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Siebentes Kapitel

Auf einer kleinen Waldwiese im Harzgeroder Forst lagerten an einem milden, stillen Septembernachmittage vier Damen, eine ältere und drei junge. Die ältere und eine der beiden jungen hockten lesend auf bemoosten und zum Überfluß noch mit karrierten Umschlagetüchern bedeckten Baumstümpfen, die beiden andern saßen, die anmutige Landschaft malend, ein wenig abseits auf leichten Feldstühlchen vor ihren Staffeleien. Weit und breit war außer dem leisen Gemurmel eines Bergquells, der drunten am Hange in seinem von Buchenhochwald überschatteten tiefen Bette dem Selketale zueilte, kein Laut zu vernehmen.

Die ältere Dame – es war Frau Justizrat Härtel aus Leipzig, die hier ihre beiden Nichten Lotte und Marianne Winckler und deren Freundin Hilde Blumhardt betreute –, sah von ihrem Buch auf, schaute den beiden eifrig arbeitenden Malerinnen eine Weile aufmerksam zu und nestelte dann nicht ohne einige Mühe die zierliche Uhr, die sie an einer altmodischen dünnen Goldkette um den Hals trug, aus dem Gürtel. »Kinder, es ist beinahe fünf,« rief sie. »Seid ihr denn noch immer nicht fertig? Auf den Heimweg müssen wir doch zum mindesten eine gute Stunde rechnen, und zudem haben die Tage, seit wir hier in Alexisbad sind, schon merklich abgenommen.«

»Daß Tantchen niemals Ruhe hat!« sagte Fräulein Marianne, eine stattliche Blondine, indem sie ein paar Schritt von der Staffelei zurücktrat und ihre Arbeit mit kritischen Augen musterte. »Die Sonne steht ja noch so hoch. Und wenn wir den schmalen Pfad einschlagen, der kurz vor der Beckstraße vom Fürstenweg abzweigt, und ein bißchen scharf gehen, können wir in drei Viertelstunden in der Klostermühle sein.«

»Ach ja, Tante Konstanze, haben Sie noch ein klein wenig Geduld!« stimmte Hilde Blumhardt ein. »Ich bin bald mit dem Gröbsten fertig. Wer weiß, ob wir morgen dieselbe Luftstimmung antreffen werden!«

Die Justizrätin, eine noch recht ansehnliche, wenn auch schon stark ergraute Dame in der Mitte der Fünfziger, holte das bereits in den Pompadour versenkte Buch mit einem leisen Seufzer wieder hervor. »Meinetwegen, Kinder! Aber ich lehne jede Verantwortung dafür ab, wenn wir nachher den Weg verfehlen und bei Nacht und Nebel im Walde herumirren.«

»Das wäre auch nicht das schlimmste. Ich fände es sogar sehr romantisch. Für solche kleine Abenteuer habe ich immer eine Schwäche gehabt«, behauptete Lotte, die wesentlich zierlicher und um ein paar Töne dunkler als die Schwester war, im übrigen aber mit dieser viel Ähnlichkeit hatte.

Tante Konstanze lächelte. »Du hättest wirklich gescheiter getan, als Junge auf die Welt zu kommen, Kind«, meinte sie.

»Das wäre auch mehr nach meinem Geschmack gewesen«, erwiderte das junge Mädchen mit Überzeugung.

»Na, na, du mit deiner Leidenschaft für Kochtöpfe!« neckte Marianne.

Lottens feines Gesicht nahm einen leichten Zug von Herbheit an, wie immer, wenn sich der bei ihr stark entwickelte Widerspruchsgeist regte. »Bitte sehr! Ich koche gern, weil ich gern etwas Gutes esse,« sagte sie. »Es ist krasser Egoismus. Auf besondere Anlagen zu hausmütterlicher Betätigung darfst du deshalb bei mir nicht schließen. Mein Beruf als Lehrerin befriedigt mich durchaus. Ich habe dir doch schon tausendmal gesagt, daß ich nie ans Heiraten denken werde.«

»Ereifre dich doch nicht unnötig, Lotte!« rief die Schwester. »Vom Heiraten hat doch kein Mensch gesprochen.«

»Gesprochen allerdings nicht. Aber ich kenne dich doch. Ich weiß, wie du denkst. Wenn du gescheit wärst, machtest du's wie ich, verzichtetest auf die Ehe und entschlössest dich, ganz deiner Kunst zu leben.«

Marianne lachte hell auf. »Ach, du lieber Himmel, meine Kunst! Wenn ich meine Kleckserei mit Hildens Bild vergleiche, merke ich erst, wie es mit dem aussieht, was du meine Kunst nennst. Wenn ich vom Malen leben müßte, würde ich bald eine schöne Leiche sein. Ach nein, für mich wär's wirklich schon das beste, ich fände einen Mann. Zu einem andern Beruf habe ich weder Begabung noch Neigung, und schließlich ist es ja nun einmal unsere Bestimmung, Frau zu werden.«

»Deine vielleicht, aber meine gewiß nicht. Ich mache mir aus den Männern nicht einen Pfifferling«, erklärte die kleine Lehrerin mit großer Entschiedenheit.

»Wer hat sich denn heute beim Frühstück so lebhaft mit dem Assessor aus Halberstadt unterhalten, daß keine von uns andern zu Wort kommen konnte?« fragte die Schwester, während sie sich anschickte, auf einen ihrer gemalten Buchenstämme ein paar Lichter zu setzen.

Jetzt wurde die Kleine ein bißchen empfindlich. »Was willst du damit beweisen? Daß ich mich gern mit Herren unterhalte, vorausgesetzt, daß sich die Unterhaltung lohnt, ist richtig. Aber ich kann es auch, weil ich keine Hintergedanken dabei habe. Bei der Unterhaltung mit Frauen – ihr seid natürlich ausgeschlossen! – kommt im allgemeinen nicht viel heraus, sonst würde ich mich ebenso gern mit Frauen unterhalten. Was meinst du dazu, Hilde?«

»Wozu?«

»Ach, sie hat gar nicht zugehört!« rief Lotte enttäuscht.

»Ja, Kinder, wenn ich male, bin ich so vollständig bei der Sache, daß ich auf nichts anderes achte. Wovon ist denn die Rede?«

»Ich sagte, mit Männern könne man sich im allgemeinen besser unterhalten als mit Frauen«, berichtete die Lehrerin.

»Das finde ich allerdings auch. Frauen haben gewöhnlich einen zu eng begrenzten Interessenkreis – oder gar keinen«, meinte Hilde.

»Du hast gut reden, meine Liebe,« bemerkte Marianne. »Du bist durch deinen Vater in alles eingeweiht worden, was Männer interessiert. Aber wir andern, die wir die herkömmliche Erziehung der höheren Töchter genossen haben? Von allem ein bißchen wissen, aber nichts gründlich kennen und von den inneren Zusammenhängen der Dinge kaum etwas ahnen?«

»Ich gebe zu, daß ich in mancher Beziehung besser daran bin als andere junge Mädchen,« sagte Hilde anspruchslos. »Ich habe von Kind auf immer nur von Literatur und Kunst und ähnlichen Dingen gehört. Aber ich sollte meinen, wenn ein Mädchen wirklich das ernste Streben hat, sich weiterzubilden, so könnte sie es jederzeit tun. An Hilfsmitteln fehlt es ja nicht. Es gehört nur ein gewisses Maß von festem Willen und Beharrlichkeit dazu und vorab die Gabe, mit seiner Zeit hauszuhalten. Wer natürlich mit der landläufigen Geselligkeit, mit Klavierspielen, mit wahllosem Bücherlesen oder gar mit einseitiger Pflege des Sports die besten Stunden vertrödelt, der wird zu ernster Arbeit an sich selbst weder die Zeit noch die nötige geistige Frische haben. Ich glaube, jede Frau hat die Bildung, die sie verdient.«

»Das ist richtig,« stimmte Lotte der Freundin bei. »Ich meine nur, der Trieb, sich weiterzubilden, müßte erst durch äußere Anregungen geweckt werden. Und diese Anregungen habe ich, offen gestanden, immer nur von Männern erhalten.«

Jetzt mischte sich auch die Justizrätin in die Unterhaltung. »Ist mir genau so ergangen, Kinder,« bekannte sie. »Wenn ich bedenke, wie zu meiner Zeit die jungen Mädchen erzogen wurden! Ein bißchen äußerer Schliff, ein paar Brocken Französisch und Englisch, die Fertigkeit, zwei oder drei Salonstücke zu klimpern – das war so ziemlich alles, was man uns beibrachte. Alles andere sollte vom Übel sein. Um Gottes willen keine positiven Kenntnisse! Das Wissen war ja nur für die Männer. Als ich heiratete, wußte ich so gut wie nichts, und später habe ich mich immer wieder darüber gewundert, daß es mein lieber Georg trotzdem mit mir gewagt hat. Aber er hatte die nötige Lust und Liebe, mich zu erziehen. Wir lasen zusammen die Klassiker, trieben gemeinsam italienische Sprachstudien, saßen mit der Partitur in der Hand in der Oper und besuchten ganz regelmäßig Galerien und Museen. Ich mußte mir ein Tagebuch anlegen und jeden Abend, wenn ich auch noch so müde war, gewissenhaft eintragen, womit ich mich am Tage beschäftigt hatte. Anfangs habe ich oft geseufzt, später wurde es mir jedoch zur lieben Gewohnheit, denn ich merkte den Nutzen. Ein Mosaiksteinchen fügte sich zum andern; ich bekam nach und nach einen Überblick, und schließlich stand das Bild der Welt, wie es mein Mann sah, auch vor meinen Augen. – Aber nun ist's wirklich die höchste Zeit, daß wir aufbrechen. Hilde, Marianne, tut mir den einzigen Gefallen und packt eure Sachen zusammen!«

Die jungen Malerinnen merkten, daß es ihrer Begleiterin mit der Mahnung zum Aufbruch diesmal ernst war.

»Sofort, Tantchen!« rief Hilde. »Ich bin nun auch wirklich so ziemlich fertig und kann das Fehlende zu Hause noch anbringen. Und du, Marianne?«

»Ich mache natürlich auch Schluß,« erwiderte diese. »Weißt du, etwas Rechtes wird's doch nicht. Wenn ich dir beim Malen zusehe, wird mir's erst bewußt, wie wenig ich leiste. Du könntest dich, wenn du darauf angewiesen wärest, mit deiner Kunst ernähren, ich nicht. Ich würde wohl elend verhungern.«

»Ich wahrscheinlich auch«, meinte Hilde, während sie die Pinsel auswischte.

»Aber du hast doch schon ein Bild verkauft!«

»Eins allerdings. Das ist jedoch schon ein Vierteljahr her. Und da ich zu dem Geschmacke des Herrn, der es erstanden hat, kein allzu großes Vertrauen habe, ist es mir sehr zweifelhaft, ob ich so bald wieder eins loswerde.«

»Kinder, wir werden beobachtet,« sagte die kleine Lehrerin mit geheimnisvoller Miene. »Da oben unter den Tannen steht ein männliches Wesen, das uns mit dem Glase fixiert.«

Marianne sah flüchtig in der von der Schwester bezeichneten Richtung empor und beugte sich über ihren Malkasten. »Es wird wohl dein Assessor sein, Lotte«, meinte sie.

»Gott bewahre! Er sieht eher aus wie ein Jäger. Joppe, Rucksack, Lodenhut. Ein Gewehr sehe ich allerdings nicht. Jetzt setzt er sich in Trab und kommt geradeswegs den Hang herunter. Da bin ich wirklich gespannt, wer von uns eine so unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn ausübt.«

Was da in mächtigen, die Zuschauerinnen knabenhaft übermütig anmutenden Sätzen, die jedoch nur durch die Abschüssigkeit der Berglehne veranlaßt wurden, herabgepoltert kam, war weder der Assessor aus Halberstadt noch ein eingeborener Weidmann, sondern Herr Prokurist Hennig aus Leipzig. Er begrüßte Hilde mit der Herzlichkeit, die sich ja immer einzustellen pflegt, wenn Bewohner derselben Stadt, mögen sie sich bisher auch noch so ferngestanden haben, einander an einem fremden Ort unvermuteterweise begegnen. Diese Herzlichkeit stand gerade ihm gut zu Gesicht, aber auch das junge Mädchen, das ihn der Justizrätin und dem Schwesternpaare vorstellte, schien sich des seltsamen Zufalles zu freuen, der es hier, auf einer kleinen Waldwiese des großen Harzgebirges, mit dem immer wohlgelaunten Bekannten zusammengeführt hatte. »Wie merkwürdig! Eben erst hatte ich Ihrer gedacht, Herr Hennig,« sagte sie. »Wir sprachen von dem Bildchen, das Sie im Kunstverein gekauft haben.«

»Na ja, das geht gewöhnlich so. Wenn man den Esel nennt, kommt er gerennt,« erwiderte er lachend. Und auf die zusammengelegten Staffeleien und Feldstühlchen deutend, setzte er hinzu. »Die Damen wollen schon aufbrechen?«

»Wie Sie sehen, sind wir gerade dabei, unsere Siebensachen zu packen.«

»Ist es sehr unbescheiden, wenn ich Sie bitte, mir das Bild, das Sie da in Arbeit haben, einmal zu zeigen?«

Die junge Künstlerin zierte sich nicht. »Da wird mir schon nichts andres übrigbleiben. Einem Mäzen muß man gefällig sein«, erwiderte sie heiter, indem sie die nasse Leinwand behutsam aus dem Deckel ihres Malkastens löste und ihm zur Besichtigung hinhielt.

Er betrachtete das kleine Gemälde aufmerksam. »Die Buchengruppe ist sehr schön«, sagte er endlich.

»Aber –?« fragte sie in dem Bewußtsein, daß sich ihre Arbeit keineswegs seines uneingeschränkten Beifalls zu erfreuen habe. Und sie merkte dabei zu ihrem Erstaunen, daß sie, obwohl sie der Freundin eben erst erklärt hatte, sie habe zu seinem künstlerischen Geschmack kein allzu großes Vertrauen, auf sein Urteil doch mehr gab, als sie sich eingestehen mochte.

»Verzeihen Sie, ich bin ja, wenn ich auch eine Liebhaberei für Landschaften habe, in solchen Dingen nur Laie,« erklärte er, »aber – jetzt kommt das von Ihnen herausgeforderte Aber, Fräulein Hilde! – dem Bilde fehlt meiner Meinung nach eine gewisse Abrundung oder Geschlossenheit. Als reine Studie oder Vedute will ich's gelten lassen. Was mich stört, ist der breite und etwas leere Vordergrund. Für mein Gefühl hätte da noch irgend etwas hingehört. Ein wenig Buschwerk, ein gefällter Baum, eine Brombeerhecke oder meinetwegen auch nur ein paar Büschel hohes Waldgras.«

Hilde ließ das Bild langsam sinken. »Das war meine Empfindung auch,« gestand sie, »aber ich glaubte, mich streng an die Natur halten zu müssen.«

»Warum? Es kommt doch nicht darauf an, einen photographisch getreuen Abklatsch der Wirklichkeit zu geben. Als Künstlerin haben Sie das Recht, die Natur zu meistern, sie Ihren höheren Zwecken dienstbar zu machen.« Er geriet in Eifer und verbreitete sich ziemlich eingehend über die Anforderungen, die er an eine Landschaft zu stellen sich für berechtigt halte. Was er da vorbrachte, verriet, daß er sich mit derartigen Fragen viel beschäftigt haben mußte, und entzog seiner Behauptung, er sei in solchen Dingen nur Laie, den Boden.

Plötzlich schien ihm zum Bewußtsein zu kommen, daß er ja nicht mit Hilde allein sei, und so wandte er sich ziemlich unvermittelt an die Justizrätin. »Sind die Damen schon längere Zeit hier?« fragte er.

»Seit etwa vierzehn Tagen.«

»Dann werden Sie auch gewiß schon das Muffelwild gesehen haben?«

»Muffelwild? Was ist das?«

»Wildschafe, die vor einigen Jahren hier in den Bergen des Selketals ausgesetzt worden sind, und die sich erfreulicherweise gut einzubürgern scheinen.«

»Nennt man sie nicht auch Mufflons?« erkundigte sich die junge Lehrerin.

»Ganz recht, gnädiges Fräulein. Da diese Tiere jedoch ein deutsches Wild geworden sind, haben sie auch eine deutsche Bezeichnung erhalten.«

»Ich glaube, von Mufflons habe ich in Gregorovius' Buch über Korsika gelesen«, bemerkte Hilde.

»Das ist sehr wohl möglich. Korsika und Sardinien sind ja die Heimat dieses Wildes,« sagte Hennig, der sich schon oft über die Belesenheit des jungen Mädchens gewundert hatte. »Wir haben übrigens welche im Zoologischen Garten, aber hier in der freien Natur sehen die Tiere ganz anders aus. Als ich jetzt eben da oben am Rande des Kahlschlags vorüberkam, sah ich ein Rudel mit einem starken Bock. Wenn es die Damen interessiert, könnte ich sie einmal hinführen. Es ist ein eigenartiger Anblick, das fremde Wild in unserer Harzlandschaft zu sehen.« Er ließ seinen fragenden Blick von einer der Damen zur andern schweifen.

Hilde, der man die Lust zu dem kleinen Abstecher anmerkte, wandte sich an die Justizrätin. »Wie denken Sie darüber, Tante Konstanze? Wollen wir schnell noch einmal hinauf?«

Die muntere grauhaarige Dame war keine Spielverderberin. »Warum nicht?« sagte sie. »Wenn Herr Hennig so freundlich sein will, uns zu führen?«

»Mit Vergnügen!« versicherte er. »Es ist gar nicht weit. Wir brauchen alles in allem eine gute halbe Stunde.«

»Sie kennen hier wohl jeden Weg und Steg, Herr Hennig?« erkundigte sich Lotte.

»Wenn auch das nicht, so bin ich doch schon einige Male hier gewesen. Nicht zum wenigsten des Muffelwildes wegen. Als Naturfreund freut man sich doch, daß die deutsche Landschaft einen vollwertigen Ersatz für das Rotwild erhält, das ja aus forstwirtschaftlichen Gründen leider immer mehr eingeschränkt werden muß.«

»Kinder, beeilt euch, sonst wird es finster, ehe wir an Ort und Stelle sind!« mahnte die Tante.

»Wollen Sie Ihr Malgerät mitschleppen, meine Damen?« fragte Hennig mit einem erstaunten Blick auf Hilde und Marianne, die sich mit ihren Staffeleien, Stühlchen und Farbkasten bepackten. »Wir kommen hier nachher wieder vorbei, da wäre es doch wohl am gescheitesten, Sie ließen die Sachen hier zurück«, riet er.

»Und wenn sie inzwischen ein anderer findet und mitnimmt?« warf Marianne ein.

Er deutete lachend auf eine dichte Schonung. »Wir müssen natürlich alles gut verstecken,« meinte er. »Dort in den jungen Fichten wird kein Mensch so leicht etwas finden.«

»Nun ja, auf Ihre Verantwortung, Herr Hennig«, sagte Hilde, indem sie sich mit ihrer ganzen fahrenden Habe in die Schonung zwängte, was Marianne veranlaßte, ein Gleiches zu tun.

Der Prokurist entledigte sich seines Rucksacks und barg ihn ebenfalls unter den Fichten. »Zu Ihrer Beruhigung, meine Damen!« meinte er heiter.

Und nun brach man auf. Hennig übernahm die Führung; Hilde und Lotte schlossen sich ihm an, während die Justizrätin mit der ein wenig bequemen Marianne folgte und bei jeder Steigung ein Stückchen zurückblieb. Die drei an der Spitze mußten von Zeit zu Zeit stehenbleiben, um den beiden andern Gelegenheit zu geben, sie wieder einzuholen.

Hennig berichtete über seine Wanderung. Er war am frühen Morgen in Gernrode eingetroffen, hatte sich die schöne alte Sankt-Cyriaci-Kirche angesehen und dann durch das Hagental die Victorshöhe erstiegen. Jetzt war er auf dem Wege nach Alexisbad gewesen, wo er im Försterlingschen Gasthofe zu übernachten gedachte, um am nächsten Tage in aller Frühe über Friedrichsbrunn nach Treseburg zu gehen. Daß er eigentlich ein bißchen planlos losgezogen sei, gab er selbst zu, meinte aber, für ihn sei diesmal eine ausgiebige Bewegung in der frischen Luft die Hauptsache.

»Sie haben in diesem Sommer wohl keine größere Urlaubsreise unternommen?« fragte Hilde.

»Es fehlte mir an Zeit und auch an der nötigen inneren Ruhe dazu. Und eben deshalb habe ich, bevor der Winter kommt, jetzt wenigstens noch ein paar Tage ausgesetzt.«

»So schrecklich viel haben Sie zu tun?«

»Allerdings, Fräulein Hilde. Die Firma Wernicke bereitet ein großes neues Unternehmen vor, und wenn der Chef, von dem der Gedanke dazu ausgegangen ist, natürlich selbst auch das meiste dabei zu tun hat, so bleibt eine ganze Menge Arbeit doch auf mir sitzen.«

»Schon wieder ein neues Unternehmen? Und dabei bringen Sie, wie ich aus dem »Börsenblatt« ersehen habe, zum Herbst mindestens ein Dutzend Bücher heraus? Bei Ihnen muß doch entsetzlich gearbeitet werden.«

»Wird es auch, Fräulein Hilde. Stillstand sei Rückschritt, meint der Konsul. Diesmal handelt sich's aber um etwas ganz Großes, etwas, das es im deutschen Buchhandel bisher noch nicht gegeben hat. Mehr darf ich Ihnen vorläufig nicht verraten. Wie gesagt, die Idee stammt vom Chef selbst, der sich goldene Berge davon verspricht.«

»Sie möchten mit dieser neuen Sache wohl lieber gar nichts zu tun haben?«

»Weshalb?«

»Weil Sie nun schon zum zweiten Male betonen, daß der Herr Konsul dafür verantwortlich zu machen sei.«

Hennig lachte. »So? Habe ich das getan? Nun ja, so sehr entzückt bin ich von dem neuen Unternehmen allerdings nicht. Vielleicht wird es noch anders, wenn das Projekt erst in die Wirklichkeit umgesetzt worden ist. Einstweilen sehe ich nur einen Berg von Arbeit vor mir.«

Hilde, die schon früher aus mancherlei kleinen Anzeichen gemerkt hatte, daß Hennig keineswegs in allen Punkten mit den von Wernicke vertretenen Grundsätzen einverstanden war, beschloß, die günstige Gelegenheit dazu zu benutzen, ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen. »Befriedigt Sie Ihre Tätigkeit bei Wernicke und Kompanie eigentlich?« fragte sie ohne alle Umschweife.

Er sah sie überrascht an – beinahe ein wenig argwöhnisch. Daß sie zu ahnen schien, wo ihn der Schuh drückte, war ihm durchaus nicht angenehm. Aber er wußte auch, daß er dieses Mädchen, das so scharf beobachtete und seine Wahrnehmungen gewöhnlich auch richtig zu deuten verstand, selbst wenn er's gewollt hätte, nicht täuschen konnte. »Nicht immer, Fräulein Hilde«, antwortete er ehrlich.

»Das habe ich mir gedacht«, sagte sie.

»Es wird wohl jedem so gehen, der sich in einer ähnlichen Stellung befindet wie ich,« meinte er. »Man spielt den Puffer zwischen Chef und Personal. Da gilt es immer auszugleichen und die beiderseitigen Interessen in Einklang zu bringen. Und ich, der ich gewöhnlich sofort mit meiner Meinung herausplatze, habe so wenig Anlage zum Diplomaten. Gewiß, in mancher Beziehung genieße ich eine große Selbständigkeit, die ich gar nicht unterschätzen will, dafür verlangt der Konsul aber auch wieder ein mehr als bereitwilliges, ich möchte beinahe sagen: ein begeistertes Eingehen auf seine Ideen und Absichten, und das fällt mir manchmal recht schwer. Ich kann wohl sagen, daß ich mit andern Voraussetzungen und Erwartungen in den Buchhandel gekommen bin, aber das ist nun wohl nicht anders: man macht sich im Leben von allen Dingen falsche Vorstellungen.« Und, als müsse er dieses freimütige Bekenntnis doch etwas abschwächen, setzte er nach einer kleinen Pause hinzu: »Beklagen will ich mich aber deshalb doch nicht. Bis jetzt bin ich mit Wernicke immer ganz erträglich ausgekommen. Er ist in seiner Art sogar ein genialer Mensch, allerdings mehr Kaufmann als Verlagsbuchhändler. Wenn ich Ihren Herrn Vater richtig beurteile, Fräulein Hilde – und ich glaube, ihn ein wenig zu kennen –, so neigt er zum entgegengesetzten Extrem. Er ist meines Erachtens wieder mehr Gelehrter als Verleger. Das halte ich auch nicht für das Richtige. Ein Mann, der genau in der Mitte zwischen Ihrem Herrn Vater und Konsul Wernicke stünde, würde meinem Ideal von einem Buchhändler am meisten entsprechen.«

Hilde geriet über die unerwartete Wendung, die das Gespräch genommen hatte, in nicht geringes Erstaunen. Daß jemand an ihrem Vater in so freimütiger Weise Kritik üben konnte, war ihr neu. Aber sie mußte sich's eingestehen: Hennig hatte recht. Mit seiner kurzen Bemerkung hatte er ihr, die noch nie auf den Gedanken gekommen war, daß ihr verehrter Vater anders hätte sein können, als er war, die Augen geöffnet. »Ich glaube, man sollte sein Ideal nie unter den lebenden Menschen suchen,« sagte sie mit einer leisen Herbheit im Tone, die ihm nicht entging, »wünscht man seine Realität, so muß man sich selbst bemühen, es zu verwirklichen.«

Sie hatte diese Behauptung nur aufgestellt, um ihn in seine Schranken zu weisen, aber auf ihn wirkte das Wort wie eine Offenbarung. Ihm war, als habe sie da in einem eigens auf ihn gemünzten Leitspruch einem Gedanken Ausdruck gegeben, der längst in seiner Seele geschlummert hatte, und der, wie er mit Erstaunen wahrnahm, nur dieses äußeren Anstoßes bedurft zu haben schien, um zum festen Vorsatze zu kristallisieren.

Er kam jedoch nicht dazu, mit dem jungen Mädchen darüber zu sprechen, denn sie hatten das Ziel ihrer Wanderung erreicht. Vor ihnen dehnte sich als sanft geneigte, von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtete Fläche der Kahlschlag, auf dem sich zwischen dem dichten Gewirr üppiger Stockausschläge ein paar Überhälter mit lichten Kronen erhoben. Man mußte einen Augenblick warten, bis die Justizrätin und Marianne zur Stelle waren, dann stieg man noch einige Schritte bergan und konnte nun, hinter Buschwerk gedeckt, die Blöße übersehen.

Das seltene Wild, das inzwischen weitergezogen war, ließ sich freilich nicht so leicht entdecken. Die Damen machten schon enttäuschte Gesichter, aber Hennig suchte mit seinem Glase das ganze Gelände ab und hatte schließlich auch das Glück, das Rudel wiederzufinden. Die Wildschafe standen am jenseitigen Rande des Schlages und ästen, während zwei Bocklämmer, die einen Hang erklettert hatten, im Bewußtsein ihrer Männlichkeit einander mit den kurzen Gehörnen heftig bekämpften. Der starke Bock schien jedoch spurlos verschwunden zu sein. Erst als sich die kleine Gesellschaft auf den Heimweg begeben wollte, tauchte er ganz unvermutet hinter der hochaufragenden Wurzelscheibe einer gestürzten Tanne auf, sicherte ein paar Sekunden nach den Beobachtern hinüber und ging dann, auch das Rudel flüchtig machend, in den nahen Mischwaldbestand ab.

Die vier Damen hatten ihn trotzdem ganz deutlich sehen können und besprachen nun, etwas aufgeregt bergab wandernd, den eigenartigen Eindruck, den das herrliche Wild mit der rotbraunen Decke, der fahlgrauen Sattelzeichnung, den auf der Innenseite weißen Läufen und den weit ausladenden, nach vorn wieder emporgekrümmten Kruken auf sie gemacht hatte.

Plötzlich hielt die Justizrätin mit einem leisen Klagelaut an und suchte an Mariannens Schultern eine Stütze. Sie hatte sich den Fuß vertreten und mußte nun, nachdem sie den ersten, empfindlichen Schmerz überwunden hatte, Schritt für Schritt den ziemlich steilen Weg hinuntergeleitet werden. Hennig bot ihr den Arm und führte sie, jede unebene Stelle fürsorglich vermeidend, wie ein erfahrener Samariter nach Hause.

Es war schon völlig finster, als man in der Klostermühle, wo die Damen wohnten, anlangte. Der Vorsatz, gemeinsam das Abendbrot einzunehmen, mußte aufgegeben werden, da sich die Notwendigkeit herausstellte, den stark angeschwollenen Fuß Tante Konstanzens einer sachgemäßen Behandlung zu unterziehen. Hennig selbst war es, der darauf drang. Er brachte die Justizrätin noch die Treppe hinauf und verabschiedete sich vor der Tür ihres Zimmers.

Die gute Tante, die sich und den Mädchen gern ein längeres Beisammensein mit dem unterrichteten jungen Buchhändler gegönnt hätte, war über die Wendung der Dinge untröstlich. Jedesmal, wenn sie den kalten Umschlag erneuerte – und daß dies recht oft geschah, dafür sorgte besonders Hilde! – wurde sie an ihr Mißgeschick erinnert, das ihre Pläne für den heutigen Abend so tückisch durchkreuzt hatte. Sie konnte sich nicht genug darin tun, Hennigs angenehme Umgangsformen, seine vielseitige Bildung, sein frisches Wesen und nicht zuletzt seine Hilfsbereitschaft ihr gegenüber zu rühmen, und verstieg sich schließlich zu dem für sie wenigstens recht kühnen Ausspruch: »Kinder, das wäre ein Schwiegersohn nach meinem Herzen!«

Lotte, die als Lehrerin auf Logik hielt, meinte lachend: »Aber Tantchen! Was willst du mit einem Schwiegersohn? Du hast ja gar keine Tochter.«

»Das ist ja eben das Unglück,« erwiderte die wackere Frau, »so manche Mutter sucht für ihre Tochter jahrelang vergeblich einen passenden Gatten, und ich, die ich kinderlos bin, muß einen jungen Mann finden, dem ich meine Tochter ohne weiteres anvertrauen möchte.«


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