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Elftes Kapitel

Über den großen Mahagonitisch gebeugt, an dem die Redaktion der »Aurora« zu tagen pflegte, saßen an einem klaren, kalten Märzmorgen Blumhardt und Hilde einander gegenüber. Der Vater korrigierte wie gewöhnlich an einem Beitrage herum, die Tochter, die sich im letzten Winter sehr eifrig mit dem Prüfen von Manuskripten beschäftigt hatte, entwarf wieder einmal einen Ablehnungsbrief an einen Autor. Es war ein Idyll, an dem die beiden alten Herren, die, von der Sonne jetzt voll beleuchtet, aus ihren schweren Rahmen auf die Nachfahren heruntersahen, ihre Freude gehabt haben würden. Man hörte nur das leise Kritzeln der Feder, das Ticken der Empireuhr, das Tröpfeln in den Röhren der Dampfheizung und zwischendurch, gleich Lauten aus einer andern Welt, das gedämpfte Rattern der Wernickeschen Schnellpressen, das Rollen der Lagerwägelchen und die hallenden Schritte des hin und her gehenden Personals auf den zementierten Korridoren. Die Kakteen, die im Privatkontor überwinterten, standen, ein wenig verstaubt, auf der Fensterbank und den vor der Balkontür aufgestellten Blumentreppen und erhöhten den behaglich-patriarchalischen Charakter des Raumes, der als eine Insel des Friedens von den ruhelosen Wogen neuzeitlichen Geschäftslebens umbrandet wurde.

Der weißhaarige Mann legte den sorgfältig gespitzten langen Bleistift aus der Hand und ließ, während er sich eine Zigarette ansteckte, den Blick durch das Fenster schweifen. »Daß unsere Kastanie noch immer keine Knospen treibt!« sagte er. »Wir haben schon März, und wenn der Winter diesmal auch außerordentlich streng war und lang anhielt, so müßte der Baum doch nun wieder verraten, daß der Saft zu steigen begonnen hat. Vielleicht hat er noch gar nicht gemerkt, daß der Frühling naht, was ja auch nicht weiter verwunderlich wäre, da er viel zu wenig Sonne bekommt. Da sind wir, die wir ja auch in diesem hohen Backsteinkasten eingesperrt sind, doch besser daran: wir merken's schon an den Remittenden, die dieses Jahr wieder einmal sehr zeitig einlaufen.«

Hilde betrachtete den Vater mit einem prüfenden Blick. Sein Optimismus trieb auch in der Schattenkühle des Wernickeschen Arbeitspalastes Knospen und Blüten, und sogar das Eintreffen der »Krebse«, der unverkauften Verlagswerke, die aus den Läden der Sortimentsbuchhändler zurückkehrten, erfüllte ihn mit frohen Lenzesahnungen.

Sie war mit ihrem Briefe fertig geworden und reichte dem Vater den Entwurf zur Begutachtung hin. »Hast du nicht noch andere Arbeit für mich? Vielleicht rein buchhändlerische?« fragte sie. »Da die Ostermesse dieses Jahr so früh fällt, werden die Herren im Kontor wohl Hilfe brauchen können. Ich habe den Eindruck, als hätten sie große Mühe, durchzukommen. Und so viel verstehe ich ja auch vom Geschäft, daß ich Remittenden abstreichen und die Verbuchungen auf den Konten vornehmen kann.«

Hildens Vorschlag kam Blumhardt ein wenig überraschend. Daß sie ihm redaktionelle Arbeiten abnahm und für den Buchverlag Manuskripte prüfte, war für ihn selbstverständlich, daß sie sich jedoch auch mit Dingen zu befassen gedachte, die zwar notwendig waren, die ihm aber bei seinem gänzlichen Mangel an kaufmännischem Sinn als nebensächlich erschienen, wollte ihm nicht recht in den Kopf. Das hatte er selbst nie getan, und deshalb war er der Ansicht, daß es auch seine Tochter nicht nötig habe. »Wir sind in der Zeit vor der Ostermesse früher ohne Hilfskräfte ausgekommen und müssen's auch diesmal,« sagte er. »Der dicke Hunger macht von seiner Arbeit immer viel Aufhebens; daran bin ich schon gewöhnt. Mit den drei jüngeren Gehilfen und dem Lehrling muß er auskommen, und er wird's auch können, wenn er sich dazuhält und seine Leute richtig anstellt. Hilft man ihm, so wird er in Zukunft nie mehr fertig, und dann bin ich schließlich gezwungen, selbst mit zuzugreifen und mechanische Arbeiten zu erledigen. Das aber kann und will ich nicht. Ich habe mit der ›Aurora‹ und mit der Autorenkorrespondenz gerade genug zu tun. Nahezu meine ganze Zeit muß ich auf das Zurechtmachen der Manuskripte verwenden, und du weißt ja, daß ich bis in die späte Nacht darübersitze. Dafür finde ich aber auch die Anerkennung der wirklich gebildeten Leser, und Geheimrat Riese im preußischen Kultusministerium hat mich erst in seinem letzten Briefe den Getreuen Eckard der deutschen Sprache genannt. Nein nein, das rein Buchhändlerische muß ich Hunger überlassen, der ja lang genug bei uns ist. Er besorgt es gut und gewissenhaft, davon bin ich fest überzeugt. Der Absatz ist jetzt besser als je, und die Zahl der ›Aurora‹-Abonnenten ist wieder sehr schön in die Höhe gegangen.« Und, als müsse er der Tochter den Beweis für die Richtigkeit seiner Behauptung liefern, gab er durch den zweimaligen Druck auf den Klingelknopf das Zeichen, das den alten Gehilfen ins Privatkontor rief.

Wie immer erschien der dicke Herr schnellfüßig, wenn auch ein wenig asthmatisch schnaufend auf der Bildfläche.

»Nicht wahr, Herr Hunger, wir haben im neuen Jahre doch wieder schöne Zubestellungen auf die ›Aurora‹?« fragte der Prinzipal mit dem sonnigen Ausdruck der Zuversicht, der bei solchen Anlässen sein ganzes Wesen verklärte.

»O ja, Herr Blumhardt, bis gestern waren's achtunddreißig«, erwiderte der Gehilfe, sich nach seiner Gewohnheit mit beiden Händen auf den Tisch stützend.

»Dann müssen wir doch bald beim dritten Tausend sein?«

»Nu nee, Herr Blumhardt, so weit sind wir denn doch noch nicht. Es kommen doch auch immer Abbestellungen.«

»Na ja, einzelne Abbestellungen kommen auch; das versteht sich.«

»Es sind diesmal sogar ziemlich viele, Herr Blumhardt.«

»Wieviel werden's denn sein?«

»Im Januar waren's sechzehn, im Februar zehn und in diesem Monat sind's sicher auch ein Dutzend.«

»Da hätten wir also eigentlich gar keine Zunahme?«

»Nee, eine richtige Zunahme haben wir nicht. Und wenn's erst auf den Sommer losgeht, kommen noch mehr Abbestellungen. Das ist nun mal nicht anders.«

»Wie hoch ist denn jetzt der Abonnentenstand?«

»Am 1. Januar betrug die Auflage 2600. Da sind aber die hundertvierzig Freiexemplare und die fünfzig, die wir auf Lager behalten, mit dabei.«

»Dann hätten wir also de facto 2410 zahlende Abonnenten. Das ist eigentlich ganz schön.« Sein triumphierender Blick begegnete dem peinlich überraschten der Tochter.

»Was, Vater, nur 2410 Abonnenten? Und ich habe mir immer eingebildet, wir hätten wenigstens zehntausend.«

Blumhardt mußte herzlich lachen. »I bewahre! Da hast du dir ganz falsche Vorstellungen gemacht,« sagte er. »Ich kann mich noch sehr gut der Zeit erinnern, wo wir knapp zweitausend hatten. Mit 2410 bin ich schon recht zufrieden. Natürlich, noch angenehmer wär's ja, wir hätten dreitausend. Da würden wenigstens die Kosten gedeckt. Aber wesentlich mehr als dreitausend wären vom Übel, denn dann ginge die persönliche Fühlung zwischen Redaktion und Lesern verloren, die für eine vornehme Zeitschrift so wichtig ist.«

»Du setzt also bei der ›Aurora‹ noch immer zu?« fragte Hilde in steigender Unruhe.

»Natürlich! Das ist auch nie anders gewesen,« erklärte der Vater heiter. »Ich kann sie doch nicht eingehen lassen, weil sie nichts einbringt. Eine Zeitschrift, die mein Großvater gegründet hat, und die jetzt fünfundsiebzig Jahre besteht! So etwas fortzuführen betrachte ich als eine Ehrensache. Man darf nicht immer nur ans Verdienen denken, man muß auch Opfer bringen.«

»Ja, wenn man aber Jahr für Jahr solche Opfer bringt, dann wird die Ehrensache auf die Dauer doch recht kostspielig«, bemerkte das junge Mädchen, das schon längst gehegte bange Ahnungen bestätigt sah.

»Freilich, Geld kostet's eine ganze Menge,« gestand Blumhardt vergnügt. »Hätte ich die vielen Tausende noch in Händen, die uns die ›Aurora‹ in den fünfundsiebzig Jahren gekostet hat, so könnte ich heute mit dem Villenbau beginnen. Aber du mußt doch auch an den indirekten Nutzen der Zeitschrift denken, Hilde. Durch sie wird unser Buchverlag bekannt, sie verschafft uns auch Verbindungen mit Autoren. Irgendein periodisches Organ muß man als Verleger ja zur Verfügung haben. Dafür machen wir mit den Büchern auch desto bessere Geschäfte. Nicht wahr, Herr Hunger, mit dem Absatz sind wir doch jetzt recht zufrieden?«

Der alte Gehilfe lächelte ein wenig unsicher. »O ja, Herr Blumhardt, manches geht jetzt ganz hübsch,« erwiderte er, während er das Gewicht seines umfangreichen Körpers vom rechten seiner kurzen Beine auf das linke verlegte. »Vom Goethe in Halbpergament sind letzte Woche sogar zwei Partien ausgeliefert worden.«

»Na, siehst du, Hilde, damit können wir doch zufrieden sein!« rief der Vater überglücklich. »Es ist famos, daß der Goethe noch immer so gut geht. In dem schlanken Oktavformat macht er sich aber auch zu appetitlich!«

»Es wird nur nichts dran verdient,« meinte Hunger trocken. »Der Rabatt ist zu hoch, und der Preis für das feine Papier ist bei der Kalkulation zu niedrig angesetzt worden. Und dann hat die Druckerei eigens für unsere Goetheausgabe die neue Breitkopffraktur in Korpus angeschafft. Das hat die Herstellung auch verteuert.«

»Ist ja alles richtig, Herr Hunger,« sagte der Prinzipal beschwichtigend. »Dafür haben wir aber auch eine der geschmackvollsten und textlich korrektesten Ausgaben. Das ist ebenfalls eine Ehrensache, für die kein Opfer zu groß ist. Wir verdienen ja an den übrigen Verlagsartikeln ein schönes Stück Geld. Haben Sie schon eine Ahnung, wie die Ostermeßsaldi ausfallen werden?«

»Läßt sich noch gar nicht sagen, Herr Blumhardt. Es wird, wie es scheint, wieder sehr viel disponiert.«

»Kann ich mir denken. Es muß aber doch auch viel abgesetzt sein.«

»Wir wollen's hoffen.«

»Der ›König Laurin‹ zum Beispiel ist sehr gut verlangt worden,« meinte Blumhardt mit unerschütterlichem Optimismus. »Wir mußten doch nahezu die ganze Auflage ausliefern.«

»Gerade vom ›Laurin‹ kommen aber auch sehr viele Remittenden,« behauptete Hunger. »Ich habe vorhin erst zehn Pakete ausgepackt, da war beinahe nichts anderes drin.«

»So? Dann wäre das Buch also nicht so gut gegangen, wie wir anfangs glaubten?« fragte der Prinzipal, nun doch ein wenig ernüchtert.

»Längst nicht so gut. Sogar bei bar bezogenen Exemplaren wird um Umtausch ersucht.«

Blumhardt starrte eine Weile sinnend durchs Fenster. Dann verklärten sich plötzlich seine Mienen. »Wissen Sie, das freut mich eigentlich,« sagte er. »Wir sollten ja doch nur das Versuchskaninchen spielen, und auf die vielen Bestellungen hin, die gleich nach Erscheinen des Buches kamen, ist dieser Herr Schlick von Wernicke mit Beschlag belegt worden. Daß er bei denen da drüben Redakteur geworden ist, habe ich ihm gar nicht übel genommen, denn von dem Ertrage seiner Bücher wird er ja nie leben können, aber daß er mit seinem zweiten Roman gleich zu Wernicke gegangen ist, das war nicht anständig von ihm.«

Drillhose erschien mit der Meldung, daß Herr Prokurist Hennig von Wernicke und Kompanie Herrn Blumhardt zu sprechen wünsche.

»Hennig? Was mag denn der wollen?« fragte Blumhardt, der über die Störung um so ungehaltener war, als der Fall Schlick das ohnehin etwas gespannte Verhältnis zwischen den beiden Firmen nicht gerade verbessert hatte.

Der alte Gehilfe zog sich zurück, und Hennig trat ein. Er begrüßte Vater und Tochter mit der ihm eigenen Unbefangenheit und erkundigte sich bei Hilde, was die Kunst mache.

»Augenblicklich ruht sie noch im Winterschlaf«, erwiderte das junge Mädchen heiter.

»Winterlandschaften malen Sie wohl gar nicht?« fragte er.

»Ich möchte schon, aber meine Mutter hat Bedenken gegen das Malen im Freien bei kaltem Wetter.«

»Da kann ich Ihrer Frau Mutter nicht so unrecht geben. Ich bin ja, wie Sie wissen, sehr für frische Luft, aber nur wenn man sich draußen tüchtig bewegt. Das stundenlange Stehen vor der Staffelei bei solcher Witterung, wie wir sie seit Weihnachten gehabt haben, kann der Gesundheit unmöglich zuträglich sein.«

Sie war aufgestanden und machte Miene, zu gehen.

»Aber bitte, Fräulein Hilde, lassen Sie sich durch meinen Besuch nicht stören. Ich möchte Sie durchaus nicht vertreiben«, sagte er.

»Sie haben mit Vater doch vielleicht etwas zu besprechen, wobei meine Anwesenheit unerwünscht ist«, meinte sie.

»Ganz und gar nicht!« versicherte er. »Es handelt sich um eine ziemlich belanglose Angelegenheit.«

»Ich könnte mir auch nicht denken, daß mir Herr Prokurist Hennig von Wernicke und Kompanie ein Geheimnis anzuvertrauen hätte,« bemerkte der Vater etwas von oben herab. Und er setzte, um eine Note höflicher, hinzu: »Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Hennig. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ich komme eigentlich mehr im Auftrage des Wernickeschen Kommissionsgeschäfts,« erklärte der Prokurist. »Da Ihnen jedoch unser Herr Blau persönlich kaum näher bekannt ist, meinte der Herr Konsul, es würde Ihnen wohl angenehmer sein, wenn ich bei Ihnen vorspräche.«

»Sie machen mich neugierig, Herr Hennig«, sagte Blumhardt, den Besucher ein wenig argwöhnisch musternd.

»Man hat bei uns schon seit längerer Zeit die Beobachtung gemacht, daß die Barpakete Ihrer Firma beinahe jeden Tag von Ihren beiden Markthelfern abgeliefert werden. Erst kommt der alte – ich glaube, Bölte heißt er –, mit dem Gros der Pakete, und dann, gewöhnlich eine Stunde später, der andere mit einzelnen Nachzüglern. Das kann ja ein- oder zweimal vorkommen, aber wenn es regelmäßig geschieht, so macht es doch einen sonderbaren Eindruck.«

Blumhardt war bei dieser Auseinandersetzung unruhig geworden. »Ja, Herr Hennig, ich weiß nicht recht, was Sie damit sagen wollen,« bemerkte er kühl. »Wie das bei uns gehandhabt wird, kann Wernicke und Kompanie doch eigentlich ganz gleichgültig sein.«

»Allerdings, uns könnte es schon gleichgültig sein, aber wir nahmen an, daß es Sie vielleicht interessieren würde.«

»Verzeihen Sie, aber um die Auslieferung kann ich mich beim besten Willen nicht kümmern, dazu habe ich zuviel anderes zu tun,« erklärte Blumhardt. »Sie erlauben wohl, daß ich meinen Herrn Hunger zu unserer Besprechung hinzuziehe?«

»Selbstverständlich! Der Herr ist doch wohl schon sehr lange bei Ihnen?«

»Über achtunddreißig Jahre.« Er klingelte. »Sagen Sie mal, Herr Hunger, wie wird das mit den Barpaketen bei uns gehandhabt?« wandte er sich an den Eintretenden, der gerade beim Frühstück gewesen war und sich nun bemühte, den letzten Bissen hinunterzuschlingen. »Herr Hennig erzählt mir da eben, gewöhnlich käme zuerst Bölte und dann später auch noch Richter. Stimmt das?«

Der dicke Gehilfe warf dem Wernickeschen Prokuristen einen ebenso erstaunten wie ungläubigen Blick zu. »I wo! Die Barpakete trägt nur Bölte aus«, versicherte er sehr bestimmt.

»Es wäre aber doch wohl denkbar, daß sie noch nicht alle gepackt wären, wenn Bölte loszieht, und daß der Rest von Richter hinübergeschafft würde?« meinte der Prinzipal.

»Das ist ganz unmöglich, Herr Blumhardt«, erklärte Hunger mit überlegenem Lächeln.

»Es sind, wie gesagt, immer nur einzelne Pakete, die Ihr zweiter Markthelfer bringt, manchmal nur eins, manchmal auch zwei oder drei«, sagte Hennig.

Hunger zuckte die Achseln. »Ich kann mich gar nicht darauf besinnen, daß Richter Barpakete zum Austragen bekommen hätte«, erwiderte er.

Der Prinzipal empfand eine große Genugtuung. »Sie sehen, Herr Hennig, die Wahrnehmungen Ihres Herrn Blau müssen doch wohl auf einer Personenverwechslung beruhen.«

»Sie glauben also nicht, daß Ihr zweiter Markthelfer unbefugterweise die Beträge einkassieren könnte?« fragte der Prokurist, deutlicher werdend.

»Ach so – unbefugterweise,« wiederholte Blumhardt. »Ich muß gestehen, diese Frage überrascht mich etwas. Was meinen Sie dazu, Herr Hunger? Sie müssen Richter doch genauer kennen. Trauen Sie ihm so etwas zu?«

»Gemerkt habe ich noch nichts,« antwortete der alte Gehilfe. »Es ist mir allerdings aufgefallen, daß Richter seit einiger Zeit ein ungewöhnliches Interesse am Geschäft zeigt. So habe ich mehrmals wahrgenommen, daß er die Bestellzettel durchsah, sobald sie von der Bestellanstalt herein waren.«

»Das wäre an sich noch nichts Belastendes,« meinte Blumhardt. »Geschäftsinteresse muß ich bei jedem meiner Angestellten voraussetzen.«

»In diesem Falle scheint mir aber – verzeihen Sie diese persönliche Bemerkung! – noch etwas anderes mitzuspielen als bloßes Geschäftsinteresse. Ich kenne, wie gesagt, Ihren Markthelfer nicht und habe also auch keinen Anlaß, ihn zu verdächtigen, aber sollte es nicht doch möglich sein, daß er bei der Durchsicht der Verlangzettel den einen oder den andern beiseite brächte und dann die betreffende Sendung gewissermaßen auf eigene Rechnung expedierte? Fakturen wird er ja wohl ausschreiben können, und den Quittungsstempel kann er sich vielleicht auch verschaffen.«

Blumhardt, dessen grundehrliches Gemüt sich in solchen Dingen nur schwer zurechtfand, begann allmählich zu begreifen. »Sie meinen also, es könnte sich hier um Sendungen handeln, die gar nicht durch unsere Bücher gegangen wären?« fragte er.

»Jawohl. Ich will Ihnen auch sagen, was uns veranlaßt hat, der Angelegenheit unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Sie wissen doch, daß in der Königsstraße ein kleines Lokal ist, wo in der Hauptsache die Markthelfer aus dem Buchhandel verkehren?«

»So? Davon habe ich nie gehört«, sagte der alte Herr.

Der Dicke wußte jedoch Bescheid. »›Germanenhütte‹ heißt die Kneipe. Man bekommt dort ganz vorzügliche Schweinsknochen«, berichtete er verklärten Antlitzes.

»Ganz recht. Unsern Leuten, die natürlich dort auch immer frühstücken, ist es aufgefallen, daß Ihr Richter in der letzten Zeit den Großartigen spielt,« fuhr der Prokurist fort. »Er soll davon reden, daß er bei Ihnen eine Vertrauensstellung bekleide und ein entsprechendes Gehalt bezöge, und daß er sich mit der Absicht trüge, in Sellerhausen ein Hausgrundstück zu erwerben. Dabei scheint er sich aber zu widersprechen; so soll er zuweilen behaupten, er habe einen größeren Gewinn in der Lotterie gemacht, und dann will er von einer Tante in Kötzschenbroda vierzigtausend Mark geerbt haben. Wenn ich auch der letzte bin, der solchen Redereien Bedeutung beimißt, so scheint es mir in diesem Falle doch geraten, sie nicht ganz unbeachtet zu lassen.«

»Das ist allerdings sonderbar,« bemerkte Blumhardt, indem er mit Hunger Blicke wechselte. »Ich muß gestehen, auf mich hat Richter immer den Eindruck eines sehr bescheidenen, zurückhaltenden und dabei dienstfertigen Menschen gemacht. Ob wir einmal den alten Bölte hereinrufen?«

»Das würde doch vielleicht Aufsehen erregen,« meinte Hennig. »Wenn auch kaum anzunehmen ist, daß er mit Richter unter einer Decke steckt –«

»Nein, davon kann keine Rede sein,« beteuerte der Prinzipal mit großer Entschiedenheit. »Bölte ist schon achtundvierzig Jahre in meinen Diensten. Für den verbürge ich mich. Er ist ein Original, meinetwegen auch ein Dickkopf, aber treu wie Gold.«

Dem stimmte auch Hunger bei. »Ach nein, Bölte macht solche Sachen nicht, das ist ganz ausgeschlossen«, sagte er.

»Wenn ich mir einen Rat erlauben darf, so möchte ich Ihnen empfehlen, einmal eine Falle zu stellen,« schlug Hennig vor. »Wir werden Ihnen gern dabei behilflich sein. Vielleicht in der Weise, daß wir auf Verlangzetteln einiger unserer Kommittenten verschiedene Werke Ihres Verlags bestellen. Sie brauchen dann nur dafür zu sorgen, daß Richter wieder Gelegenheit findet, das Zettelpaket durchzusehen. Präsentiert er dann an unserer Barpaketkasse das eine oder das andere dieser Pakete, so lösen wir es natürlich ein und legen Ihnen die Faktur vor, damit Sie die Fälschung feststellen können.«

»Das wäre allerdings ein Weg, der Sache auf den Grund zu kommen,« meinte Blumhardt. »Ich verstehe freilich noch immer nicht recht, welches Interesse die Firma Wernicke daran hat, eine Angelegenheit aufzuklären, die eigentlich eine ganz interne meines Hauses ist. Ihr Herr Konsul ist doch sonst gar nicht so ängstlich um mein Wohl besorgt.«

Hennig schien die Anklage, die in den letzten Worten lag, geflissentlich zu überhören. »Unser Chef hat sich wohl zunächst durch die Erwägung leiten lassen, daß die Prinzipale verpflichtet seien, einander bei ihren Maßnahmen gegen unredliche Handlungen von Angestellten nach Kräften zu unterstützen,« erklärte er. »Sodann glaubt er Ihnen persönlich aber auch um so mehr gefällig sein zu müssen, als Sie ihm in Konsulatsangelegenheiten doch schon wiederholt sehr wertvolle Dienste geleistet haben. Seit der junge Mann, der früher bei der Libreria nacional in Barcelona war, von uns weg ist, haben wir unter unserm Personal ja leider niemand, der die spanische Sprache beherrscht.«

Die Erwähnung seiner Lieblingssprache gab den Gedanken des alten Herrn eine völlig andere Richtung, und er sagte mit leuchtenden Augen: »Es ist sehr bedauerlich, daß Spanisch bei uns so wenig getrieben wird. Der ›Don Quijote‹ ist meines Erachtens doch die bedeutendste Prosadichtung der Weltliteratur. Aber auch unter den neueren Autoren Spaniens ist manches starke Talent. José Zorrilla zum Beispiel. Einen im besten Sinne so volkstümlichen Dichter wie Zorrilla haben wir in Deutschland nie gehabt. Spanier durch und durch, schöpft er seine Stoffe aus den großen Überlieferungen seines Vaterlandes und beherrscht dabei die Form wie kaum ein anderer der Zeitgenossen. Bei Gelegenheit seines Todes – es muß zu Anfang der neunziger Jahre gewesen sein –, habe ich in einem längeren ›Aurora‹-Aufsatz auf seine Bedeutung hingewiesen und die Notwendigkeit einer vollständigen deutschen Übersetzung seiner Werke betont, aber eine solche ist leider bis heute noch nicht erschienen. Hätte ich mehr Zeit, so würde ich die Arbeit selbst in Angriff nehmen, denn er verdient wirklich, auch bei uns bekannt zu werden.«

Sei es, daß der Wernickesche Prokurist von dem dringenden Bedürfnis, Zorrilla ins Deutsche zu übertragen, nicht so völlig überzeugt war, sei es, daß er sich nicht für berufen hielt, in dieser Angelegenheit seine Meinung zu äußern: jedenfalls ließ er einige Augenblicke vergehen, bevor er wieder das Wort ergriff. Dann aber sagte er mit der unverkennbaren Absicht, die Besprechung zu beenden: »Wir werden's also, wenn Sie einverstanden sind, so machen, meine Herren. Am Donnerstag lassen wir Ihnen je einen Verlangzettel der Firmen Kuchenreuthersche Hofbuchhandlung in Detmold, Otto Runkel in Würzburg und Matthias Krasicki in Thorn zugehen, und dann werden wir ja sehen, wie sich die Sache weiterentwickelt. Entschuldigen Sie freundlichst die Störung!«

»Bitte sehr, Herr Hennig, ich bin Ihnen und der Firma Wernicke zu großem Danke verpflichtet. Sie haben wohl die Güte, mich dem Herrn Konsul angelegentlich zu empfehlen,« erwiderte Blumhardt, den der Gedankenritt ins spanische Land offenbar wesentlich rosiger gestimmt hatte. Als der Besuch jedoch, von Hunger hinausgeleitet, gegangen war, kam über den alten Herrn eine große Ernüchterung. »Was soll man nun dazu sagen?« wandte er sich an seine Tochter. »Diese Schnüffelei in unsere Angelegenheiten gefällt mir ganz und gar nicht.«

Hilde, die ihren Vater sehr genau kannte, wurde durch diesen plötzlichen Stimmungswechsel nicht sonderlich überrascht. »Ich finde es aber doch sehr freundlich von Wernickes, daß sie dich von ihren Wahrnehmungen in Kenntnis setzen«, sagte sie ruhig.

»Freundlich! Nun ja, wenn da nur nicht etwas dahintersteckt! Ich traue der Gesellschaft nicht. Was kann von einer Firma Gutes kommen, die drauf und dran ist, unsere ganze Literatur auf den Hund zu bringen? Offen gestanden: ich möchte mich lieber von meinen eigenen Leuten bestehlen lassen, als denen da drüben verpflichtet sein. Übrigens kann man ja noch gar nicht wissen, wie die Sache ausgeht. Es wäre immerhin möglich, daß Richter, wenn er die Unterschlagungen wirklich begangen hat, gar nicht in die Falle ginge. Das wäre für mich die angenehmste Lösung. Den Mann könnte ich mir bei geeigneter Gelegenheit ja einmal vornehmen.«

Jetzt war es mit Hildens Geduld vorbei. »Verzeih', Vater, aber diesen Standpunkt verstehe ich einfach nicht,« erwiderte sie. »Wer weiß, um welche Beträge dich Richter im Laufe der Zeit geschädigt hat! Ich begreife überhaupt nicht, wie so etwas in einem gutgeleiteten Geschäft möglich ist. Sollte Herr Hunger nicht doch überlastet sein? Ich habe den Eindruck, als hätte er bei den tausenderlei nebensächlichen Arbeiten, die er verrichtet, die Übersicht über das Ganze verloren. Vorgestern sah ich zufällig, wie er in der Packkammer einen Ballen zeichnete. Das ist doch keine Beschäftigung für einen Prokuristen.«

Der alte Herr lachte laut auf. »Prokuristen! Er hat doch nur Postprokura. Im übrigen ist er Gehilfe wie jeder andere.«

»Das scheint mir eben falsch zu sein. Einer muß sich doch um die Leitung des Geschäftes kümmern. Du kannst es nicht, weil du dich so gut wie ausschließlich der Redaktion der ›Aurora‹ widmest, die eben dein Steckenpferd ist.« Sie hatte einen roten Kopf bekommen, und wenn in ihren Worten auch der Ton milder Überredung durchklang, der bei dem weißhaarigen Jüngling noch am ehesten zum Ziele führte, so entging dem Vater doch nicht, daß die Tochter seltsam erregt war.

»Liebes Kind, mir scheint, du machst dir ganz unnötige Sorgen,« sagte er. »Die Firma Friedrich Ambrosius Blumhardt besteht doch schon neunundachtzig Jahre. Warum sollen denn nun plötzlich große Änderungen eingeführt werden? Bloß weil ein Markthelfer unberechtigterweise – was für mich übrigens noch gar nicht so gewiß ist – bei Wernickes ein paar Barpakete abgegeben hat? Nein, nein, du siehst entschieden zu schwarz. Ich habe von den Menschen im allgemeinen immer eine bessere Meinung gehabt als andere und mich stets wohl dabei befunden.« Und während er sich ganz gelassen an den Pflanzen auf der Fensterbank zu schaffen machte, mit der Papierschere einige verdorrte Stengelglieder einer Königin der Nacht abschnitt und von den saftigen Scheiben eines Feigenkaktus ein Dutzend weißbefilzter Läuse las, hielt er der Tochter einen wunderschönen Vortrag über die Notwendigkeit einer optimistischen Weltanschauung, dessen Wirkung jedoch durch den Umstand beeinträchtigt wurde, daß sie aus allen seinen Worten nur das Bestreben heraushörte, sich jeder Einmischung in den Gang des Geschäftes zu entziehen und die Dinge in ihrem alten Schlendrian weitergehen zu lassen.

Als Hilde heute nach Hause ging, war sie zum erstenmal in ihrem Leben ernstlich bekümmert. Eine bange Ahnung sagte ihr, daß die Firma Friedrich Ambrosius Blumhardt unaufhaltsam dem Untergang entgegensteuere.


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