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Neunzehntes Kapitel

Es war der Sonnabend vor Ostern. Die Luft ging, obwohl man erst den 22. März schrieb, mild und weich, und die Amsel, die schon seit Wochen an jedem Spätnachmittag drüben auf dem Hausfirst ihre Frühlingshymnen anstimmte, sang heute in volleren und jubelnderen Tönen als je, gerade als habe sie gewußt, daß der Lenz nun auch nach dem Kalender wirklich da sei.

Das Personal der Firma Blumhardt hatte heute um zwei Stunden früher das Geschäft verlassen, und der junge Chef war allein in den vereinsamten Räumen zurückgeblieben. Nicht, daß ihn noch eine dringliche Arbeit an den Schreibtisch gefesselt hätte! Er wartete nur auf Hilde, die versprochen hatte, zwei von ihr geprüfte Manuskripte noch vor dem Feste zurückzugeben. Damit wäre es ja nicht so eilig gewesen, aber das junge Mädchen liebte es nun einmal, vor Sonn- und Feiertagen, soweit es möglich war, reinen Tisch zu machen, um die neue Woche mit neuer Arbeit beginnen zu können. Daß Hilde gerade heute kommen wollte, hatte aber auch noch einen andern Grund. Sie war von Hennig telephonisch davon benachrichtigt worden, daß der Einrahmer das von ihr gemalte Bildnis ihres Vaters abgeliefert habe, und die junge Künstlerin empfand nun das begreifliche Verlangen, zu sehen, wie sich die Leinwand neben den beiden Porträts der Vorfahren ausnehme, und sich mit eigenen Augen Gewißheit darüber zu verschaffen, ob es ihr gelungen sei, ihr Werk in Ton und Technik den beiden älteren Bildnissen soweit anzupassen, daß die drei gemalten Blumhardt-Generationen einigermaßen miteinander in Einklang standen.

Hennig befand sich in einem ihm sonst fremden Zustand ungeduldiger Erwartung. Er freute sich auf den Eindruck, den die »Geschäftsahnengalerie«, wie er es nannte, auf Hilde machen würde; verstand er doch selbst von solchen Dingen genug, daß er die gute Wirkung, zu der sich die drei Bilder vereinigten, beurteilen konnte. Er ging mit großen Schritten im Privatkontor auf und nieder, dehnte seinen Spaziergang schließlich auch bis in die andern Räume aus und trat von Zeit zu Zeit ans Fenster, um auf die Straße hinauszusehen und nach der Erwarteten Ausschau zu halten. Manchmal, wenn da draußen eine schlanke weibliche Gestalt um die Ecke bog, fühlte er sein Herz stärker klopfen, aber immer wieder stellte es sich heraus, daß er sich geirrt hatte, und die weiblichen Wesen entpuppten sich gewöhnlich als Bürgermädchen aus der Nachbarschaft, die, wie die behutsam getragene umfangreiche Papiertüte verriet, den noch in letzter Stunde erstandenen neuen Sommerhut stillbeglückt und zukünftiger Triumphe froh nach Hause trugen.

Aber gegen halb sechs kam Hilde doch, ruhig und sicher wie immer. Sie legte die Ledermappe ihres Vaters, die schon so manches Manuskript beherbergt hatte, auf den Tisch und betrachtete eine Weile schweigend ihr Werk, das sie in seinem breiten Rahmen nun etwas fremd und so viel feierlicher anmutete als vorher daheim auf der Staffelei. »Es geht an; ich finde, daß es sich neben den beiden älteren Bildern ganz erträglich ausnimmt,« meinte sie. »Ein van Dyck oder ein Velasquez ist es ja gerade nicht, nicht einmal ein Lenbach, aber ich glaube, es ist ähnlich und gibt Vaters Wesen ziemlich getreu wieder. Und das ist ja doch die Hauptsache.«

»Die Ähnlichkeit, und zwar nicht nur die äußere, könnte gar nicht größer sein, Fräulein Hilde,« versicherte Hennig. »Jedenfalls geriet der gute Hunger, der sich doch gewiß nicht durch die rein künstlerischen Qualitäten eines Bildes bestechen läßt, bei seinem Anblick vor Freude ganz aus dem Häuschen. Und der kennt den Dargestellten doch einige Jahrzehnte länger als ich. Der dicke Herr scheint es mir auch hoch anzurechnen, daß ich das Porträt seines alten Prinzipals hierher gehängt habe, denn er, der bisher immer mit einer, ich will nicht gerade sagen: feindseligen, aber doch entschieden etwas lieblosen Zurückhaltung mit mir verkehrte, ist seit heute vormittag wie umgewandelt. Er hat mir sogar gestanden, daß er mit seinen Freunden morgen einen Ausflug nach Kösen unternehmen wolle, um auf der Rudelsburg eine Partie Doppelkopf zu spielen. Einen größeren Vertrauensbeweis kann man doch kaum verlangen.«

Hilde hatte sich unbefangen, als sei sie in diesen Räumen zu Hause, an den Tisch gesetzt und nahm die Manuskripte aus der Mappe. »Da wäre zunächst der Roman ›Schicksal‹,« sagte sie. »Eine etwas mysteriöse Sache. Ich habe diese Arbeit schon vor zwei oder drei Jahren einmal gelesen; damals trug sie jedoch, wenn ich mich recht entsinne, den Titel ›Titanensturz‹. Der Verfasser, der sich offenbar hinter einem Pseudonym verbirgt, scheint anzunehmen, daß der neue Machthaber im Hause Blumhardt weitherziger oder weniger anspruchsvoll sei als der vorige, war aber doch vorsichtig genug, den Titel zu ändern. Der unfreiwillige Humor des kindlichen Machwerks hat Vater und mich schon damals außerordentlich belustigt, und ich habe auch jetzt nur feststellen können, daß dieses seltsame Opus durch das lange Lagern nicht reifer geworden ist.«

Hennig nahm das Manuskript in Empfang und blätterte darin. »Daß das Ding nicht zu brauchen sein würde, dachte ich mir schon,« erklärte er. »Ich habe nur einen flüchtigen Blick hineingeworfen, stieß, aber überall nur auf hohle Phrasen und fürchterlichen Schwulst. Und daß uns der Mann nun zum zweitenmal damit beglücken will, ist eine Dreistigkeit sondergleichen. Also zurück damit! Ich werde dafür sorgen, daß Drillhose einen gepfefferten Brief dazu schreibt. Und die andere Einsendung? Was halten Sie von der?«

»Die ist wenigstens ernst zu nehmen, obgleich ich sie auch nicht zur Annahme empfehlen kann. Von den drei Novellen scheint mir die erste gut zu sein, wenn auch der Grundgedanke nicht gerade neu ist und an das Motiv von Kellers ›Gerechten Kammmachern‹ erinnert. Auch die zweite mag zur Not noch gehen, ist aber nicht ganz klar im Aufbau und wird in ihrer Wirkung durch den willkürlichen Wechsel der Zeitformen beeinträchtigt. Die dritte dagegen halte ich für völlig verfehlt. Abgesehen davon, daß der Stoff im höchsten Grade unerquicklich ist, wird die Lösung des Knotens so gewaltsam herbeigeführt, daß man sich wie vor den Kopf geschlagen vorkommt und die Geschichte verärgert aus der Hand legt. An Erfindungsgabe fehlt es dem Verfasser ja nicht, wohl aber an Selbstzucht und an die Fähigkeit, mit seinen Mitteln hauszuhalten und die Entwicklung der Geschehnisse folgerichtig durchzuführen.«

»Genau denselben Eindruck habe ich beim Lesen auch gehabt, Fräulein Hilde. Von der ersten Novelle war ich entzückt, die zweite weckte bei mir schon allerlei kritische Bedenken, und mit der dritten bin ich nicht einmal ganz bis zu Ende gekommen. Ich werde das Manuskript also auch zurücksenden, dem Verfasser aber schreiben, daß er sich durch die Ablehnung nicht davon abhalten lassen möchte, mir später einmal andere Arbeiten anzubieten.«

»Das würde ich auch empfehlen. Dem geläuterten Stil nach zu urteilen, hat der Autor die erste Geschichte des Manuskripts zuletzt geschrieben; das würde dafür sprechen, daß er noch im Aufsteigen begriffen ist und zu gewissen Hoffnungen für die Zukunft berechtigt. Jedenfalls würde mich's freuen, ihm über kurz oder lang wieder zu begegnen.«

»Und ich stelle mit Vergnügen fest, daß wir in unserm Urteil wieder einmal übereinstimmen, Fräulein Hilde,« sagte er mit einem merklich wärmeren Ton in der Stimme. »Das beweist mir, daß ich mit meinen Bemühungen, mich in den alten Blumhardtschen Geist einzuleben, auf dem rechten Wege bin, und dann auch, daß es eigentlich eine famose Idee von mir war, Sie um Ihre Mitarbeit zu bitten. Wenn ich nur wüßte, wie ich mir diese dauernd erhalten könnte! So sehr ich in Ihrem Interesse wünschen muß, daß Ihnen in Ihrer Kunst reiche Erfolge beschieden sein möchten, so ernstlich fürchte ich, daß Sie eines Tages zu mir sagen werden: ›Bester Herr Hennig, lesen Sie Ihre Manuskripte künftig selber; ich kann meine kostbare Zeit nutzbringender anwenden.‹ Ja, da lachen Sie, aber der Augenblick, wo Sie so oder ähnlich zu mir sprechen werden, dürfte unfehlbar einmal kommen. Dieser Sorge möchte ich so gern überhoben sein. Es mag ja seltsam klingen, aber ich habe schon seit Wochen darüber nachgedacht, auf welche Weise ich mir Ihr teilnehmendes Verständnis und Ihre tätige Hilfe für alle Zeiten erhalten könnte. Ich bin dabei auf einen ganz tollen Ausweg verfallen, aber ehe ich davon rede oder ihn auch nur andeute, möchte ich Sie fragen, ob Sie selbst keinen Rat wissen?« Er hatte, während er dies alles sagte, einen roten Kopf bekommen und bearbeitete mit seinen derben Händen die alte Blumhardtsche Manuskriptmappe, als sei es jetzt seine wichtigste Aufgabe, das etwas morsch und brüchig gewordene Leder durch Walken wieder geschmeidig zu machen.

Hilde sah ihn unsicher an. »Es sieht noch nicht danach aus, als ob mich meine Kunst in absehbarer Zeit so völlig in Anspruch nähme, daß ich nicht jeden Tag ein oder zwei Stunden zum Manuskriptlesen für die Firma Blumhardt erübrigen könnte«, erwiderte sie mit einem schwachen Versuch, zu scherzen.

Er schob die Mappe mit einer entschlossenen Bewegung weit von sich und lehnte sich, die Arme über die Brust kreuzend, in seinen Sessel zurück. »Fräulein Hilde, ich glaube, Sie verstehen mich nicht so ganz,« sagte er dann mit sonderbar gepreßter Stimme. »Tun Sie mir den einzigen Gefallen und hören Sie mich einmal in aller Ruhe an. Aber haben Sie die Güte und unterbrechen Sie mich nicht, sonst komme ich ganz und gar aus dem Konzept.« Er seufzte drei- oder viermal sehr vernehmlich und fuhr nach einer kleinen Pause, während deren ihn das junge Mädchen mit scheuer Erwartung betrachtete, fort: »Also –.« Aber weiter sagte er dann nichts.

»Also –« wiederholte sie ermunternd.

»Na ja, nun haben Sie mich doch unterbrochen. Nun sitze ich fest. Ich konnte mir's schon denken, daß es so kommen würde. Herr Gott im Himmel, daß man sich nicht einmal auf sein Gedächtnis verlassen kann! Und ich hatte die Rede, die ich Ihnen halten wollte, so schön auswendig gelernt. Nun fällt mir kein Wort davon ein. Ach was, ich muß es eben auf andere Weise versuchen, mich Ihnen verständlich zu machen!« Er griff in die rechte Westentasche, brachte zwei glatte goldene Ringe, einen weiteren und einen engeren, zum Vorschein und legte sie vor Hilde auf die blanke Platte des alten Mahagonitisches.

Einen Augenblick schien sie zu zögern, darauf aber nahm sie lächelnd den kleineren der Reife auf und steckte ihn errötend an den Ringfinger ihrer Linken, während er den andern nicht ohne einige Mühe, aber mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung, über den Knöchel schob. Dann saßen sie ein paar Sekunden lang schweigend da, schauten einander strahlend in die Augen und lauschten auf das Geläut der Johanniskirche, das, das nahende Osterfest begrüßend, volltönend durch die stille Abendluft zur Inselstraße herüberklang.

Hilde war es, die das erste Wort fand. »Du, Hans, mir scheint, nun sind wir verlobt«, sagte sie ganz unfeierlich.

»Den Eindruck habe ich auch,« erwiderte er lachend. »Das ging schnell und schmerzlos, viel besser, als ich gefürchtet hatte. Ich danke Gott, daß ich auf den glänzenden Einfall mit den Ringen gekommen bin. Du weißt ja: ich bin sonst nicht gerade auf den Mund gefallen, aber dir die Sache des langen und breiten mit Worten auseinanderzusetzen, dazu fehlte mir merkwürdigerweise der Mut.« Dabei zog er sie an sich und küßte sie.

»Dann wundert's mich nur, daß du dazu den Mut findest, Hans«, bemerkte sie, nachdem er sie endlich wieder freigegeben hatte.

»Ja, Mädel, jetzt, wo ich meiner Sache gewiß bin, ist das was andres. Jetzt bin ich zu allem fähig. Du gehörst doch nun mir und kannst nicht mehr zurück.«

»Und was hättest du getan, wenn ich den Ring liegengelassen hätte?« erkundigte sie sich.

»Sehr einfach: ich hätte alle beide wieder eingesteckt und mich zu trösten gesucht.

Sie sah ihn ein wenig betroffen an. »So so! Zu trösten gesucht! Das Bekenntnis einer schönen Seele!«

»Zu trösten gesucht, habe ich gesagt. Ob mir's gelungen wäre, ist natürlich eine andere Frage, die mir aber jetzt, wo die Geschichte so glücklich abgelaufen ist, ziemlich nebensächlich vorkommt.«

»Ich wundere mich nur, daß du, der du mir immer auseinandergesetzt hast, das Geschäft müßte mehr nach kaufmännischen Grundsätzen geleitet werden, so ein armes Wurm wie mich nehmen willst. Denn, daß ich auf keine Mitgift zu rechnen habe, wirst du hoffentlich wissen. Was aus dem Schiffbruch gerettet worden ist, reicht ja gerade hin, daß meine Eltern knapp damit auskommen können.«

»Weiß ich alles, Hilde. Aber ein bißchen kaufmännische Spekulation ist doch dabei. Ich sagte dir schon, wie wichtig es für die Firma Friedrich Ambrosius Blumhardt ist, daß die guten alten Überlieferungen weitergepflegt werden. In Traditionen kann sich jedoch ein Fremder niemals völlig einleben, die müssen gewissermaßen durch direkte Blutübertragung fortgepflanzt werden. Siehst du, daran hatte ich gedacht, als ich vor etwa drei Wochen die Ringe bestellte.«

»Das ist ja allerliebst! Dann wäre ich also nur ein Mittel zum Zweck.«

»Sag' lieber: auch ein Mittel zum Zweck. Denn die Überlieferungen allein, die du verkörperst, waren für mich nicht ausschlaggebend. Eine Frau brauchte ich auf alle Fälle. Wenn man nämlich tagsüber seine eigenen geschäftlichen Sorgen hat, möchte man zu Hause doch auch seine eigenen Freuden haben. Und da sagte ich mir: nimmst du die Hilde, so bekommst du erstens eine famose Frau, zweitens einen guten Kameraden und drittens einen Teilhaber für die Firma, du schlägst also drei Fliegen mit einer Klappe.«

»Hans, du bist von einer rührenden Offenherzigkeit.«

»Findest du? Es sollte mich freuen, wenn du recht hättest. Offenherzigkeit schätze ich an den Menschen immer am höchsten. Man weiß dann doch, woran man mit ihnen ist.«

Sie schien sich mit seiner Erklärung nicht so ganz zufrieden geben zu wollen. »Du, wenn ich geahnt hätte, daß du dich aus lauter praktischen Erwägungen mit mir verloben wolltest, dann hätte ich mir die Sache doch etwas reiflicher überlegt«, sagte sie.

»Dazu ist es nun zu spät, mein Schatz. Wir stehen jetzt vor der vollendeten Tatsache, wobei ich natürlich voraussetze, daß deine Eltern kein Veto einlegen.«

»Das werden wir kaum zu befürchten haben. Mutter ist von jeher mit allem einverstanden gewesen, was ich tue, und bei Vater, der früher allerdings nicht übermäßig viel von dir wissen wollte, hast du einen Stein im Brett, seit du das Geschäft gekauft, und besonders, seit du sein Bild für dein Kontor bestellt hast. Pietät ist in seinen Augen nämlich die vornehmste aller Tugenden.«

»Um so besser! Ich würde ja selbstverständlich wie ein Löwe um dich kämpfen, aber ich finde es angenehmer, wenn ich meine Kräfte in friedlicher Tätigkeit verbrauchen darf.«

Sie waren aufgestanden und Hand in Hand ans Fenster getreten. Und als sie nun in den kleinen Vorgarten hinuntersahen, da bemerkten sie zum erstenmal, daß die milde Witterung der letzten Tage auf den schmalen Beeträndern, mit denen die winzigen Rasenflächen zu beiden Seiten der Einfahrt umsäumt waren, einzelne Veilchen, Märzglöckchen und Krokus ans Licht gelockt hatte.

Aber zwischen diesen zarten, stillen Gebilden der Natur stand auch noch ein derberes, das außer dem satten Enzianblau einer Leipziger Markthelferschürze nichts Blumenhaftes an sich hatte und sich auch keineswegs wie Florens Kinder damit begnügte, durch sein bloßes Dasein den Frühlingsgarten zu schmücken, sondern durch kräftige selbsttätige Bewegungen seine Zugehörigkeit zu den höher organisierten Wesen bekundete. Es war der wackre Bölte, der genau in der Mitte des vor den Fenstern des Privatkontors gelegenen Rasenrundteils ein Loch grub.

»Sieh mal, da arbeitet ja der Alte noch im Gärtchen,« bemerkte Hennig. »Was hat denn das zu bedeuten?«

Die junge Braut hob sich ein wenig aus den Fußspitzen und schaute dem rüstig Schaffenden ein Weilchen mit stillem Vergnügen zu. »Wie der greise Laertes auf Prellers Karton im Museum«, meinte sie.

Hennig schob sie sanft beiseite, öffnete das Fenster und rief hinunter: »Nun, Bölte, Sie sollten doch längst Feierabend gemacht haben? Was schanzen Sie denn da noch? Wollen Sie etwa einen Brunnen graben?«

Der Alte stieß den Spaten in die Erde, spuckte in die Hände und schaute hinauf. »Nu nee, Herr Hennig. Ich will, mit Respekt zu sagen, bloß einen Baum pflanzen.«

»Einen Baum? Wie kommen Sie denn auf die Idee?«

»Ja, sehen Sie, Herr Hennig, drüben in der Erasmus-Reich-Straße hatten wir doch die schöne Kastanie, die noch vom ganz alten Herrn stammte. Seit Wernickes das große Gebäude drumherumgebaut hatten, kriegte der Baum nicht mehr Luft und Licht genug und fing an zu kränkeln, genau wie wir selbst. Und letztes Jahr, gerade als es mit uns alle war, ist auch die alte Kastanie kaputgegangen. Na, darüber sind ja nun längst graue Haare gewachsen, und wir wollen nicht mehr davon reden. Aber ich hab's kommen sehen und beizeiten aus einer Frucht ein neues Stämmchen gezogen. Bis jetzt hat's bei mir im Schrebergarten gestanden, aber nun wird's Zeit, daß es hierher gesetzt wird, damit wir im Sommer in der Packkammer ein bißchen Schatten bekommen. Und dann, Herr Hennig: was Grünes muß der Mensch bei seiner Arbeit sehen, denn sonst verliert er, mit Respekt zu sagen, die rechte Lust.« Er griff wieder zum Spaten, ebnete den Grund der Pflanzgrube und senkte das Bäumchen mit dem Wurzelballen behutsam hinein. Dann trat er einen Schritt zurück, richtete den dünnen Stamm gerade, schaufelte Erde auf die Wurzeln und trat sie fest, indem er sich, Fuß bei Fuß, langsam darumbewegte. Als er damit fertig war, betrachtete er sein Werk mit liebevollen Blicken und meinte: »Macht sich ganz gut, nicht wahr? Der Baum ist ja noch ein bißchen schwach, aber er ist wenigstens gesund. Sehen Sie nur mal die dicken Knospen! In vier Wochen kann der grün sein.«

»Sie könnten nachher wohl einmal heraufkommen, Bölte«, sagte der junge Prinzipal.

»Sofort, Herr Hennig. Aber zuerst muß ich das Bäumchen noch tüchtig angießen. Das ist doch jetzt das Allerwichtigste.« Und er ging ins Haus, um einen Eimer Wasser zu holen.

Einige Minuten später trat er ins Privatkontor. »Was soll ich denn, Herr Hennig? Sie haben wohl noch 'ne eilige Korrektur? Die muß bis Dienstag liegenbleiben; die Druckerei hat Sie nämlich heut schon geschlossen.«

»Weiß ich, Bölte. Es handelt sich diesmal um nichts Geschäftliches. Ich wollte Ihnen nur etwas mitteilen, was Sie als den ältesten und ich darf wohl auch sagen: den treuesten Mitarbeiter des Hauses Friedrich Ambrosius Blumhardt gewiß freuen wird.«

»Da bin ich Sie aber gespannt, Herr Hennig.«

»Was sagen Sie dazu, Bölte? Ich habe mich eben mit Fräulein Hilde verlobt.«

Der Alte schob die verbogene Stahlbrille in die Stirn und ließ einen Blick des Erstaunens zwischen den beiden jungen Leuten hin und her gehen. »Wahrhaftig? Hören Sie, das war eine gescheite Idee.« Er wischte sich die Hände, die ihre Pflanzertätigkeit nicht verleugneten, umständlich an der Schürze ab und schüttelte Hennig die Rechte. »Da gratulier' ich Ihnen aber herzlich. Und Ihnen auch, Fräulein Hilde. Wissen Sie,« wandte er sich mit der Vertraulichkeit, zu der ihn seine Stellung als ältestes Inventarstück des Hauses berechtigte, an den Chef, »ich hab' unser Fräulein von klein auf gekannt. Das ist Sie, mit Respekt zu sagen, was Reelles. Die war schon als ganz kleines Kind zu allen Leuten freundlich, und ich hab' immer gesagt, wenn die einmal keinen guten Mann kriegt, dann geht's auf der Welt nicht mit rechten Dingen zu. Na, nu brauch' ich mir desderwegen keine Sorgen mehr zu machen; einen besseren als Sie, Herr Hennig, kann sie gar nicht bekommen. Ach ja, wenn ich an die alten Zeiten denke, als beim Geschäft noch der Garten mit den mächtigen Bäumen war, und der Chef im zweiten Stock wohnte! Da kam unser Hildchen gewöhnlich nach Tisch in die Packkammer herunter und sah nach, ob ich ihr Kirschen oder Erdbeeren oder sonst was aus meinem Gärtchen mitgebracht hatte, denn auf Obst war sie versessen wie der Teufel auf eine arme Fliege. Wissen Sie noch, Fräulein? Dazumal sagten Sie noch ›Onkel Bölte‹ zu mir.«

»Gewiß weiß ich's noch,« versicherte das junge Mädchen lebhaft. »So herrliche Erdbeeren, wie Sie hatten, gab es aber auch in der ganzen Stadt nicht.«

»Sie sind wohl ein großer Gartenfreund, Bölte?« fragte Hennig.

Der Alte strahlte. »Das will ich meinen! Die Barpakete und mein Garten, dadrum dreht sich bei mir alles.«

»Haben Sie auch noch Ihre Hühner und Kaninchen?« erkundigte sich Hilde.

»Nu nee, Fräuleinchen, die hab' ich Sie schon lange abgeschafft. Die Ludersch fraßen mir den ganzen Grünkram weg. Alles kann der Mensch nun einmal nicht haben. Es ist ein wahres Sprichwort: Viele Hasen sind des Hundes Tod, denn wenn er allen nachlaufen will, geht ihm die Puste aus. Weiß denn der Chef, ich wollte sagen: Herr Blumhardt schon was?«

»Von unserer Verlobung?«

»Nu eben.«

»Noch nicht. Es soll eine Osterüberraschung für ihn werden«, erklärte der Bräutigam.

Bölte kraute sich das struppichte graue Haar und machte sein pfiffigstes Gesicht. »Ich gäb' 'nen Taler drum, wenn ich sehen könnte, was er für Augen dazu macht. Wissen Sie, er ist ja, mit Respekt zu sagen, ein herzensguter Mann und kann keiner Fliege ein Haar krümmen, aber er will von der richtigen Seite angefaßt sein. Ich bin mein Leben lang gut mit ihm ausgekommen, wenn wir auch manchmal einen Tag oder zwei miteinander getückscht haben. Aber ich denk', er weiß, was er an Ihnen hat, wenn Sie auch von Wernickes kommen. Von denen hat er Sie nämlich nie viel wissen wollen.«

»Kann ich mir denken, lieber Bölte«, sagte Hennig lachend.

Der Alte sann ein paar Augenblicke angestrengt nach. Man sah trotz der Dämmerung, die inzwischen hereingebrochen war, deutlich, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. »Was meinen Sie,« sagte er endlich, »soll ich vielleicht hingehen und Herrn Blumhardt so'n bißchen vorbereiten? Ich möchte Ihnen schon längst gern mal 'nen Gefallen tun, denn daß Sie mich alten Kerl mit übernommen und mir gleich so 'ne anständige Zulage gegeben haben, das vergeß ich Ihnen mein Lebtag nicht. Und ich mein': Eine Krähe wäscht die andere.«

»Sehr freundlich von Ihnen, mein guter Bölte!« erwiderte Hennig lächelnd, indem er der treuen Seele die Hand drückte. »Nehmen Sie's mir nicht übel, wenn ich von Ihrem Anerbieten keinen Gebrauch mache. Da ich aber ja Fräulein Hilde auf meiner Seite habe, glaube ich, mit Herrn Blumhardt schon fertig werden zu können.«

Bölte nickte. »Nu ja, Sie müssen's freilich selbst am besten wissen. Sonst, wie gesagt: wenn ich den ersten Sturm abhalten soll – Ihnen zu Gefallen will ich's gerne tun. Nun ist's aber schon recht finster geworden. Soll ich nicht lieber Licht machen?«

»Lassen Sie nur, Bölte! Wir gehen jetzt auch. Wir wollen nur noch abschließen.«

Gleich darauf verließen alle drei das Geschäft. Hennig hatte Hilde den Arm geboten und brachte sie unbekümmert um die erstaunten Blicke einiger seiner Bekannten, denen sie im Menschengewühl der inneren Stadt begegneten, bis an die Tür der väterlichen Wohnung.


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