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Achtes Kapitel

Der Hang, eine zwanglose Gastfreundschaft zu üben, konnte von jeher als ein bezeichnendes Merkmal der Blumhardts gelten. Früher, als noch das Patrizierhaus in der Erasmus-Reich-Straße gestanden hatte, pflegten sich die Vertrauten jeden Monat wenigstens einmal um den Abendtisch des Verlagsbuchhändlers zu versammeln, und wenn die Bewirtung auch immer durchaus bürgerlich-einfach gewesen war, so hatte Frau Agathe, die ewig kränkliche, die von ihrem Ruhebett aus ein wenig müde den Haushalt leitete, die durch diese Geselligkeit veranlaßte Belastung ihrer Wirtschaftskasse in den letzten Jahren doch mitunter etwas drückend empfunden. Ihr Mann vermochte eben nicht einzusehen, daß sich die Zeiten geändert hatten, daß alles teurer geworden war, und daß das jüngere Geschlecht auch anspruchsvoller auftrat und außer dem herkömmlichen Heringssalat zum mindesten eine warme Schüssel erwartete.

Die Übersiedlung in die räumlich weit beschränktere Geschoßwohnung in der Elsterstraße hatte manche Veränderung im Hauswesen und in der Lebensführung der Familie zur Folge gehabt und vor allem auch dem alten Brauche, jederzeit offene Tafel zu halten und in regelmäßigen Zwischenräumen größere Gesellschaften zu veranstalten, einen Riegel vorgeschoben. Da jede Bewirtung dieser Art gewisse Umräumungen in der Wohnung notwendig machte, so war es Blumhardt selbst, der die damit verbundene Beeinträchtigung seiner gewohnten Ruhe und Behaglichkeit als eine unliebsame Störung empfand, und der seiner Frau vorschlug, den Freunden in jedem Winter zweimal ein kleines Abendessen zu geben, im übrigen jedoch auf das Vergnügen, Gäste bei sich zu sehen, in Zukunft zu verzichten.

Ein solches Abendessen, das erste in diesem Winter, sollte heute stattfinden. Die Wohnung war, soweit sich dies unter Beihilfe des umsichtigen Bölte ermöglichen ließ, beinahe festlich hergerichtet worden. Man hatte, um für die Gäste Platz zu schaffen, Möbel verrückt oder in Nebengelassen untergebracht, und der Umstand, daß man Frau Agathens Harmonium, die Nähmaschine und ein überzähliges Sofa in die sehr schmale Schrankkammer gestellt hatte, bevor dem Wäschespinde das zu dem Mahle benötigte große Tafeltuch und die dazu gehörenden Servietten entnommen worden waren, hatte gleich nach diesem ersten Akt der häuslichen Revolution zu einer kleinen Gegenrevolution geführt. Durch Öffnung der Schiebetür zwischen Wohn- und Speisezimmer war ein Raum hergestellt worden, der es erlaubte, eine größere Tafel zu decken. Ganz einheitlich in seiner Ausstattung war der so entstandene Festsaal freilich nicht: auf der Wohnzimmerseite herrschte das Mahagoni der Blumhardts vor, während auf der Speisezimmerseite der Hausrat aus dunkelgebeiztem Eichenholz tonangebend war, den Frau Agathe aus ihrem Lübecker Elternhause mit in die Ehe gebracht hatte. Eine gewisse Einheitlichkeit ergab sich nur aus der Anhäufung von hunderterlei Kunstwerken und Familienreliquien, die sich, ehedem auf eine ganze Anzahl Räume verteilt, hier in wenige Zimmer zusammengedrängt fanden und die Geschichte des Hauses Blumhardt und seiner Beziehungen zur geistigen Welt überzeugend, wenn auch in etwas erdrückender Fülle, illustrierten. Daß hüben wie drüben ein Bücherschrank stand, war in diesem Dunstkreise selbstverständlich, aber auch schwere Ledermappen mit Kupferstichen und photographischen Ansichten bedeutender Werke der Baukunst fehlten nicht; an den Wänden hingen neben Familienbildnissen und Porträts bekannter Schriftsteller und Musiker Originalgemälde und Handzeichnungen von Tischbein, Graff, Preller, Johann Adam Klein und Rottmann und als einzige Zeugnisse des Kunstlebens der Gegenwart einige anspruchslos gerahmte Ölstudien der Tochter des Hauses. Ein guter Stich nach Guido Renis ›Aurora‹, der über dem Büfett prangte und ein Geschenk der Redaktionsmitglieder zu Blumhardts Hochzeit war, verband mit seiner Eigenschaft als Wandschmuck eine symbolische Bedeutung.

Die Gasflammen der beiden Kronleuchter brannten schon, und Hilde ging in einem schlichten Kleide aus leichter weißer Seide um den gedeckten und mit altertümlichem Meißner Porzellan besetzten Tisch, legte Kärtchen mit den Namen der Gäste auf die Weingläser und änderte hier und da ein wenig an der Anordnung der weißen und malvenfarbenen Chrysanthemen, die einzeln oder zu zweien in schlanken Kristallvasen über die Tafel verteilt waren.

Nebenan, in Frau Blumhardts Kemenate, die heute, obwohl ein schwacher Duft von Hoffmanns-Tropfen und ätherischem Baldrian ihre gewöhnliche Bestimmung als Krankenstube verriet, zum Empfangszimmer hergerichtet war, saß das Ehepaar in Erwartung der Geladenen: er, im schwarzen Bratenrock eine »Aurora«-Korrektur lesend, durchaus gelassen und von seiner Arbeit vollständig in Anspruch genommen, sie etwas erregt und ohne innern Anteil mit einem Buche beschäftigt. Es war eine Eigentümlichkeit von Frau Agathe, daß man ihr an Tagen, wo sie durch gesellschaftliche Verpflichtungen aus dem Einerlei ihres allzu sorgsam umhüteten Daseins herausgerappelt wurde, ihren leidenden Zustand nicht anmerkte. Sie hielt sich dann merkwürdig gerade, zeigte keine Spur von Mattigkeit, war eine aufmerksame Wirtin, beteiligte sich lebhaft und mit viel Mutterwitz an der Unterhaltung und klappte erst wieder zusammen, wenn das Stubenmädchen den letzten Gästen zur Haustür hinunterleuchtete.

Das Klingelzeichen, das in diesem Augenblick sehr laut durch die Wohnung schallte, und von dem man vermutete, daß es den immer sehr pünktlichen Professor Korte ankündige, übte auf jedes der drei Familienglieder eine besondere Wirkung aus. Der Vater fuhr ein wenig unwillig zusammen, denn er war gerade bei der letzten Korrekturfahne angelangt und hätte seine Arbeit vor dem Erscheinen der Freunde gern noch beendet; die Mutter legte ihr Buch aus der Hand, nahm die Haltung einer Königin an, die einer Huldigungsfeier entgegensieht, und gab ihrem noch immer anziehenden Gesicht den Ausdruck des durch Ergebung verklärten Leidens; die Tochter wandte sich einem der Bücherschränke zu, dessen Glastür zur Not als Spiegel dienen konnte, warf einen prüfenden Blick auf ihr etwas verschwommenes Bild und strich das volle dunkle Haar aus der Stirn, das sich nicht einmal dem sanften Zwang einer höchst kunstlosen Frisur fügen wollte.

Wer da geklingelt hatte, war jedoch weder Professor Korte noch einer der andern Gäste, sondern der Postbote, der einen mit der Siegelmarke des Auswärtigen Amts verschlossenen Eilbrief brachte. Blumhardt öffnete den Umschlag mit großer Gemütsruhe; er war daran gewöhnt, daß man ihm aus Berlin gelegentlich politische Mitteilungen zugehen ließ, die, entsprechend überarbeitet, in der unverfänglichen Form eines »Aurora«-Aufsatzes das Publikum aufklären und für gewisse, dem beschränkten Untertanenverstand nicht ohne weiteres einleuchtende Maßnahmen der äußeren Politik Stimmung machen sollten. Er las seine Korrektur zu Ende und vertiefte sich erst dann in die mit Maschinenschrift geschriebenen Blätter, die in der Hauptsache Andeutungen über die Umstände enthielten, durch die die deutsche Regierung veranlaßt wurde, die durch Unterzeichnung der Algecirasakte übernommenen Verpflichtungen mit peinlicher Gewissenhaftigkeit zu erfüllen, während die Franzosen, in der Auslegung der Abmachungen weniger bedenklich, ihre »friedliche Durchdringung« Marokkos zielbewußt fortsetzten und dabei den deutschen Handel, unbekümmert um die vereinbarte Gleichberechtigung der beiden Völker auf wirtschaftlichem Gebiet, rücksichtslos unterbanden. Es sollte nun, um die Stimmen der Unzufriedenen zum Schweigen zu bringen, die Nachricht verbreitet werden, daß der Vertrag, den eine deutsche Firma vor einigen Monaten mit der marokkanischen Regierung wegen des Hafenbaues von Larasch abgeschlossen habe, den deutschen Geschäftsleuten glänzende Aussichten für die Zukunft eröffne, und daß überdies unser neuer Gesandter die Bewilligung der deutschen Forderungen durch die Regierung des Sultans mit großem Nachdruck betreiben werde.

Blumhardt, der in politischen Dingen keineswegs sehr weitblickend war, allerdings auch keinen Anspruch darauf erhob, dafür gehalten zu werden, pflegte sich über derartige Winke von oben jederzeit zu freuen, weil sie von einer Seite kamen, die ihm allein befähigt schien, die Lage zu beurteilen. Seine einzige Sorge war immer, daß der Bearbeiter solcher Unterlagen in seinen Ausführungen alles vermied, was die Herkunft dieser Aufklärungen aus einem Regierungsamte hätte verraten können, und daß ein gefälliger, von allem Aktendeutsch freier Stil bei den Lesern die Überzeugung entstehen ließ, die politische Weisheit, die ihnen da unterbreitet wurde, sei im Schoße der »Aurora«-Redaktion gezeitigt worden. Wenn er auch durch und durch konservativ war, so erlaubten ihm sein stark entwickeltes Selbstgefühl und sein Unabhängigkeitssinn doch nicht, seiner Wochenschrift einen amtlichen oder auch nur halbamtlichen Charakter zuzugestehen.

Er war mit dem ihm zur Verfügung gestellten Material zu einem Artikel über die Lage in Marokko so lebhaft beschäftigt, daß er ein zweites Klingelzeichen überhörte und sehr erstaunt aufsah, als der erste Gast, ein junger Theologe aus Lübeck, der sich, wenn er zum Essen eingeladen war, nie an das akademische Viertel band, plötzlich ein wenig ungelenk vor ihm herumdienerte. Er begrüßte ihn ziemlich zerstreut, erkundigte sich ohne wärmeren Anteil nach dem Befinden seiner Eltern und überließ ihn dann der Gattin, die als religiös gesinnte Frau eine kleine Schwäche für Studenten der Gottesgelahrtheit hatte, besonders wenn sie aus ihrer Vaterstadt stammten und von gemeinsamen Bekannten erzählen konnten.

Bald darauf erschienen zugleich Oberstudienrat Sintrop und Professor Korte. Blumhardt besprach mit ihnen den Marokkoaufsatz, den Sintrop noch bis zum nächsten Abend zu liefern sich verpflichtete. Da er aber selbst die Ereignisse genau verfolgt hatte und die Lage durchaus nicht in dem rosigen Lichte der Regierung sah, kam es zwischen ihm und dem Gastgeber zu lebhaften Auseinandersetzungen, bei denen Korte, in diesem Falle durch Sachkenntnis nicht beeinflußt, in seiner etwas burschikosen Art zu vermitteln suchte, was aber nur zur Folge hatte, daß sich beide Parteien gegen ihn wandten.

Nach und nach stellten sich die übrigen Gäste ein: Schröter, Professor Rasch, zwei junge Schauspieler, ein paar Literaten und zuletzt Kurt Arnold Schlick, der sich heute einmal ohne den sonst unvermeidlichen Lodenmantel zeigte und in einem ziemlich neu aussehenden, allerdings etwas kurzärmligen schwarzen Gehrock eine ganz erträgliche Figur machte.

Frau Blumhardts Bemühungen war es zu verhindern geglückt, daß sich das gesellige Beisammensein in eine regelrechte Redaktionssitzung verwandelte, aber nun drohte dem kleinen Kreise eine neue Gefahr: Schlick hatte alle Taschen voll Besprechungen seines vor etwa sechs Wochen erschienenen »König Laurin« und verriet ganz unverkennbar die Absicht, der Versammlung eine Blütenlese daraus zum besten zu geben. Wiederum war es die Geistesgegenwart der Hausfrau, die das heranziehende Unheil beschwor, indem sie gerade in dem Augenblick, wo der in allen Himmeln schwebende junge Autor die »Vossische« entfaltete, mit dem erlösenden Worte, die Suppe werde gleich aufgetragen, die Tür zum »Festsaal« öffnete.

Sintrop, der älteste der Geladenen, bot Frau Agathe mit altmodischer Galanterie den Arm, um sie zu ihrem Platze zu führen, während der Theologe, dem Beispiel des alten Herrn folgend, sich etwas zaghaft an die Tochter des Hauses heranmachte, die ihm bereits angedeutet hatte, daß er ihr Tischnachbar sein werde.

Schon bei der Suppe erhob sich der Gastgeber und hieß die Freunde in einer recht witzigen gebundenen Ansprache willkommen. Er hatte in jüngeren Jahren unter einem Decknamen ein Bändchen Gedichte veröffentlicht, an das er nicht gern erinnert werden mochte, aber die Fähigkeit, ungewöhnliche Reime zu finden und dem Vers eine verblüffende Spitze zu geben, war ihm geblieben und trug ihm in geselligen Kreisen manche Anerkennung ein. Der Oberstudienrat jedoch, der aus dem Stegreif zu dichten verstand, und der Blumhardts kleine Anzüglichkeiten mit vergnügtem Schmunzeln angehört hatte, klopfte, noch ehe der zweite Gang aufgetragen wurde, an sein Glas, ließ den Blick verheißungsvoll über die Tafelrunde schweifen und antwortete mit einem Poem, worin er ein Charakterbild des Freundes entwarf, seine Eigenheiten mit ergötzlicher Übertreibung schilderte und ihm seine Xenien doppelt und dreifach heimzahlte. Sogar Herrn Waldemars Vergangenheit als Lyriker zog er schonungslos ans Licht, und zwar mit den gewagten Versen:

Euterpe selbst, die freundlichste der Musen,
Sie drückte ihn an ihren Omnibusen,
Und sieben Ballen künden bis zur Stunde
Das Resultat aus diesem Herzensbunde.

Dieser Sängerkrieg versetzte die Gesellschaft sofort in die rechte Stimmung, und wenn natürlich zunächst auch noch die »Aurora« den Hauptgesprächsstoff lieferte, so sorgten doch schon die jungen Leute dafür, daß auch andere Gegenstände zu ihrem Rechte kamen. Der Lübecker Studiosus, der sich mit Eifer auf dem Gebiete der Patristik betätigte und nun zu seiner größten Genugtuung bemerkte, daß seine Tischdame eine ebenso aufmerksame wie geduldige Zuhörerin war, hielt Hilde einen Vortrag über den Kirchenvater Chrysostomos; Korte, der Germanist, machte die jungen Mimen mit Christopher Marlowe, dem bedeutendsten Vorläufer Shakespeares, bekannt; Frau Agathe, deren Großvater im tollen Jahr als Abgeordneter in der Frankfurter Paulskirche gesessen hatte, ließ sich von Sintrop über den Verlauf der Nationalversammlung belehren; Professor Rasch, der Geograph, schilderte den Literaten seine Ätnabesteigung, und Blumhardt selbst gab Schröter seine persönlichen Erinnerungen an Heinrich Laube zum besten. Es war ein lustiges Durcheinander, ein geistiges Seitenstück zu dem berühmten Heringssalat, der bei festlichen Veranstaltungen im Blumhardtschen Hause von jeher als Hauptschüssel die Tafel zierte.

Kurt Arnold Schlick hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, doch noch ein paar Kern- und Kraftstellen aus den Besprechungen seines »König Laurin« vorlesen zu können. Er wartete nur auf den Augenblick, wo die bekannte plötzliche Stille, die sich auch in der lebhaftesten Unterhaltung einzustellen pflegt, ihm Gelegenheit bieten sollte, zu Wort zu kommen, aber er mußte lange vergebens warten und beschäftigte sich inzwischen damit, als Simultanzuhörer den Gedankengängen der ganzen Tafelrunde zu folgen. Und da er immer darauf ausging, bei allem, was er sah und hörte, Studien zu machen, die sich bei späteren Arbeiten verwerten ließen, notierte er als ein Kostpröbchen der Verhandlungen dieser speisenden Akademie mit Kurzschrift folgendes Gesprächskunterbunt auf seine linke Manschette: »Seine Ausfälle gegen die Kaiserin Eudoxia, die allerdings keine sehr tugendhafte Dame gewesen zu sein scheint, zogen ihm die Feindschaft der Hofpartei und der Bischöfe zu, und so wurde er abgesetzt und vom Kaiser in die Verbannung geschickt.« »Er gehörte eben zu den Leuten, die immer mit dem Kopf durch die Wand wollen, und wenn ihm hier in Leipzig Behörden, Kritik und Publikum das Leben schwer machten, so lag das eben nicht zum wenigsten an der Rücksichtslosigkeit, mit der er seine Theaterreform durchzuführen versuchte. Mein Vater und ich trafen ihn einmal im Schweizerhäuschen, wo er sich sehr aufgebracht darüber äußerte, daß man ihm hier noch mehr Knüppel zwischen die Beine werfe als in Wien.« »Von da bis zur Casa del Bosco brauchten wir drei Stunden, passierten die letzte Kastanienpflanzung und ritten dann zwischen erloschenen kleineren Kratern zur Regione deserta empor, wo sich nur noch kümmerliche Spuren vegetabilischen Lebens zeigen. Zur Rechten hatten wir den schroffen Grat der Serra del Solfizio, der nach Norden zu beinahe senkrecht in die etwa tausend Meter tiefe Valle del Bove abfällt. Hier saß im Schutz eines alten Lavawalles ein Engländer, der die Tour ohne Führer gemacht hatte und sich darüber wunderte, daß das Teewasser, das er über einer Hartspiritusflamme zu kochen gedachte, in der dünnen Luft nicht zum Wallen kommen wollte.« »Ja, meine Herren, dieser Mann, der noch durchaus in den Anschauungen der Renaissance wurzelte, ist der eigentliche Entdecker des Übermenschen und hat mit der realistischen Behandlung tragisch angelegter Charaktere den stärksten Einfluß auf seinen Landsmann Shakespeare ausgeübt.« »Ihr Unglück war nur, daß sie sich in endlose Debatten über die Grundrechte des deutschen Volkes verloren, bevor sie überhaupt an die Beratung der Verfassung gingen. Trotzdem wollten sie Regierungsfunktionen ausüben und auch dem Auslande gegenüber als höchste politische Instanz gelten. Vielleicht war die Wahl des Erzherzogs Johann von Österreich zum Reichsverweser schon ein Mißgriff.« »Das Volk nannte ihn seiner Mildtätigkeit halber ›Johannes den Almosenspender‹, und der Name Chrysostomos, der soviel wie ›Goldmund‹ bedeutet, wurde ihm wegen seiner Beredsamkeit erst in viel späterer Zeit beigelegt.«

So ging es noch eine geraume Weile fort, dann aber trat wirklich der Augenblick ein, wo die Themen Chrysostomos, Marlowe, Laube, Ätna und Nationalversammlung wie mit einem Schlage erschöpft zu sein schienen, und wo in dem kleinen Kreise eine solche Stille herrschte, daß man das müde Ticken der altertümlichen Pendeluhr vernehmen konnte.

Schlick ließ seine linke Manschette blitzschnell im Ärmel verschwinden und wandte sich mit der Frage an die Korona, ob jemand von den Herrschaften zufällig wisse, wer in der »Vossischen Zeitung« unter der Chiffre »E. M.« Bücher bespreche. Das wußte natürlich niemand, und so durfte der junge Autor mit um so größerer Entschiedenheit die Behauptung aufstellen, daß dieser E. M. der einzige Kritiker sei, der den tieferen Sinn seines »König Laurin« vollständig erfaßt habe. Nur ein Mensch, der selbst über die stärkste dichterische Empfindung verfüge, vermöge eine solche Rezension zu schreiben. Hier entfaltete er das Zeitungsblatt und las, unbekümmert um die entsetzten Blicke der ganzen Tafelrunde, die ziemlich lange und selbstverständlich auch recht schmeichelhafte Besprechung von der ersten bis zur letzten Zeile vor. Dabei griff er schon wieder in die rechte Brusttasche seines Rockes, aber der Gastgeber, der die bedrohliche Bewegung bemerkt hatte, kam dem Anschlag auf die Geduld seiner Freunde mit bewundernswerter Geistesgegenwart zuvor, indem er Schlick fragte, ob er sich schon mit dem Plane zu einer neuen Arbeit beschäftigt habe.

Der Schriftsteller, der aller Augen auf sich gerichtet sah, errötete wie ein junges Mädchen. Er gestand, daß er längst an einem zweiten Roman arbeite, der im Entwurf schon fertig vorliege, und mit dessen Niederschrift er in den nächsten Wochen zu beginnen gedenke. Und da er bereits die Erfahrung gemacht hatte, daß dem Dichter nichts zu größerer Klarheit über seine Absichten verhilft, als die Gelegenheit, irgendeinem beliebigen Hörerkreise den Plan zu einer Arbeit zu entwickeln, so begann er, erst andeutungsweise, dann immer ausführlicher auf den Grundgedanken und die Einzelheiten eingehend, sich über den Inhalt seines Romans zu verbreiten. Von der Aufmerksamkeit der Tafelrunde, die von seinen in der Tat eigenartigen Ideen sofort gefesselt wurde, nicht weniger hingerissen als von dem Klange der eigenen Worte, vergaß er in diesem Augenblick des Glücks vollkommen, daß er sein neues Buch ja schon so halb und halb der Firma Wernicke und Kompanie versprochen hatte, von der er, was allerdings noch als tiefes Geheimnis behandelt werden mußte, zum 1. Januar als Herausgeber des »Phöbus« und der »Phöbus-Bücherei« verpflichtet worden war. Er hätte an diese Verbindung vielleicht auch gar nicht weiter gedacht, wenn Blumhardt sich nicht nach dem voraussichtlichen Umfang des Buches erkundigt und damit den Boden des Geschäftlichen betreten hätte. Da kam dem jungen Schwärmer zum Bewußtsein, daß er sich gründlich vergaloppiert hatte, und um nun seinen Mißgriff wieder gutzumachen, versuchte er, den im Werden begriffenen Roman in den Augen des alten Herrn dadurch herabzusetzen, daß er auf die durchaus neuzeitliche Tendenz der Arbeit hinwies, von der er fürchten müsse, sie entspreche ganz und gar nicht der Richtung des Verlages.

Da war es Hilde, die zur Überraschung der Eltern mit großem Eifer die Ansicht vertrat, daß es nur vorteilhaft sein könne, wenn die Firma Blumhardt mit ihren alten, ein wenig engherzigen Überlieferungen endlich breche und den Anschauungen und Bedürfnissen der Gegenwart einige Zugeständnisse mache. Dem stimmten auch Professor Korte und Schröter bei, und so sah sich Schlick, der keinen andern Ausweg wußte, genötigt, ernstliche Zweifel daran zu äußern, daß es ihm überhaupt gelingen werde, den Stoff in befriedigender Weise zu meistern und ein künstlerisch abgerundetes Werk zustande zu bringen.

Aber Blumhardt, der Sanguiniker, der dem Verfasser des »König Laurin« keine neumodischen Übertriebenheiten zutraute und dessen Zweifel an seiner Gestaltungskraft für das untrügliche Kennzeichen des begnadeten Dichters hielt, war nach diesen Auseinandersetzungen mehr als je davon überzeugt, daß Kurt Arnold Schlick in nicht zu ferner Zeit das beste Pferd in seinem Stall sein werde.

Und als nun Hilde mit dem Zigarrenkistchen um den Tisch ging, schlich sich der weißhaarige Jüngling zu einem der beiden Bücherschränke, suchte eine in blaues Packpapier eingewickelte lange Rolle hervor und breitete, sich in liebevoll eingehende Erläuterungen verlierend, vor den ein bißchen ironisch lächelnden Freunden die Pläne zu der Villa aus, in der er procul negotiis seinen Lebensabend zu verbringen gedachte.


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