungespitzt in den Boden hinein.«

Erich wandte sich langsam, um den Sprecher anzusehen, und da er in ihm den spaßhaften Bombardier von heute morgen erkannte, sowie in seiner Gesellschaft den langen Freiwilligen, so zog er freundlich grüßend seine Mütze herab, was von jedem mit einem gnädigen Kopfnicken belohnt wurde.

»Im übrigen,« fuhr Herr Schmoller mit der Miene eines Mannes fort, der alle Verhältnisse wie seine Tasche kennt, »ein Vorgesetzter, wie man sich ihn nur wünschen kann; sorgt für alle in der Brigade, wie ein Vater für seine Kinder, ist auch nicht auf den Gamaschendienst so erpicht, wie die anderen, allerdings bedeutend grob und heftig, aber nur beim langweiligen Garnisonsdienste, wenn es aber bei den Artillerieübungen und Manövern nur rasch entschlossen vorwärts geht und auf rechter Stelle und zur rechten Zeit bedeutend kracht, so ist es ihm gleichgültig, ob der Mantel ein bißchen schief auf dem Sattel sitzt oder ob die Knöpfe blank geputzt sind. Wie tapfer er im Felde war, zeigt das Kreuz auf seiner Brust; das ist eine Dekoration, mein Lieber, die wir beide keine Aussicht haben, je zu erlangen, und galt auch dazumal und gilt heute noch viel mehr, als ein ganzes Dutzend neuer Ordenszeichen.«

»Es interessiert mich sehr, den Herrn Obersten zu sehen,« sprach der Freiwillige Herr Werner, »denn ich habe einen Brief an ihn von meinem Vater, welchen ich ihm kurz vor dem Examen übergeben soll.«

»Ah, in der That!« sagte der Bombardier Schmoller, seinen Begleiter mit größter Ehrfurcht anschauend; »ein solcher Brief ist nicht übel, um sich den Magen warm zu halten, und jetzt mache ich mit noch größerem Vergnügen von der Einladung zum Mittagessen Gebrauch. Ein junger Mann von Ihrem Aeußeren und der obendrauf Briefschaften für den Alten besitzt, ist eine sehr achtenswerte Bekanntschaft; kommen Sie, ich sehe ohnedies, daß der weiße Federbusch auf uns zulenkt.«

»Warten Sie doch, so können wir den Herrn Obersten ja in der Nähe anschauen, vielleicht, daß er mich an einer Aehnlichkeit mit meinem Vater erkennt.«

»Sehr angenehm für Sie; doch gibt es Augenblicke, wo man sich hütet, dem Alten in den Weg zu treten, besonders zwischen der Parade und dem Mittagessen.« Eigentlich hätte er hinzusetzen sollen: oder wenn man ein Beinkleid von einer unvorschriftsmäßigen hellgrauen Farbe trägt, wie Herr Schmoller, welcher sich zu dem vorhabenden Diner fein gemacht hatte und der hastig entwich, den anderen mit sich fortziehend, wobei er ihm sagte: »Ersparen Sie dem Alten Ihren Anblick bis zum Examen; wenn Sie alsdann plötzlich mit dem Briefe Ihres Herrn Vaters vor ihn hintreten, so ist das jedenfalls von größerer Wirkung.« In seinem Inneren aber dachte Herr Schmoller: »Ich wäre ein rechter Narr, bei diesem dummen Teufel da stehen zu bleiben, der imstande ist, sogar den Obersten auf der Straße anzureden und ihm seinen Brief zu präsentieren!«

»Kommen Sie, kommen Sie!«

Damit eilten die beiden rasch in eine Seitenstraße hinein, und Erich blickte ihnen fast mit einem bitteren Gefühle nach. »Wie gut es doch manche Menschen haben,« dachte er; »so dieser junge Mann, welcher im ersten Gasthofe der Stadt wohnt, welcher sich augenblicklich Freunde von Einfluß erworben hat und der beim Examen, wenn wir schüchtern in einer Ecke stehen, mit einem Empfehlungsbriefe vor den Herrn Obersten zu treten imstande ist!«

Um sich aber seinen künftigen Chef in der Nähe anzusehen, blieb er dicht an der Straße stehen, auf welcher dieser mit seinem Adjutanten den Platz verließ, und zog ehrerbietig seine Mütze zum Gruß, welcher denn auch von dem großen und breiten Offizier mit einem wohlwollenden Kopfnicken erwidert wurde.

Von den jungen Leuten, die mit ihm in demselben Wirtshaus wohnten, sah er nicht viel in diesen Tagen; jeder hatte seine besonderen Gänge zu machen, manche verliehen auch ihre Zimmer nicht, um in der Bekanntschaft des alten Maier Hirsch einiges nachzuholen, sowie auch, um in der schrecklich gelehrten Oede von Kohlrauschs Geschichtstabellen hin und wieder seufzend spazieren zu gehen.

So kam denn der große Morgen des Examens heran, und da in aller Frühe die Kirchenglocken läuteten, wie sie übrigens täglich thaten, so schien das für Erich doch heute nur zur Feier dieses großen Tages zu geschehen, zu welcher auch Erde und Himmel im Sonnenscheine ganz besonders glänzten, die Leute auf den Straßen festtäglich gekleidet und die Wachen mit ausnehmend blank geputzten Gewehren vor ihren Schilderhäusern hin und her spazierten.

Ja, Erich war so davon überzeugt, alle Welt müsse sich ausschließlich mit diesem wichtigen Ereignisse beschäftigen, daß es ihn sehr verdroß, als ein Artillerieunteroffizier im Hofe der Brigadeschule ihm auf seine Frage, wo er sich hinwenden müsse, um zum Examinationssaale zu gelangen, zur Antwort gab, er wisse von keinem Examen und solle er sich bei dem Wachthabenden dort unter dem Thorbogen erkundigen. Auch dieser wollte sich auf nichts derart besinnen, und so stand Erich für einen Augenblick ratlos da, bis zu seinem Glücke der lange Freiwillige Werner, und zwar neben dem Bataillonsadjutanten, den Hof betrat. Quer über denselben folgte er ihnen die Treppe hinauf in einen großen Saal, wo sich links in der Ecke vielleicht schon ein Dutzend junger Leute befand, gleich wie er in Civilkleidern, schüchtern zusammengedrängt wie eine Schafherde, während einige Offiziere im Hintergrunde des Saales gleichgültig plaudernd auf und ab gingen. Auch hier war von besonderer Feierlichkeit keine Rede. Andere Offiziere, die nachher eintraten, sprachen mit denen, die schon da waren, oder setzten sich an eine Tischecke, um in einem Zeitungsblatte oder einem Buche zu lesen, und selbst als das Examen nun anfing, ging dieser bedeutungsvolle Akt ohne irgend welche Ceremonie vor sich, ohne eine feierliche Ansprache, wie Erich gehofft, ohne Hinweis auf die Pflichten und Tugenden dieser künftigen Kriegshelden. Es wurden einzelne Namen aufgerufen, und der Betreffende trat schüchtern vor, um sogleich von einem der Offiziere in Empfang genommen zu werden, der alsdann entweder plaudernd mit ihm auf und ab ging oder sich mit ihm in einer Fensternische besprach, um ihn später neben anderen Examinanden an einem großen Tische, mit Papier und Schreibzeug bedeckt, niedersitzen zu lassen. Endlich ertönte auch Erichs Name, und er fühlte bei dem Klange desselben, wie sich sein Herz zusammenzog und wie er mühsam atmete; doch schritt er aufrechten Hauptes zu einem freundlich aussehenden Offizier, der ihm in der allgemeinen Weltgeschichte auf den Zahn fühlte, ihn alsdann einem strenger aussehenden Kollegen übergab, dem er das Fluß- und Kanalsystem des gesamten Deutschlands angeben mußte, auch den Lauf und die Höhe der Gebirgsketten Europas und Asiens, worauf er dann von hier ebenfalls an jenen langen Tisch gesetzt wurde und die Aufgabe erhielt, einen wohlstilisierten kurzen Abriß seiner Lebensgeschichte zu geben.

Erich hatte mit Zagen in die Augen seiner Examinatoren geblickt, und daß er von beiden mit einem kurzen, aber wohlwollenden Kopfnicken entlassen wurde, erhöhte seinen Mut und ließ ihn frei aufatmend an die für ihn leichtere schriftliche Aufgabe gehen.

Unterdessen war auch der Oberfeuerwerker Doll mit dem Brigadeadjutanten eingetreten, und nachdem ersterer eine große, schwarze Tafel, die an der Wand hing, sorgfältig mit einem nassen Schwamme überfahren und der letztere einen Stoß Papiere auf einen kleinen Tisch, hinter dem ein breiter Lehnsessel stand, niedergelegt, zogen einige der Offiziere ihre Uniformen etwas fester auf die Hüften herab, drückten auch wohl an ihre Degen und griffen leicht an ihre Kragen, während andere, welche es sich bis jetzt auf einer Tischecke oder rücklings auf einem Stuhle bequem gemacht, herabrutschten oder aufstanden alles Anzeichen, daß die Feierlichkeit des Examens jetzt endlich einen höheren Aufschwung zu nehmen schien. Und so war es auch in der That, als nun der Oberst und Brigadekommandant eintrat und mit ihm der Vorsteher der Schule, Hauptmann Wetter.

Letzterer ließ sich von dem Brigadeadjutanten die verschiedenen jungen Leute mit ihren Namen bezeichnen und betrachtete hierauf die betreffenden Notizen, welche sich die einzelnen Examinatoren über die Kenntnisse der zu Prüfenden gemacht, während sich der Oberst in den Lehnstuhl setzte, seinen Helm neben sich legte und in die Papiere blickte, welche vor ihm lagen. Einen Augenblick durchblätterte er sie, dann schaute er auf und sagte mit seiner mächtigen Stimme: »Wo haben wir denn den Freiwilligen Werner? Lassen Sie ihn einmal vor mir hintreten! So, Er ist also der Franz Werner,« fuhr er fort, nachdem ihm der Betreffende vorgestellt worden war; »nun, Er hat ja eine Größe, wie sie für den Flügelmann einer zwölfpfündigen Batterie paßt! Wat is denn dat für ein Papier, dat Er mir da unter die Nase hält?« »Ein Empfehlungsschreiben meines Vaters, Herr Oberst, welcher so glücklich ist, den Herrn Obersten zu kennen.«

»Is wohl möglich. Ick glaube mir zu erinnern, und wenn Er mir dat Papier später nach einem guten Examen übergeben will, so habe ich nichts dagegen. Wie steht's mit ihm, Herr Lieutenant Kühne?« wandte er sich an den Offizier, der ihn gerade in der Arbeit gehabt.

Dieser zuckte leicht die Achseln und erwiderte etwas von mangelhaften Kenntnissen und sehr oberflächlichem Wissen.

»Hm,« machte der Oberst, »so wollen wir selbst einmal sehen, wie Er in der Mathematik beschlagen ist. Trete Er dort an die Tafel, mein Sohn, und sei Er vor allen Dingen nicht schüchtern; man hat hier nicht die Absicht, Ihn zu beißen.«

Nun sah allerdings der Freiwillige Werner im gewöhnlichen Leben durchaus nicht schüchtern aus, ging aber jetzt doch mit etwas zaghaften Schritten auf die Tafel zu, wo ihn der Oberfeuerwerker Doll erwartete.

»Er soll uns einmal den Pythagoras beweisen!«

Werner machte ein paar zweifelhafte Striche an die Tafel, schrieb auch einige Zahlen daneben, doch las man wohl in dem erstaunten Gesichte des Oberfeuerwerkers, daß der Lehrsatz der großen griechischen Mathematik hier sehr in Gefahr sei, unbewiesen zu bleiben. Auch der Oberst bemerkte das, und man sah an seiner schwellenden Stirnader, sowie an der Art, wie er die Backen aufblies, daß ein Unwetter im Anzuge sei, wobei er ungeduldig bald »Ne,« bald »O!« herausstieß und endlich, auf den Tisch trommelnd, sagte: »Mir scheint, dat der junge Mensch den Pythagoras für ein böhmisch Dorf ansieht. Steigen Sie einmal weiter herab, Herr Oberfeuerwerker, und lassen Sie sich einmal von ihm erklären, wat ein gleichseitiges Dreieck ist!«

Aber auch diese Erklärung gedieh nicht weiter, als zu einigen gänzlich unverständlichen Strichen, welche er mit einem kläglichen Blicke an die Tafel malte.

Nun wurde das Gesicht des Obersten dunkelrot, wobei sich von fernher rollender Donner zu einem Einschlagewetter verstärkte. »Ja, wat is denn dat, wat will denn die lange Wischerstange, dat se sich da vor uns hinstellt, um Examens zu spielen! Hat Er denn gar nichts gelernt und ist Er wohl gar ein ausgemachter Nixnutz, wat? Kommt da mit Empfehlungsbriefen und will mir weismachen, er sei der Sohn meines alten Freundes Werner schäme Er sich! Der Postmeister ist so ein braver Mann und Er selbst hat so eine respektable Mutter und so hübsche Schwestern, und kann nicht einmal den Pythagoras beweisen! Aber,« brüllte er in höchster Wut, »ick will mir nicht ärgern, und namentlich nicht wegen solchem Grobzeug na, jetzt geh Er her und mal Er mir zwei Punkte auf die Tafel, etwas weit voneinander entfernt so, dat is gut! Nun hoffe ich doch, daß Er irgend etwas von Mathematik verstehen wird! Welches ist nun der kürzeste Weg zwischen zwee Punkten?« »Eine gerade Linie, Herr Oberst,« sagte Werner rasch, wobei er tief aufatmete.

»Richtig, eine gerade Linie nun denn, Er Millionenhund, so mache Er, daß Er auf der mathematisch geradesten Linie wieder nach Hause kommt! Hol' Ihn der Teufel!«

Zu gleicher Zeit erhob sich der Oberst, nahm seinen Helm und schwenkte ihn hin und her, als könnte er damit die Gestalt des unmathematischen Freiwilligen schnell verwehen lassen, was aber auf natürliche Weise geschah, indem die betreffenden Offiziere dafür sorgten, daß er so rasch wie möglich aus den Augen ihres brausenden und schnaufenden Chefs entfernt wurde.

»Sollte man nicht glauben,« brummte er vor sich hin, »dat sei eine Kleinkinderbewahranstalt, wo man nur so herläuft! Aber ich sage Ihnen, Herr Hauptmann Wetter, halten Sie mir fest uf die Mathematik!«

Bei diesen Worten blickte der Oberst die übrigen Schlachtopfer wie ein Tiger an, und zwar wie ein Tiger, der Blut geleckt hat. Langsam ließ er seine Augen über die bange Schar dahinfahren, und der Ausdruck dieser Augen, welche vorher so wohlwollend und milde geglänzt hatten, drückte jetzt so schwer auf sämtliche Examinanden, daß man nichts vernahm, als das schüchterne Rascheln der Federn auf dem Papier.

Eine Zeitlang ging übrigens alles weitere in Ruhe vor sich, und ein paar junge Leute, die nach Werner aufgerufen wurden, machten ihre mathematischen Aufgaben so ordentlich, daß der Oberst wieder anfing, beifällig mit dem Kopfe zu nicken. Jetzt aber zog er ein Blatt Papier aus dem Stoße hervor, in dem er kramte, las dann und rief hierauf mit lauter Stimme: »Erich Freiberg wo haben wir Erich Freiberg? Ich möchte mir den auch einmal beim Tageslicht anschauen.«

»Hier, Herr Oberst!«

»Komm Er her, mein Sohn, und sei Er nicht schüchtern! Ick bin nur für die unangenehm, die ein schlechtes Gewissen haben, und Er schaut mir recht ehrlich aus seinen Augen, ist, wie ich hier aus dem Papiere sehe, der Sohn eines braven Artillerieunteroffiziers, und will ick Ihn deshalb mit besonderer Sorgfalt examinieren lassen. Sieht Er, mein Sohn, in der Hoffnung nämlich, dat Er etwas gelernt hat gegenüber manchen anderen, die daherkommen aus ihren höheren Schulen und Bildungsanstalten, wie sie es nennen, mit Empfehlungsbriefen in ihren Klauen und goldenen Ketten an der Uhr. Mach Er mir nun dat Vergnügen und zeig Er uns, dat Er von guter Art ist.«

Damit wurde Erich mit einer Handbewegung gegen den Oberfeuerwerker diesem überantwortet, und wenn er ihn auch gerade im betreffenden Examen nicht schonte, so wußte er ihm doch anderenteils auch durch irgend einen Strich oder eine eingeworfene Ziffer, und zwar in solchen Augenblicken zu helfen, wo sich der Oberst mit dem Präses der Schule unterhielt, wobei dann das Facit herauskam, daß Erich Freiberg ein ganz erträgliches Examen gemacht hatte.

»Nun, sieht Er, mein Sohn, dat freut mir!« sagte der Oberst mit einem wohlwollenden Lächeln, wobei er seine Hand so kräftig auf das Haupt des jungen Menschen legte, daß dieser sich zusammennehmen mußte, um nicht zu wanken. »Halte Er sich auch in allen anderen Dingen gut, und ich werde Ihn nicht aus dem Gesichte verlieren!«

In ähnlichen Wechselfällen bewegte sich das Examen zur Aufnahme in die Brigadeschule noch eine Zeitlang hin und her und ergab als schließliches Resultat, daß neben Werner, der aber nicht mehr zum Vorschein gekommen war, noch drei andere vom Besuche der Schule zurückgewiesen wurden.

Dann ließ der Oberst die sämtlichen Glücklichen um den Tisch herumtreten und hielt ihnen eine kurze, aber sehr kräftige und sehr wohlwollende Rede, deren Schluß also lautete:

»Und ick sage euch, meine Kinder, und es kann allen anderen, die hier herum stehen, nichts schaden, wenn sie es ebenfalls nicht nur mit anhören, sondern och bei sich behalten wollen, nämlich dat meine Brigade sowie alles übrige militärische Wesen nur durch drei Dinge in Ordnung gehalten und zum Gedeihen gebracht werden kann. Dat is erstens Ordnung und zweitens Ordnung und drittens Ordnung denn Ordnung muß sind!«

Damit und zugleich mit einer freundlichen Handbewegung entließ er die Examinanden, welche sich nun wieder wie früher in die Ecke des Saales zurückzogen, um dort von dem Brigadeadjutanten die Weisung zu erhalten, wo und wann sie sich morgen früh zur Einkleidung zu stellen hätten.


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