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Drittes Kapitel

Man kann beleibt wie eine Tonne sein und doch den Familiennamen ›Hunger‹ führen. Das bewies der Erste Gehilfe des Blumhardtschen Verlags, ein alter Hagestolz, der in seinem Fett beinahe erstickte, trotz seiner Körperfülle aber von der Beweglichkeit eines Wiesels war und als geborener Nörgler mit allen übrigen Angestellten beständig auf Kriegsfuß lebte. Herr Waldemar Blumhardt bekümmerte sich um rein geschäftliche Dinge so gut wie nie, und so war es freilich nötig, daß der alte Gehilfe überall nach dem Rechten sah. Da er jedoch teils seiner die Spottlust des jüngeren Personals herausfordernden Erscheinung wegen, teils, weil sich seine Anordnungen und Rügen meist nur auf ganz nebensächliche Dinge erstreckten, und weil er selbst mit Vorliebe Arbeiten verrichtete, die eigentlich untergeordneten Kräften zukamen, so war es trotz seinem in sechsunddreißig Jahren bewährten Pflichteifer mit seiner Autorität nicht weit her. Man ließ ihn schelten und tat doch, was man wollte. Er war ein Buchhändler der alten Schule, hatte seine Vaterstadt nie verlassen und gab seiner Abneigung gegen alle geschäftlichen Neuerungen in sehr drastischer Weise Ausdruck.

Auch heute schnauzte er wieder nach seiner Gewohnheit umher, ärgerte sich über jede Fliege und suchte nach neuen Opfern seines Zorns. Und damit hatte er Glück, denn neben dem Pulte des Lehrlings entdeckte er auf dem ohnehin nicht sehr saubern Boden eine kleine Lache frischvergossener Tinte. »Wer hat denn die Schweinerei da wieder gemacht?« fragte er, den mutmaßlichen Übeltäter mit einem giftigen Blicke musternd.

Der Lehrling – er hieß von Krossentin und war der Sohn eines Reichsgerichtsrats – rutschte von seinem Drehschemel herab und betrachtete den blanken schwarzen Spiegel, als habe er von dessen Vorhandensein erst jetzt Kenntnis erhalten. »Das werde ich wohl gewesen sein, Herr Hunger. Aus dem Tintenkruge gießt sich's so schlecht«, sagte er.

»Na ja, hab' mir's schon denken können. Sie wollen die Blüte der Nation vorstellen und können nicht einmal Tinte umfüllen? Wenn man freilich nur Tanzstunden und solche Albernheiten im Kopf hat, dann ist man zu keiner ernsthaften Arbeit zu gebrauchen. Ich will Gott danken, wenn Sie erst ausgelernt haben und wir Sie wieder loswerden. Nun latschen Sie wenigstens nicht noch drin herum! Nehmen Sie eine Handvoll Makulatur und wischen Sie's auf!«

Der Lehrling knurrte etwas Unverständliches, holte verdrossen aus der unter seinem Pulte stehenden Kiste einen Bausch zerknüllten Papiers und schob ihn mit dem Fuße ein paarmal durch die Tinte hin und her, ein Reinigungsakt, der mehr symbolische Bedeutung hatte, trotzdem aber den dicken Herrn vollkommen zu befriedigen schien.

»Hat denn die Buchbinderei die dreihundert ›Erstarrte Seelen‹ in Halbfranz abgeliefert, Herr Seifert?« wandte sich Hunger jetzt an einen der jüngeren Gehilfen. Der Gefragte wußte es nicht, ging aufs Lager und kam mit dem Bescheide zurück, daß es nicht der Fall sei.

Hunger geriet ganz aus dem Häuschen. »Das ist ja eine unerhörte Bummelei!« rief er, so laut es ihm seine Kurzatmigkeit erlaubte. »Sie sollten die Bände doch schon vorige Woche reklamieren. Haben Sie denn das nicht getan?«

»Doch, Herr Hunger. Sie sollten am Dienstag abgeliefert werden.«

»Und heute haben wir schon Freitag! Mit wem haben Sie denn gesprochen?«

»Ich weiß es nicht. Ich war mit dem Kontor verbunden.«

»Sie sind also gar nicht selbst hinübergegangen?«

»Nein, Herr Hunger, ich habe telephoniert.«

»Telephoniert! Na ja, dann braucht man sich allerdings nicht zu wundern. Das verfluchte Telephon! Der alte Herr wußte schon, weshalb er nie was davon wissen wollte. Gleich gehen Sie einmal selbst hin und machen Dampf dahinter! Aber ein bißchen energisch, das bitte ich mir aus! Was nützen uns die schönen Bestellungen, wenn wir nicht liefern können?« Er war an sein eigenes Pult zurückgekehrt, blätterte in einem Päckchen unerledigter Korrespondenz und rief einen rothaarigen und sommersprossigen jungen Mann an, der auf der entgegengesetzten Seite des Kontors neben dem Tische von Fräulein Meta Scholz, der einzigen weiblichen Angestellten des Hauses, seinen Platz hatte. »Ach bitte, Herr Drillhose, was ist denn Gräfe in Hamburg geschrieben worden, der die zehn ›Goethe, Auswahl‹ umgetauscht haben wollte?«

Der Jüngling ließ einen Zettel, den er gerade eifrig mit kurzen Zeilen bekritzelte, in der Tasche verschwinden und wandte sich nach Hunger um. »Ich werde gleich einmal die Kopie heraussuchen«, erwiderte er.

»Kopie!« grollte es zurück. »Was man geschrieben hat, muß man doch auch so wissen. Aber Sie haben auch weiter nichts als Dummheiten im Kopf. Als ich in den Buchhandel kam, dachte noch niemand an Kopierbücher, geschweige an Durchschläge und solchen neumodischen Unfug. Damals hatten die jungen Leute allerdings auch noch Interesse am Geschäft. Jetzt weiß niemand mehr etwas, weil sich jeder auf die Durchschläge verläßt. Es ist ein wahres Elend.«

Die Tippdame, die sich mit den »jungen Leuten« solidarisch fühlte, und die wohl wußte, daß Hunger zu dem »neumodischen Unfug« auch sie und ihre Schreibmaschine rechnete, hatte einen Bogen eingespannt und klapperte, um den Dicken zu reizen, mit Feuereifer drauf los.

»Haben Sie denn immer noch zu schreiben, Fräulein?« schallte es aus dem Hintergrund. »Der ewige Spektakel macht mich ganz verrückt.«

Die Scholz, eine zierliche Brünette von koketter Aufmachung, lächelte halb gekränkt, halb triumphierend. »Ja, Herr Hunger, was soll ich nun eigentlich tun?« fragte sie. »Wenn ich schreibe, schimpfen Sie, und wenn ich nicht schreibe, schimpfen Sie erst recht.«

»Faulenzen sollen Sie natürlich nicht, aber Sie brauchen doch auch nicht so schauderhaft laut zu klappern.«

»Wollen Sie mir das nicht einmal vormachen, Herr Hunger? Denken Sie vielleicht, ich schlüge zu meinem Vergnügen auf die Tasten? Ich habe noch sechs Briefe für den Chef zu schreiben. Wenn Ihre schwachen Nerven das nicht vertragen, muß ich mich mit meiner Maschine eben ins Privatkontor setzen.«

»Da würde Sie Herr Blumhardt wohl bald wieder herausbefördern, Fräulein.«

»I bewahre! Der Chef ist ein sehr humaner Mann; der freut sich, wenn er mal jemand bei sich hat, der nicht so muffig aussieht wie gewisse andere Leute.«

»Werden Sie nicht unverschämt, Fräulein!«

»Unverschämt? Wieso? Fühlen Sie sich etwa getroffen?«

»Lassen Sie das Geschwätz! Arbeiten Sie, oder halten Sie wenigstens nicht andere von der Arbeit ab. Seit Sie bei uns sind, wird überhaupt nichts mehr getan.«

Fräulein Scholz brach in ein silberhelles Lachen aus. »Dafür kann ich doch nicht, Herr Hunger«, sagte sie. »Wenn Sie sich durch die Anwesenheit einer Dame von Ihrer Arbeit abhalten lassen, so ist das nur ein bedauerlicher Mangel an Beherrschung und gefestigtem Charakter.«

Das war für den Dicken zuviel. »Bilden Sie sich nur nichts ein, Fräulein!« rief er. »Sie bringen mich nicht aus der Fassung, und wenn Sie noch so schön nach Heliotrop riechen.«

»Bitte sehr, Herr Hunger, wonach ich rieche, geht Sie gar nichts an. Das ist eine reine Privatangelegenheit. Daß Sie auf weibliche Angestellte nicht gut zu sprechen sind, weiß ich längst, aber ich muß mir von Ihnen jede Kritik meiner Person verbitten.«

Drillhose, der bei Zwistigkeiten zwischen dem alten Gehilfen und Fräulein Scholz gewöhnlich das Bedürfnis empfand, sich zum Ritter der Tippdame aufzuwerfen, hustete bedeutsam und meinte, auf Hungers Frühstückspaket anspielend: »Heliotrop riecht immer noch besser als alter Käse.«

In der Regel pflegte Hunger, wenn er's mit zwei Gegnern zu tun hatte, schleunigst das Feld zu räumen, diesmal aber nahm er den ihm von dem sommersprossigen Jüngling hingeworfenen Handschuh auf.

»Bekümmern Sie sich lieber um Ihre Arbeit, Herr Drillhose, und liefern Sie nicht fortwährend Werke, die seit langem nur noch bar abgegeben werden, bedingungsweise aus!« sagte er. »Und das will ich Ihnen auch sagen: die Fakturen der Firma Friedrich Ambrosius Blumhardt sind nicht dazu da, von Ihnen mit miserabeln Versen vollgeschmiert zu werden.«

Der Gerügte lachte höhnisch auf. »Sollten Sie wirklich beurteilen können, ob Verse gut oder schlecht sind?« entgegnete er sehr von oben herab. »Sie haben sich doch in Ihrem ganzen Leben noch nicht mit literarischen Dingen abgegeben. Haben Sie überhaupt Sinn für Höheres? Bei Ihnen langes doch nur zum Doppelkopf.«

Jetzt hielt es der Dicke für geraten, sich auf's Lager zurückzuziehen, wo der größte Teil des Personals heute mit der Inventuraufnahme beschäftigt war. Seifert und der Lehrling folgten ihm.

Die beiden im Kontor Zurückgebliebenen benutzten den Umstand, daß sie jetzt ganz unter sich waren, zu einer gemeinsamen Herzenserleichterung, die für Hunger nicht allzu schmeichelhaft ausfiel. Sie verstummten erst, als Richter, der Zweite Markthelfer, der in dem Rufe stand, sich durch Angebereien bei Hunger lieb Kind zu machen, im Kontor erschien, mit neugierigen Blicken an den verlassenen Pulten vorbeistrich und sich schließlich über einen auf dem Platze des Ersten Gehilfen liegenden Stoß Verlangzettel hermachte.

»Sie wollen wohl Fakturen ausschreiben, Richter?« fragte Drillhose, der sich über den Schnüffler ärgerte.

»Ich denke gar nicht dran. Machen Sie Ihr Krämchen nur hübsch allein!« erwiderte der Mann, ohne sich bei der Durchsicht der Zettel stören zu fassen. »Ich will bloß sehen, was es heute zu packen gibt, damit ich mich mit meiner Arbeit einrichten kann. Wenn bei uns mal was Extraordinäres los ist wie so 'ne Inventuraufnahme, geht ja gleich alles drüber und drunter.«

Nach einer Weile verzog sich der Markthelfer wieder, und Drillhose und die Scholz setzten ihr Gespräch fort.

»Still! Der Alte telephoniert,« bemerkte der Gehilfe mit einem Blick auf die Tür des Privatkontors. »Können Sie verstehen, mit wem er spricht?«

Beide lauschten.

»Wohl mit der Druckerei?«

»Nein, mit dem Architekten«, entschied die Tippdame, die entweder ein schärferes Gehör hatte, oder im Lauschen geübter war.

»Mit dem Architekten?« Drillhosens Gesicht verklärte sich und bekam dadurch ein ganz annehmbares Aussehen. »Wahrhaftig, Sie haben recht, Fräulein Meta,« sagte er, jetzt dicht an der Tür stehend. »Es ist wieder von den Plänen zu einer Villa die Rede. Wissen Sie auch, was das bedeutet?«

»Daß der Chef wieder einmal große Hoffnungen auf ein neues Buch setzt. Das haben wir doch schon oft genug erlebt.«

»Stimmt! Aber wissen Sie auch, auf welches Buch?«

»Keine Ahnung!«

»Fräulein Meta, können Sie schweigen?«

»Selbstverständlich!«

»Ich möchte Ihnen nämlich etwas anvertrauen. Bisher habe ich noch mit keiner Menschenseele darüber gesprochen. Sie sollen die erste sein, die davon erfährt.«

»Schießen Sie los, Herr Drillhose! Haben Sie sich etwa verlobt?«

»Verlobt! Was Sie nur denken! Verloben setzt die Absicht des Heiratens voraus, und davor werde ich mich schön hüten. Ein Dichter soll sich unter kein Joch beugen, am allerwenigsten unter das der Ehe.«

»Na, was haben Sie denn sonst auf dem Herzen?«

»Sie entsinnen sich doch, daß ich einen Roman geschrieben habe?«

»So?«

»Das wissen Sie nicht mehr?«

»Ach ja, ich glaube, Sie sprachen schon einmal davon.«

»Ich habe Ihnen doch, als ich Sie am Kantatemontag vom Kristallpalast nach Hause begleitete, den ganzen Plan entwickelt.«

»Kann sein. Ich war damals ein bißchen abgespannt und habe nicht ganz aufmerksam zugehört. Wie hieß das Ding doch gleich?«

»›Titanensturz‹.«

»Richtig – ›Titanensturz‹! Jetzt kann ich mich so dunkel wieder darauf besinnen. Und was ist aus Ihrem Roman geworden?«

»Vorige Woche habe ich ihn beendet und dann gleich an die Firma Friedrich Ambrosius Blumhardt geschickt. Natürlich nicht unter meinem Namen. Unter einer Deckadresse. Sie wissen doch, ich habe einen Onkel in Schkeuditz.«

»Sie haben Mut, das muß ich sagen.«

»Erst wollte ich gleich damit zu Cotta gehen, aber dann dachte ich, bei dem kannst du's ja immer noch probieren. Und Friedrich Ambrosius Blumhardt ist auch nicht der schlechteste Anfang.«

»Na, hören Sie! Wenn Sie da nur Glück haben!«

»Weshalb nicht, Fräulein Meta? Es ist keine Frage, daß der Chef, der einen fabelhaft feinen Instinkt für literarische Qualitäten hat, von dem Manuskript entzückt ist. Daß er die Ideen, die ich in meinem Buch entwickelt habe, bis in ihre letzten Konsequenzen erfassen wird, muß ich allerdings bezweifeln. Mit sechzig Jahren hat man ja nicht mehr die geistige Elastizität, um die Jugend, der die Zukunft gehört, ganz zu verstehen, aber Blumhardt hat jedenfalls gemerkt, daß etwas dahintersteckt. Vorab wird er sich durch meinen Stil haben bestechen lassen. Darauf gibt er nämlich etwas. Ja, Fräulein Meta, ich werde wohl die längste Zeit Fakturen geschrieben haben, und es ist leicht möglich, daß am 1. September an diesem Pult schon ein andrer sitzt. Der Chef wird Augen machen, wenn ich die Maske fallen lasse und mich ihm als den Autor des Buches zu erkennen gebe. Sie müssen es einzurichten suchen, daß Sie dabei zugegen sind. Das wird ein erhebender Augenblick werden, und wenn ich's jemand gönne, die Geburtsstunde einer neuen Ära unseres Schrifttums mitzuerleben, so sind Sie's, Fräulein Meta.«

»Ich möchte nur wissen –«

Was die Tippdame zu wissen wünschte, sollte in ewiges Dunkel gehüllt bleiben, denn in diesem Augenblick erschien Hilde Blumhardt im Kontor, um sich von Fräulein Scholz, die die Portokasse führte, einige Freimarken geben zu lassen. Als sie dann zu ihrem Vater hineingegangen war, bemerkte Drillhose mit aufrichtiger Anerkennung: »Großartiges Weib, diese Hilde! Durch und durch vornehm und rassig! Die wäre so mein Geschmack. Haben Sie eine Ahnung, wie alt die sein kann?«

»Ich schätze sie auf drei- oder vierundzwanzig.«

»So alt schon? Schade! Die könnte ich vom Fleck weg heiraten, wenn sie fünf Jahre jünger wäre, und wenn ich nicht den festen Entschluß gefaßt hätte, ein freier Mann zu bleiben.«

»Vorausgesetzt, daß Fräulein Blumhardt Sie überhaupt nehmen würde, Herr Drillhose.«

»Weshalb nicht? Bin ich denn keine ganz ansehnliche Erscheinung?«

»O ja – bis auf die roten Haare und die Sommersprossen.«

»Sie haben wohl nie eine Schillerbiographie gelesen, Fräulein Meta?«

»Warum meinen Sie?«

»Nun, weil Sie dann jedenfalls wüßten, daß auch Schiller rote Haare und Sommersprossen und trotzdem ein fabelhaftes Schwein bei den Weibern hatte. Aber, wie gesagt, an Heiraten denke ich gar nicht; ich habe nur andeuten wollen, daß Fräulein Blumhardt ein Mädel nach meinem Geschmack wäre.«

»Ach, Sie! Nach Ihrem Geschmack ist doch jede! Was hatten Sie denn gestern abend auf der Treppe mit dem blonden Fräulein aus Wernickes Telephonzentrale?«

»Blondes Fräulein? Sie meinen jedenfalls die kleine Landgraf? Unter uns gesagt: ganz unbedeutendes Tierchen! Unglaublich naiv. Sie fragte mich, ob ich ihr nicht ein Gedicht zur silbernen Hochzeit ihrer Eltern machen könnte. Habe natürlich abgewinkt. Gelegenheitsgedichte! Könnte mir gerade passen!«

»Als ich an Ihnen vorbeiging, sprachen Sie mit Fräulein Landgraf aber gar nicht von Gedichten. Es war, wenn ich recht gehört habe, von einer Ruderpartie auf der Pleiße die Rede.«

»Mag sein. Wir haben uns neulich einmal beim ›Wassergott‹ getroffen. Es war ein reiner Zufall. Ich glaube, Sie halten mich für einen Don Juan, Fräulein Meta. Das bin ich ganz und gar nicht. Für mich haben die Frauen hauptsächlich theoretisches Interesse. Als Dichter kann man gar nicht genug weibliche Wesen kennen lernen. Das Problem ›Weib‹ ist ja das wichtigste von allen.« Er hatte sich wieder der Tür zum Privatkontor genähert. »Hören Sie? Der Alte spricht jetzt auch mit Fräulein Hilde von der Villa, die er sich bauen lassen will«, sagte er.

Drillhose hatte recht. Das Gespräch zwischen Vater und Tochter drehte sich in der Tat um Blumhardts alten Lieblingsplan, den er immer hervorzuholen pflegte, wenn ihm sein unerschütterlicher Optimismus einen großen buchhändlerischen Erfolg in nahe Aussicht stellte. Blieb dieser Erfolg dann aus – und das war bis jetzt noch immer der Fall gewesen –, so wurde des Villenbaus eine Zeitlang mit keinem Worte weiter gedacht, bis mit einem neuen vielversprechenden Manuskript die lockende Fata Morgana einer beschaulichen Muße in ländlicher Abgeschiedenheit vor den Augen des sechzigjährigen Kindes wieder auftauchte.

»Eine geräumige Diele, die im Sommer auch als Wohnraum zu benutzen wäre, denke ich mir sehr behaglich,« erklärte Blumhardt der Tochter, »und ich freue mich, daß Bösenthal in dieser Beziehung so bereitwillig auf meine Anregung eingeht. Die Treppe würde dann an die eine Seite zu liegen kommen und müßte entsprechend künstlerisch ausgestaltet werden, etwa so, wie man's in den alten niederdeutschen Patrizierhäusern findet. Die Hauptsorge macht mir vorläufig noch die Heizungsfrage. Bösenthal ist unbedingt für Luftheizung, die ja freilich manchen Vorteil bietet und vor allem auch die Staubbildung einschränkt, aber ich möchte die gemütlichen Kachelöfen, die die Luft nicht so trocken machen, und an die wir doch auch nun einmal gewöhnt sind, nicht gern missen. Was meinst du dazu, Hilde?«

Die Tochter, die keine Spur von dem sanguinischen Temperament ihres Vaters geerbt hatte und die Dinge mit recht nüchternen Augen betrachtete, schien durchaus nicht geneigt zu sein, für Luftheizung oder Kachelöfen Partei zu ergreifen. »Das ist ja alles recht schön, aber ich habe immer gehört, daß zum Bauen wie zum Kriegführen Geld, Geld und nochmals Geld gehöre. Wie steht es damit, Vater? Liegen die geschäftlichen Verhältnisse bei uns denn überhaupt so, daß du an die Bauerei ernstlich denken kannst?«

Auf jeden andern würde diese Frage wie ein Guß kalten Wassers gewirkt haben, Herr Waldemar Blumhardt jedoch, der längst an solche Duschen gewöhnt und daher abgehärtet war, blieb vollkommen gelassen und erwiderte heiter: »Einstweilen handelt es sich ja nur um ein Projekt, dessen Verwirklichung davon abhängt, ob der neue Roman einschlägt. Meiner Ansicht nach muß er gehen. Ich habe vorhin erst wieder in dem Manuskripte gelesen und komme immer mehr zu der Überzeugung, daß das Buch in der Tat ein Meisterwerk ist. (Bei diesen Worten bekam hinter der Tür jemand vor freudiger Erregung einen roten Kopf, warf sich in die Brust und bemerkte zu Fräulein Scholz: »Haben Sie gehört, was der Alte da gesagt hat? Das Buch wäre ein Meisterwerk. Mehr Anerkennung kann man doch unmöglich verlangen.«) Ich hoffe nur, daß ich mich mit dem Autor über die Bedingungen einige. Er wird ja ein anständiges Honorar beanspruchen, aber für eine solche Arbeit kann man ja auch etwas zahlen. (Hinter der Tür begann jemand einen Indianertanz.) Wer so klar die letzten und tiefsten Empfindungen unserer Zeit ausspricht, der muß ja in den breitesten Schichten des deutschen Volkes Verständnis und begeisterte Zustimmung finden.«

»Wir halten es wenigstens für die Empfindungen unserer Zeit, Vater,« wandte Hilde ein. »Ob mit Recht, ist eine andere Frage. Ich glaube, wir haben die Fühlung mit der Außenwelt verloren, vorausgesetzt, daß wir sie überhaupt einmal gehabt haben. Sogar das möchte ich bezweifeln. Wir leben jahraus, jahrein ohne jede nähere Berührung mit Andersdenkenden, haben uns in einen Ideenkreis eingekapselt, worin wir uns zwar wohl fühlen, der uns jedoch den Blick für alles trübt, was sich außerhalb unserer vier Wände abspielt. Und deshalb sind mir Zweifel darüber aufgestiegen, ob der Roman wirklich da draußen einen so starken Widerhall finden wird.«

»Wie du nur heute redest, Mädel! Hast du letzten Mittwoch nicht selber gesagt, er schiene dir das Beste zu sein, was du je gelesen hättest?«

»Allerdings, Vater. Und dabei bleibe ich auch heute noch. Aber ich habe dieses Urteil doch nur auf Grund meines persönlichen Geschmackes gefällt, und wer sagt mir, daß der wirklich maßgebend ist? Gerade daß das Buch dir und Mutter und mir so gefällt, macht es mir verdächtig und erfüllt mich mit einem gewissen Mißtrauen dagegen. Wir sind nämlich – du mußt den Ausdruck schon verzeihen, Vater – in mancher Beziehung ein bißchen rückständig.«

Jetzt wurde Blumhardt, der bisher mit Engelsgeduld zugehört hatte, doch stutzig. Es waren Töne aus einer fremden Welt, die da an sein Ohr schlugen. »Wie kommst denn du zu dem albernen Modewort, ›rückständig‹? Das hast du doch von mir nie vernommen«, sagte er beinahe streng.

»Ein Modewort mag es wohl sein, aber ich wüßte kein anderes, das den Begriff, den man damit verbindet, klarer ausdrückt. Sieh, Vater, als ich am Mittwoch zur Redaktionssitzung kam, traf ich auf der Treppe Herrn Hennig. Wir sprachen über die ›Aurora‹. Er hatte die letzten Hefte gelesen, und zwar, wie es schien, recht aufmerksam. Die politischen Artikel fand er gut geschrieben, aber reichlich konservativ, die Aufsätze über Hans von Maries und über Eisenkonstruktion und Eisenstil hatten ihm gefallen, ebenso der über den Rastatter Gesandtenmord, aber der Roman, meinte er, röche wie die meisten belletristischen Beiträge in der ›Aurora‹ nach Lavendel. Er fragte mich, ob für uns denn die deutsche Literatur wirklich mit den Klassikern und ihren Epigonen abgeschlossen sei. Das hat mir doch zu denken gegeben.«

Blumhardt sah seine Tochter eine Weile nachdenklich an. »Ja, wenn du deine Weisheit freilich von diesem Herrn Hennig beziehst, dann kann ich mir verschiedenes erklären!« sagte er. »Gegen seine Person habe ich nicht das geringste; im Gegenteil, ich halte ihn für einen sehr tüchtigen und wohl auch. befähigten jungen Mann, der mir, wenn ich einmal geschäftlich mit ihm zu tun hatte, immer mit großem Takt begegnet ist, aber du darfst nicht vergessen: er ist Prokurist bei Wernicke und Kompanie, und so etwas färbt auch auf den Geschmack ab. Und dann: Hennig stammt aus einfacheren Verhältnissen, und wenn er auch eine ganz gute Erziehung genossen haben mag – das merkt man ihm ja an –, so ist er doch ohne alle Kulturtraditionen aufgewachsen. Ich glaube, bei ihm zu Hause haben sie nicht einmal eine vollständige Ausgabe von Goethes Werken gehabt, und wenn es wirklich der Fall gewesen sein sollte, so hat doch sicher niemand darin gelesen.«

»Da wirst du allerdings recht haben, Vater,« erwiderte sie lächelnd »aber eben deshalb sieht er alles mit unbefangenen Augen an. Du glaubst gar nicht, wie eifrig er an seiner Weiterbildung arbeitet, wieviel er liest, ein wie feines Verständnis er für die Kunst hat. Ich wollte ja eigentlich nicht darüber reden, aber nun muß ich dir's doch sagen: Hennig ist es, der meine Landschaft gekauft hat.«

»Sieh da! Also er ist dein Mäzen! Nun ja, dann verstehe ich auch, daß du plötzlich auf seine Meinung schwörst. Ich bin nur gespannt, ob er aus dem neuen Roman auch Lavendelduft herauswittert. Mir kann das übrigens ziemlich gleichgültig sein. Das Urteil dieses Herrn Hennig ist für mich durchaus nicht maßgebend.«

Das Gespräch verstummte. Hilde ging.

Drillhose, der in der Stimmung war, die ganze Welt zu umarmen, war vom Indianertanz zu gewagten turnerischen Übungen an seinem Drehschemel übergegangen. Er klammerte sich an dem blankpolierten Holzsitz fest, stemmte die Füße gegen das Pult und versetzte seinen Thron in eine so rasend schnelle Drehung, daß ihm die roten Haarsträhnen wie eine Scheibe um den Kopf standen. Dabei vergaß er, daß auch das längste Schraubengewinde einmal ein Ende nimmt, und so genoß die Tippdame das ergötzliche Schauspiel, den Dichter des »Titanensturzes« immer höher steigen und dann mit furchtbarem Gepolter unter seinem Pulte verschwinden zu sehen, eine Szene, deren tiefe Symbolik sie freilich kaum verstand.

Blumhardt, den der Lärm aus seinen Villenträumen aufgeschreckt hatte, erschien in der Tür, betrachtete halb ärgerlich, halb belustigt die gefallene Größe und zog sich, etwas von »Dummenjungenstreichen« murmelnd, wieder in sein Allerheiligstes zurück.

Der Jüngling stand auf, bekam nachträglich einen roten Kopf und rieb sich die Glieder. Aber seine Seligkeit war durch das kleine Mißgeschick nicht im geringsten beeinträchtigt worden, und er sagte mit strahlenden Augen: »Ach, Fräulein Meta, Sie ahnen ja gar nicht, wie glücklich ich bin! Sehen Sie, acht Tage habe ich zwischen Hoffnung und Verzweiflung gelebt – jetzt weiß ich, daß mein Buch gedruckt wird. Es ist doch ein eigenes Gefühl, wenn man ein Kind, das man monatelang mit sich herumgetragen hat, in die Welt entläßt. Sie werden sich das gar nicht vorstellen können. Aber dieser Tag muß gefeiert werden. Ich lade Sie hiermit für heute abend zum Theater und hinterher zu einem kleinen Souper bei Aeckerlein ein. Nicht wahr, Sie machen mir doch die Freude und kommen mit?«

»Warum nicht, Herr Drillhose?« erwiderte das kleine Fräulein, das keine Kostverächterin war und bei solchen Anlässen sogar über rote Haare und Sommersprossen hinwegsah. »Ich setze voraus, daß Ihre Kasse solche Extravaganzen auch verträgt.«

»Seien Sie doch nicht so philiströs, Fräulein Meta! Heute soll's mir auf ein bißchen Schlemmerei nicht ankommen. Wer weiß, in drei oder vier Tagen bin ich ja höchstwahrscheinlich ein Krösus!«

Da ließ Fräulein Scholz alle Bedenken fahren und nahm die Einladung an.


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