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Zwölftes Kapitel

Kantate, der große Fest- und Erntetag der Buchhändler, der alljährlich die Mehrzahl der im »Börsenverein« zusammengeschlossenen Berufsgenossen aus Nord und Süd, aus Ost und West zur Abrechnung und zu wichtigen Beratungen über gemeinsame Angelegenheiten nach Leipzig führt, ihnen aber auch nach sauren Arbeitswochen frohe Stunden der Geselligkeit beschert, war gekommen.

Der östliche Stadtteil hatte sein Festgewand angelegt: von den Geschäftspalästen der großen Leipziger Firmen grüßten Fahnen die fremden Gäste, und vor allem das Deutsche Buchhändlerhaus prangte im Schmucke der Flaggen der Bundesstaaten und der übrigen Länder, in denen der deutsche Buchhandel Fuß gefaßt hat.

Heute, am Montag vormittag, wo hier die Kommissionäre die Jahreszahlungen ihrer Sortimenterkommittenten an die Leipziger und an einen großen Teil der auswärtigen Verleger leisteten, glich der vielgiebelige Bau, der in der Formensprache der deutschen Frührenaissance an die Zeit gemahnt, da Gutenbergs weltbewegende Erfindung ihren Siegeszug antrat, einem Bienenhause. Der große Festsaal mit seinen farbigen Glasfenstern, den Decken- und Wandgemälden und den Bildnissen berühmter Buchhändler war heute öde und leer, und nur der Dunst von kaltem Tabakrauch und dem verflüchtigten Geiste des edlen Weines zeugte davon, daß hier an den langen Tafeln am gestrigen Sonntag das große Festmahl stattgefunden hatte.

Dafür waren die Nebensäle um so belebter. Um die durch Firmenschilder kenntlich gemachten Zahltische der Kommissionäre drängten sich die Bevorzugten, die heute ihren Beutel füllen durften, und ganze Berge von Bargeld wechselten ihren Besitzer. Freilich, bei weitem nicht alle, die die Früchte ihrer Jahresarbeit zu ernten gekommen waren, sahen zufrieden aus: für viele brachte die große Abrechnung auch eine Enttäuschung. Aber das schien die gehobene Stimmung, die unter den Kommenden und Gehenden herrschte, nicht sonderlich zu beeinträchtigen: wer keine Veranlassung hatte, heiter zu sein, behalf sich mit einer entsprechenden Dosis Galgenhumor, schimpfte zwar weidlich auf den Sortimentsbuchhandel, der wieder einmal versagt habe, oder auf das liebe Publikum, das nur den Schund kaufe und für wirklich gute Bücher kein Verständnis zeige, tröstete sich jedoch mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft und beschloß, einstweilen alle Sorgen zu vergessen und sich den vom Festausschuß für den heutigen Abend in Aussicht gestellten Genüssen mit ganzer Seele hinzugeben.

Vorher gab es freilich noch mancherlei zu erledigen. In den Versammlungsräumen tagten alle möglichen Ausschüsse von Berufsvereinigungen; Geschäftsfreunde warteten darauf, daß man ihnen in ihrem Kontor einen Besuch mache; mit Bekannten von auswärts hatte man Besprechungen in den Gasthöfen verabredet; im Vorbeigehen wollte man noch mit einer Druckerei, Buchbinderei oder Kunstanstalt Vereinbarungen treffen, und schließlich hielt man sich auch für verpflichtet, einen Blick in die im Buchgewerbehaus eröffnete Ausstellung zu werfen. Zur Ausführung von so vielen Vorsätzen schien die verfügbare Zeit kaum auszureichen, denn Punkt zwei Uhr mußte man zum Mittagessen bei seinem Kommissionär antreten, das sich bis zu der Stunde auszudehnen pflegte, wo die vom Börsenverein gebotenen heiteren Veranstaltungen ihren Anfang nahmen.

Unter diesen Umständen beschränkten sich die meisten, die bei der Abrechnung einander begegneten, auf ein paar eilige Worte der Begrüßung, und auch da, wo sich Gruppen bildeten, verriet die Unterhaltung eine seltsame Hast. Man sprach über die Beschlüsse der Hauptversammlung, die der schon lang geplanten Reform des Börsenblattes und dem Erweiterungsbau des Buchhändlerhauses zugestimmt und den lebhaftesten Meinungsaustausch über die in Aussicht genommene Deutsche Reichsbibliothek und das unerschöpfliche Thema »Schmutz- und Schundliteratur« gezeitigt hatte, und drückte seine Befriedigung über die Wiederwahl des Ersten Vorsitzenden aus, der die Zügel der Regierung des Börsenvereins mit so fester Hand führe und redlich bestrebt sei, den alten Gegensatz zwischen Verlag und Sortiment zu beseitigen. Dabei klangen so ziemlich alle deutschen Zungen lustig durcheinander: das gutmütig-schnodderige Geschwafel des Berliners, der scharfe Dialekt des Schlesiers und der weiche des Sachsen, die rauhen Kehltöne des Schweizers, der Sprachsingsang des Rheinländers, das harte Stakkato des Balten, die behagliche Mundart des Schwaben, das korrekte Deutsch des Hamburgers, die kräftigen Naturlaute des Bayern und das liebenswürdige Geplausch des Österreichers. Und immer wieder hörte man die Frage variieren. »Wo sind Sie denn gestern abend gelandet, Herr Kollege? Wir sprachen uns ja im Ratskeller, und bei Aeckerlein sah ich Sie auch noch, aber dann waren Sie doch wohl plötzlich verschwunden?« worauf gewöhnlich eine Antwort erfolgte, die so ähnlich lautete wie: »Ich hatte noch eine Verabredung in Auerbachs Keller. Von da gingen wir in den Sachsenhof, und dann sind wir, glaube ich, ins Café Bauer gezogen. Aber das will ich nicht so ganz bestimmt behaupten; es kann auch ein anderes Lokal gewesen sein.«

Natürlich tauschte man auch flüchtige Bemerkungen über Berufsgenossen aus, die gerade vorübergingen, und dazu schien keiner mehr Gelegenheit zu bieten als Konsul Wernicke, der in Begleitung seines zwerghaften Bruders mit dem Auto vorgefahren war und sich zu dem mit Banknotenstößen und Geldrollen bedeckten Tische begab, an dem Herr Blau, der Prokurist des Kommissionsgeschäftes unterstützt von zwei Gehilfen, die Saldi an die Verleger auszahlte und die an den eigenen Verlag gezahlten einkassierte. Man beobachtete mit stillem Neid, wie die beiden Herren sich einen bedeutenden Betrag, den der Prokurist schon abgezählt beiseite gelegt hatte, aushändigen und in einem Leinwandbeutel durch einen der Angestellten zum Auto tragen ließen, worauf sie, ohne mit irgend jemand ein Wort zu wechseln, zur Kreditanstalt davonfuhren. Ja, an der »Phöbus-Bücherei« wurde ein schweres Geld verdient, das konnte man schon an dem gewichtigen Sack erkennen, und dabei wußte man, daß die Haupteinnahmen noch dazu durch die Barbestellungen einkamen! Ja ja, wer wie Wernicke literarische Fabrikware in Massenauflagen erzeugte und wacker die Reklametrommel rührte, der machte eben das Geschäft, und die anderen, die noch der Ansicht huldigten, daß man dem bücherkaufenden Publikum nur das Beste bieten dürfe, waren lächerliche Ideologen, denen kein Gott mehr helfen konnte!

Und doch, und doch: so mancher, der draußen vor dem Portal des Buchhändlerhauses dem die Hospitalstraße hinunterschnaubenden Auto nachschaute, fühlte sich bei dem Gedanken gehoben, daß er zwar ohne einen schweren Beutel, dafür aber mit dem Bewußtsein heimkehren werde, nie ein Buch gegen seine bessere Überzeugung verlegt, nie seine Seele dem schnöden Mammon verkauft zu haben!

Nur zwei kleine Verlegerkommittenten des Hauses Wernicke, Herr Stanislaus Wasianski aus Krotoschin, der polnische Gebetbücher druckte, und Herr Aloys Kandelhuber aus St. Pölten, dessen Hauptverlagsartikel Holzberechnungstabellen waren, hatten mit Blicken ehrfurchtsvoller Bewunderung den erfolggekrönten Mann an sich vorübergehen lassen. Für ihren Neid wie für ihre Kritik stand er zu hoch, und was sie in diesem Augenblick empfanden, war nichts als das Glücksgefühl, mit diesem Krösus geschäftlich verbunden zu sein und sich in seinem Glanze sonnen zu dürfen. Und deshalb fragte Herr Kandelhuber den Kollegen aus der Provinz Posen bei der Verabschiedung so laut, daß es alle Umstehenden hören mußten, ob man sich beim Wernickeschen Kommittentenessen treffen werde, was Herr Wasianski natürlich mit demselben Stimmaufwand bejahte.

Und als sie dann, festlich befrackt, zwei Stunden später im Empfangssalon der Villa einander wieder begegneten, wo der Konsul und seine Gattin die Gäste mit bezaubernder Verbindlichkeit bewillkommneten, da wußten beide, daß der Glanz- und Höhepunkt der Kantatefeier jetzt erst für sie gekommen sei, und sie fühlten sich als gleichberechtigte Mitglieder einer Gemeinschaft, die nur durch die Arbeit an den höchsten Kulturaufgaben und – woran man jedoch nicht gern erinnert sein wollte – durch das Debet im Hauptbuche der Firma Wernicke und Kompanie zusammengehalten wurde. Das heißt, als so ganz gleichberechtigt mit ihnen konnten sie manche der Kollegen, die hier, zu Gruppen vereint, in lebhafter Unterhaltung beisammenstanden und auf das Signal zum Beginn der Tafelfreuden warteten, doch nicht betrachten, denn sie selbst waren ja Verleger, und unter den Anwesenden gab es auch viele Sortimenter, die in der Wertschätzung der Herren Kandelhuber und Wasianski eine Stufe tiefer standen, wenigstens wenn sie so kleine Hinterwäldler waren wie Herr August Ebersberger aus Klein-Krähenwalde, der sich, von der kalten Pracht des Wernickeschen Heims geblendet, schüchtern in einen Winkel drückte und den aussichtslosen Versuch unternahm, seine Hände in den von seiner Frau geborgten weißen Handschuhen unterzubringen. Kein Wunder, daß der Herr aus Krotoschin dem Berufsgenossen aus St. Pölten gegenüber lieblose Bemerkungen über Leute machte, die nur zur Messe kämen, um ihre Kommissionsspesen »wiederherauszufressen«!

Aber dem klugen Konsul kam es heute nicht nur darauf an, eine Schar von Leuten, die mehr oder weniger von ihm abhängig waren, durch die Ehrungen einer großartigen Gastfreundschaft noch fester an sich zu ketten: er beabsichtigte auch, aufs neue für sein weltbewegendes Verlagsunternehmen Stimmung zu machen, und deshalb war ihm der kleinste Wald- und Wiesensortimenter an seiner Tafel lieber als die titel- und ordengeschmückten großen Verleger, von denen er ganz genau wußte, daß sie über seine Zwei-Mark-Bände die Nase rümpften. In weiser Voraussicht hatte er unter seine buchhändlerischen Geschäftsfreunde auch ein halbes Dutzend maßgebender Persönlichkeiten aus der literarischen Welt verteilt, Männer, die ihm verpflichtet waren, und bei denen er darauf rechnen konnte, daß sie im gegebenen Augenblick den Ruhm seines Verlages sehr vernehmlich verkünden würden. Und so sah es beinahe wie ein abgekartetes Spiel aus, als sich gleich nach der Begrüßungsrede des Gastgebers Doktor Köttwitz, der Erste Vorsitzende der Deutschen Zentralstelle für Volksbildung, erhob und in hohen Tönen ein Loblied auf den Verleger Wernicke anstimmte, der an »Großzügigkeit« nicht hinter dem Kommissionär Wernicke zurückstehe. Wie dieser die Elite des Buchhandels um sein Panier geschart habe – hier lächelten sämtliche Kommittenten geschmeichelt! – und – das sei ihm erst eben wieder von einem Kommittenten versichert worden – kein Opfer scheue, um den mannigfachen Wünschen seiner Klienten gerecht zu werden, so sei es jenem gelungen, die besten Autoren der Gegenwart in seiner einzig dastehenden »Phöbus-Bücherei« zu vereinigen. Und da er in der richtigen Erkenntnis, daß man das Gute mit allen Mitteln fördern müsse, durch seine nie ermüdende Werbearbeit für die schmucken und inhaltlich gediegenen Bände den Sortimentsbuchhandel in seinen Bemühungen um die Verbreitung guter Literatur – hier lächelten die Sortimenter geschmeichelt! – wirksam unterstütze und das deutsche Publikum zu einem geläuterten Geschmack erziehe, so gebühre ihm der Ehrentitel eines neuen Praeceptor Germaniae.

Man stimmte in das auf den Gastgeber ausgebrachte Hoch teils aus Überzeugung, teils aus purer Höflichkeit gegen den Gefeierten ein, aber es gab an der langen Tafel manche, die sich dabei einen kleinen Zwang antun mußten. Zu diesen gehörte auch Herr Waldemar Blumhardt, der als Mieter und Nachbar alljährlich zum Wernickeschen Kommittentenessen gebeten wurde, auch immer hinging, sich aber hinterher jedesmal vornahm, im nächsten Jahr die Einladung dankend abzulehnen. Sein ohnehin etwas gespanntes Verhältnis zum Konsul, dem er nicht recht verzeihen konnte, daß er ihn durch den Ankauf des den Blumhardtschen Erben gehörenden Grundstücks um das vornehm-bescheidene Heim und den alten Garten gebracht hatte, war seit dem Erscheinen der »Phöbus-Bücherei« nicht besser geworden, und so kam er sich im Kreise von Wernickes Getreuen diesmal überflüssiger als je vor.

Ein weiterer Mißvergnügter war Kurt Arnold Schlick. Er hielt sich mit Recht für den geistigen Leiter des Unternehmens; ihm war es gelungen, eine wirklich sehr stattliche Anzahl von namhaften Mitarbeitern heranzuziehen, wobei allerdings das von Wernicke bewilligte hohe Honorar eine mindestens ebenso überzeugende Werbekraft haben mochte wie das von Schlick entworfene Anschreiben; er beschäftigte sich Tag und Nacht mit der Erfindung wirksamer Titel und schenkte den Autoren die herrlichsten Ideen, und dennoch hatte Doktor Köttwitz seiner mit keinem Worte gedacht! Er gönnte dem Konsul den finanziellen Erfolg von ganzem Herzen, aber es wurmte ihn, daß der Mann, der nie einen Blick in ein Manuskript warf, und der ihm die ganze redaktionelle Arbeit überließ, nicht nur als der Verleger, sondern auch als der Spiritus rector gefeiert wurde. Aber er schwieg zunächst dazu, beteiligte sich auch nicht an der Unterhaltung seiner Tischnachbarn und suchte seinen Groll im Saft der Reben zu ertränken.

Es war natürlich, daß die Trinksprüche, die hier ausgebracht wurden, die Erinnerung an die freilich weit bedeutsameren Tischreden weckten, die gestern beim großen Festmahl im Buchhändlerhause gehalten worden waren, von denen man jedoch bei der bekannten schlechten Akustik des schönen Saales nicht allzuviel verstanden hatte. Heute kannte man nun ihren Inhalt aus den stenographischen Berichten, und so wurden lebhafte Erörterungen darüber angestellt, besonders über die verheißungsvollen Worte des Oberbürgermeisters, aus denen die Bereitwilligkeit des Rates und der Stadtverordneten hervorging, dem Börsenverein ein Areal zur Errichtung der seit langem geplanten Deutschen Zentralbibliothek zur Verfügung zu stellen. Mit womöglich noch einhelligerem Behagen besprach man die »Rede« des Kollegen Otto Petters aus Heidelberg, bei der die Kunst der Stenographen versagen mußte, weil dieser erfindungsreiche Apostel der Wohltätigkeit sich bei seinem Werbeaufruf für die buchhändlerischen Hilfskassen auf ein die ganze Stufenleiter menschlicher Empfindungen von der tiefsten Verzweiflung bis zur höchsten Freude widerspiegelndes stummes Mienen- und Gebärdenspiel beschränkt hatte.

Wie Heldenruhm neue Helden weckt, so pflegt auch die Anerkennung, die ein Redner, und wäre es wie in diesem Falle auch nur ein stummer, findet, andere, sonst ganz harmlose Menschen zu Rednern zu machen. Es war also nicht weiter verwunderlich, daß mitten in die vielstimmige Unterhaltung hinein Herr Obermüller aus Neustadt an der Orla ans Glas klopfte und sich zu einem Trinkspruch erhob, worin er, angeblich im Namen der Wernickeschen Sortimenterkommittenten, den Gastgeber als das Ideal eines Kommissionärs feierte. Aber auch dieses Lob verwandelte sich schließlich wieder in einen Panegyrikus auf den Verleger Wernicke, von dem der Redner behauptete, daß er durch sein neues Unternehmen dem Sortimentsbuchhandel ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten eröffne und, weil er es verstanden habe, der »Phöbus«-Sammlung den Stempel seines erlesenen literarischen Geschmacks aufzudrücken, das Bildungsniveau des Publikums in erfreulicher Weise hebe. »Von wem könnten, meine Herren Spezialkollegen, die Interessen des Sortiments besser vertreten werden als von unserm verehrten Freunde, der kein Opfer scheut, um uns die Bücher zu liefern, nach denen unsere Kundschaft lechzt?« so etwa schloß er. »Lassen Sie uns bei jedem ›Phöbus‹-Band, den wir verkaufen, dankbar des großen Mannes gedenken, dessen Anregungen unsere schönwissenschaftliche Literatur so wunderbar befruchten, und dessen sorgfältig sichtende Hand uns die Gewähr dafür bietet, daß unter der Ägide seines Weltverlages nur Meisterwerke ans Licht treten!«

Herr Kurt Arnold Schlick, der schon in dem Zustande war, worin es ein deutscher Mann verschmäht, aus seinem Herzen eine Mördergrube zu machen, ließ einige halblaute Zwischenbemerkungen fallen, die seine Tischnachbarn mit Entsetzen erfüllten. Ein paar Besonnene, die um jeden Preis verhüten wollten, daß verletzte Eitelkeit die Stimmung des Festes trübe, und die zugleich das Bedürfnis empfanden, sich und den Umsitzenden über die peinlichste Verlegenheit hinwegzuhelfen, brachten etwas gewaltsam die für den Abend bevorstehenden geselligen Unterhaltungen aufs Tapet, einen Gegenstand, von dem sie erwarten zu dürfen glaubten, daß er wie kein anderer geeignet sei, beruhigend auf das erregte Gemüt des Redakteurs zu wirken. Einer von ihnen, der einem Mitgliede des Festausschusses nahestand, konnte den Schleier des Geheimnisses, der bis zur letzten Stunde über den humoristischen Veranstaltungen des Kantatemontags zu liegen pflegte, lüften und berichtete, ein vorzeitig erobertes Programm entfaltend, daß man Varietéaufführungen zu erwarten habe, die gleichzeitig auf den beiden Bühnen des Kristallpalastes stattfinden und natürlich eigens auf die buchhändlerischen Ereignisse des letzten Jahres zugeschnitten sein würden. Was er von den einzelnen Nummern mit ihren witzigen Anspielungen verriet, war für alle in die Verhältnisse Eingeweihten vielversprechend; Herr Schlick jedoch, der von den inneren Angelegenheiten des Buchhandels so gut wie nichts wußte und noch immer an seinem Ärger würgte, saß, kühl bis ans Herz hinan, dabei und hielt sich jetzt an den Markobrunner, da man ihm den Josephshöfer, dem er schon im Übermaß gehuldigt hatte, mit arger List vorenthielt.

Ein alter Herr drückte sein Bedauern darüber aus, daß man vom Festausschuß seit einigen Jahren nur noch Varieté- oder gar Zirkusvorstellungen geboten bekomme, während die Lustspiele und Possen aus dem Buchhandel, wie man sie früher immer genossen habe, doch viel unterhaltsamer gewesen wären. Aber da wurde ihm erwidert, für die Mehrzahl von Leuten, die vor der Vorstellung vier Stunden lang bei einem Kommittentenmahl gesessen hätten, wären die Stücke meist zu literarisch und deshalb nicht leichtverdaulich genug gewesen, ganz abgesehen davon, daß die Satire der bösen Festdramatiker nicht einmal vor einer so ehrenwerten Institution wie dem Akademischen Schutzverein haltgemacht habe.

Der alte Herr, der solche Bedenken nicht gelten lassen wollte, und der vor allem die Ansicht verfocht, daß gebildete Menschen einen in heiterm Kreise auf sie gemünzten Scherz niemals übelnehmen würden, wurde durch einen neuen Tafelredner unterbrochen. Es war Herr Robert Herzog – im Hause Wernicke etwas unpersönlich »Nummer 56« genannt –, der Verfasser der »Johannisnacht«, der seinen Ruhm dem Umstand verdankte, daß ihn die bücherkaufenden Zeitgenossen mit Rudolf Herzog verwechselten. Er fühlte sich gedrängt, auf das vorbildliche Verhältnis hinzuweisen, das zwischen dem Verleger und seinen Autoren bestehe, und rühmte mit rührender Unbefangenheit die ungemein taktvolle und durchaus individuelle Behandlung, die der Konsul jedem einzelnen der »Phöbus«-Mitarbeiter angedeihen lasse.

»So siehste aus!« rief plötzlich Schlick, der nicht mehr seiner Sinne Meister war, mit herausforderndem Lachen.

Der Redner überhörte geflissentlich den unparlamentarischen Zwischenruf und fuhr in seinem Loblied auf den großen Mann unbeirrt fort.

» Mundus vult decipi, ergo decipiatur!« zitierte der Redakteur mit erhobener Stimme.

»Für mich ist es jederzeit ein hoher Genuß, einen Brief unseres verehrten Gastgebers zu lesen,« versicherte Nummer 56 mit Nachdruck, »man merkt aus jeder Zeile, wie sehr ihm das Wohl der Schriftsteller am Herzen liegt.«

»Ausgeschlossen! Aus-ge-schlos-sen!« schrie Schlick. »Alles Stuß! Alles Schwindel! Wenn Sie nicht den Dusel hätten, jawohl den Du-sel, Herzog zu heißen, würde Ihnen der Konsul sagen: Rutschen Sie mir den Buckel, jawohl den Buk-kel he-run-ter!« Und sich mit einer Träne im glasigen Auge an den von diesem unerwünschten Zwischenfall höchst peinlich berührten Herrn Blumhardt wendend, der ihm schräg gegenübersaß, begann der Berauschte eine Jeremiade über seine Riesendummheit anzustimmen, die ihn dazu verführt habe, sich der elenden Bücherfabrik, in der niemand seine Leistungen zu würdigen wisse, mit Haut und Haaren zu verkaufen.

Weiter kam er jedoch nicht, obwohl er offenbar noch mancherlei auf dem Herzen hatte, denn ein paar entschlossene Männer faßten ihn unter die Arme und brachten ihn unter sanftem Zuspruch erst in den Wintergarten und dann an die frische Luft, worauf er in ein Auto gesetzt und unter der Obhut eines Lohndieners nach Hause befördert wurde.

Der Konsul aber erklärte milde, er habe den geistigen Kollaps des wackern Herrn längst erwartet, denn der bedauernswerte Mann sei hochgradig nervös und pflege sich trotz allen Abmahnungen in unverantwortlicher Weise zu überarbeiten.

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Währenddessen saß Hilde Blumhardt im Privatkontor ihres Vaters und bemühte sich, aus den Büchern einen Einblick in die Geschäftslage zu gewinnen. Hunger, der in ziemlich regelmäßigen Zwischenräumen von heftigen Ischiasanfällen heimgesucht wurde, fehlte wieder einmal, und so war das junge Mädchen heute völlig ungestört. Wenn Hilde es auch schon seit einiger Zeit durchgesetzt hatte, daß man sie nun auch buchhändlerische Arbeiten verrichten ließ, so wurde es ihr doch sehr schwer, sich in der Buchführung zurechtzufinden, besonders, da diese von dem alten Gehilfen in wenig übersichtlicher Weise gehandhabt wurde. Mit den Buchhändler-Rechnungskonten wußte sie ja einigermaßen Bescheid, aber um die Führung des Hauptkalkulationsbuches, der Verlagsskontri, des Autoren- und des Unkostenbuches hatte sie sich bisher ebensowenig gekümmert wie um die Abrechnung mit den Kommissionären, und sie mußte ihren ganzen Scharfsinn zusammennehmen, um die verworrenen Fäden zu entwirren, die sich von jedem der Geschäftsbücher zu den andern hinüberspannen.

Wenn sie über diese oder jene Frage Aufschluß brauchte, wandte sie sich an die jüngeren Gehilfen, merkte dabei jedoch nur zu bald, daß diese von dem, was sie zu wissen wünschte, kaum eine Ahnung hatten. Herr Seifert verschanzte sich hinter die Behauptung, der erste Gehilfe lasse grundsätzlich keinen andern an die Bücher heran, und Drillhose, dem Hildens Einmischung in diese Angelegenheiten unendlich komisch vorkam, äußerte sogar Zweifel daran, daß Hunger selbst auf Grund der Bücher genaue Auskunft erteilen könne.

Schließlich rief Hilde den alten Bölte herein, zu dem sie ein unbegrenztes Vertrauen hegte, und der in der Tat über den Geschäftsgang ganz leidlich unterrichtet war. Das Gespräch, das sie mit ihm führte, kam zufällig auch auf den entlassenen Markthelfer Richter, und so hatte der wackere Alte wieder einmal Gelegenheit, ein paar Pröbchen seiner goldenen Lebensweisheit zum besten zu geben. »Der Richter ist immer ein Duckmäuser gewesen,« erklärte er, »das können Sie schon daran erkennen, daß er in den sechs Jahren, wo er bei uns war, nicht ein einziges Mal mit dem Herrn Krach gehabt hat. Vor solchen Leuten soll man sich hüten. Wer ein Duckmäuser ist, der ist auch ein Mausehaken, das ist eine alte Geschichte. Wer weiß, wie lange der Richter schon in seine Tasche gewirtschaftet hat! Es fällt kein Laster vom Himmel, und früh krümmt sich, was ein Meister im Beschummeln werden will. Aber Segen ist bei so was nicht dabei, denn der Krug geht so lange zu Wasser, bis der Brunnen zugemacht wird, wie es ja auch in dem schönen Liede heißt: Üb' immer Treu' und Redlichkeit, bis du mausetot bist.«

»Sagen Sie, Herr Bölte, da finde ich eben eine unbezahlte Buchbinderrechnung über 3200 Leinenbände ›Meltzer, Sachsens Sagenwelt‹,« unterbrach das junge Mädchen den Redestrom des alten Angestellten. »Wie kommen wir dazu, von einem Buche, das seit Jahr und Tag kaum noch verlangt wird, den ganzen Auflagerest binden zu lassen?«

»Ja, Fräulein Hilde, das ist 'ne ganz eigentümliche Geschichte,« erwiderte der Markthelfer mit verlegenem Lächeln. »Wir haben die Bücher binden lassen müssen, weil Graupenbach sie broschiert nicht nehmen wollte. Die sind nämlich, mit Respekt zu sagen, verramscht worden.«

»Haben Sie eine Ahnung, was Graupenbach dafür bezahlt?«

»Zweiundnenhalben Neugroschen fürs Stück. Viel ist es ja nicht, aber man muß Gott für alles danken.«

»Fünfundzwanzig Pfennig für das Exemplar? Und da lassen wir sie vorher noch binden und zahlen für den Einband dreißig Pfennig? Wie ist das möglich? Da setzen wir ja am Einband allein jedesmal fünf Pfennig zu?«

»Nu eben, Fräulein! Das ist e ja gerade, bei jedem Stück legen wir 'nen Fünfer drauf. Aber von Graupenbach bekommen wir das Geld gleich herein, und die Buchbinderei brauchen wir erst in drei Monaten zu bezahlen. Sie müssen nämlich bedenken: am 1. April war Sie die Miete wieder mal fällig, und da wollten wir Wernickes doch nicht warten lassen. So was macht ja allemal einen dummen Eindruck. Nu, und weil's bis zur Kantateabrechnung noch fünf Wochen war, haben wir eben das Geschäft mit Graupenbach gemacht. Das ist nun mal nicht anders. Irgendwoher muß das Geld doch kommen.«

Hilde hatte zwar die dunkle Empfindung, als ob der alte Mann, der sich da etwas schwerfällig vor ihr hin und her bewegte und mit dem Zipfel seiner blauen Schürze gewohnheitsmäßig die geschnitzten Stuhllehnen abwischte, noch weiterrede, aber sie verstand von dem, was er sprach, kein Wort mehr. Erschüttert von ihrer schlimmen Entdeckung starrte sie wie geistesabwesend in den klaren Maiabend hinaus, und dabei blieb ihr Blick auf der Kastanie haften, die ihre in diesem Frühling völlig kahl gebliebenen Äste in stummer Klage zum blauen Himmel emporreckte, während auf dem von der scheidenden Sonne beschienenen First des Hintergebäudes eine Amsel fröhlich ihr Lied schmetterte.


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