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Siebzehntes Kapitel

»Glauben Sie nur nicht, daß Sie von meinem Bruder eine klare Auskunft erhalten werden. Ich kenne ihn doch. Er hat die Absicht, die Sache auf die lange Bank zu schieben und die Leute schließlich mit einem geringfügigen Betrag abzuspeisen«, bemerkte Albrecht Wernicke zu Hennig, als sie ein paar Wochen nach der Jubiläumsfeier eines Morgens über die Stiftungsangelegenheit sprachen.

»Wenn der Herr Kommerzienrat wenigstens von den Stiftungen für die Presse nicht so viel Aufhebens gemacht hätte! Aber gerade dadurch hat er beim Personal Erwartungen geweckt, die zu erfüllen er schwerlich geneigt sein wird«, meinte der Prokurist.

»Natürlich, daran wird er gar nicht denken. Von Zuwendungen an die Angestellten erfährt die Welt ja nicht viel, während seine Fürsorge für die Angehörigen der Presse an die große Glocke gehängt wird. Das ist für ihn eben ausschlaggebend.«

»Diese Auffassung ist auch schon unter unseren Leuten verbreitet. Gestern war ein dreiköpfiger Ausschuß bei mir, um mich in aller Form um Aufklärung zu ersuchen. Ich habe selbstverständlich nur sagen können, ich wisse über den Stand der Angelegenheit selbst nichts Genaues, sei jedoch bereit, im Namen des Personals an Ihren Herrn Bruder die Bitte zu richten, die versprochenen näheren Mitteilungen nicht noch länger hinauszuzögern. Daß es unter den buchhändlerischen Angestellten ohnehin seit einiger Zeit gärt, darauf habe ich den Herrn Kommerzienrat schon wiederholt aufmerksam gemacht, aber er scheint nicht daran zu glauben.«

»Er glaubt eben nichts, was unangenehme Folgen für ihn haben könnte. Sonst ist er doch ein so kluger und weitschauender Mann, aber in solchen Dingen steckt er wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand.«

»Das ist leider nur zu wahr, Herr Wernicke. Was mich vor allem kränkt, ist die Gepflogenheit Ihres Herrn Bruders, hinter meinem Rücken alle möglichen Maßnahmen zu treffen, für die ich dann bis zu einem gewissen Grade die Verantwortung tragen soll. Ich merke täglich deutlicher, daß ich hier überflüssig geworden bin, und habe mich entschlossen, die Konsequenzen daraus zu ziehen.«

»Sie wollen wohl kündigen?«

»Allerdings. Was bleibt mir denn andres übrig? Hier den Strohmann zu spielen, verspüre ich nicht die geringste Neigung.«

Der Zwerg maß den Prokuristen mit einem halb bewundernden, halb neidischen Blick. »Wissen Sie, ich gäbe zehn Jahre meines Lebens darum, wenn ich in Ihrer Haut steckte,« sagte er. »Sie sind ein freier Mann und können machen, was Sie wollen. Die ganze Welt steht Ihnen offen. Ich dagegen bin leider an die Firma Wernicke und Kompanie gefesselt, denn ich habe mein kleines Erbteil und meine geringen Ersparnisse hier im Geschäft angelegt. Und wenn ich das Geld ja auch herausziehen könnte, was sollte ich anfangen? Um selbst irgendetwas zu unternehmen, dazu bin ich doch nicht bemittelt genug, und wo fände ein Mensch wie ich, den niemand für voll ansieht, ein Unterkommen? Ich muß meinem Bruder ja noch dankbar dafür sein, daß er mich hier duldet.«

Hennig, der seinen eigenen Verdruß über dem Kummer des bedauernswerten Männchens beinahe vergessen hatte, wollte etwas Beschwichtigendes und Tröstendes erwidern, aber ihre Unterhaltung wurde durch Irmgards Eintreten unterbrochen.

Das junge Mädchen fragte nach dem Vater und tat sehr verwundert, als es vernahm, er sei noch gar nicht ins Geschäft gekommen. Dann wolle sie warten, erklärte sie, denn die Mutter habe sie beauftragt, sich vom Vater Geld zum Bezahlen einer Rechnung geben zu lassen. »Es ist gut, daß ich wenigstens Sie treffe, Herr Hennig,« sagte sie, dem Prokuristen mit der größten Unbefangenheit die Hand schüttelnd. »Ich habe Sie nämlich schon lange fragen wollen, ob Sie nicht Lust hätten, unserm Tennisklub beizutreten.«

»Ich Ihrem Tennisklub beitreten?« Hennig lachte so herzlich, als habe die junge Dame einen unbezahlbaren Witz gemacht.

»Ja natürlich! Weshalb denn nicht? Sie meinen, weil es jetzt bald auf den Winter losgeht? Das kümmert uns nicht; wir spielen so lange, wie es das Wetter eben erlaubt. Und später veranstalten wir jede Woche einmal ein geselliges Beisammensein im ›Fürstenhof‹.«

»Sehr schön. Aber woher sollte ich zum Tennisspielen die Zeit nehmen, Fräulein Irmgard?«

Sie rümpfte das Näschen. »Gott, Zeit! Wenn man zu etwas Lust hat, findet man auch allemal die Zeit dazu,« meinte sie. »Tennis ist doch eine so gesunde Körperübung.«

»Daran zweifle ich keinen Augenblick. Aber ich möchte wissen, was Ihr Herr Vater sagen würde, wenn ich eines schönen Tages im Tennisdreß zur Arbeit käme und dann um drei oder vier alles liegen und stehen ließe und mit dem Schläger bewaffnet abzöge.«

»Nun ja, daran habe ich freilich nicht gedacht. Aber es braucht ja nicht gerade in der Woche zu sein. Sonntags spielen wir jetzt immer von neun bis elf.«

»Auch dann würde ich nicht zur Verfügung stehen können, Fräulein Irmgard. Sonntags früh unternehme ich gewöhnlich eine weitere Wanderung. Sie wissen, ich bin nun einmal Naturschwärmer und suche meine Erholung am liebsten auf einsamen Spaziergängen, wo ich Gelegenheit habe, Landschaftsbilder auf mich wirken zu lassen und, wenn möglich, Tiere zu beobachten.«

»Sie gehen ganz allein? Das denke ich mir aber furchtbar ledern.«

»Über den Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten.«

»Sie sind recht ungefällig, Herr Hennig. Und ich hatte so fest auf Sie gerechnet.«

»Sehr schmeichelhaft für mich, aber, wie gesagt, meine Sonntagvormittage sind schon besetzt.«

»Schade! Wir hätten Sie so gut brauchen können. Seit sich Cederholm von uns zurückgezogen hat, und Assessor Osthoff als Amtsrichter nach Borna versetzt worden ist, leiden wir nämlich an Herrenmangel. Und wenn's an Herren fehlt, bleiben auch die Damen weg. Margot von Sanden und ich wollen deshalb tüchtig keilen und für neue Herren sorgen.«

»Ich muß schon bitten, von mir abzusehen, Fräulein Irmgard, wünsche Ihnen aber von Herzen, daß Sie anderswo mehr Erfolg haben möchten.«

»Mit Ihnen ist auch gar nichts anzufangen,« sagte sie, ohne aus ihrer Verstimmung ein Hehl zu machen. »Ich hatte mir die Sache so hübsch gedacht. Und für Ihre Gesundheit wäre ein bißchen Sport auch sehr zuträglich gewesen. Aber wenn Sie nicht wollen, so lassen Sie's eben bleiben.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und wandte sich dem kleinen Herrn zu. »Wie wär's denn mit dir, Onkel Albrecht? Hättest du nicht Lust, in die Bresche zu springen?« fragte sie lachend. »Dir würde so etwas auch nicht schaden.«

»Lust hätte ich schon, aber ich fürchte, wenn ich auf dem Tennisplatz erschiene, würden die übrigen Damen auch noch wegbleiben. Und damit dürfte dir schwerlich gedient sein«, erwiderte er, mit einigem Unbehagen auf ihren Scherz eingehend.

»Warum, Onkel? Tennis werden wir dir schon beibringen, und im übrigen bist du doch ein recht amüsanter Gesellschafter.«

Er maß die Nichte mit einem argwöhnischen Blick. »Amüsant? Wieso? Meinst du, weil ich so ein kleines Scheusal bin?«

»Aber Onkel, das bist du ja gar nicht. Daß du nicht das Gardemaß hast, ist ja richtig, und daß du gerade kein Adonis bist, will ich auch zugeben. Aber du kannst so famose trockene Witze machen, genau wie Assessor Osthoff. Und solche Leute können wir brauchen, denn die anderen Herren sind meist so schrecklich langstielig und meinen, es genügte, wenn sie Süßholz raspelten.«

»Süßholz habe ich allerdings noch nie geraspelt«, erwiderte der Zwerg, den die Anspielung auf seine Schlagfertigkeit, die wenigstens bei der Nichte Anerkennung zu finden schien, halbwegs wieder versöhnt hatte.

Jetzt trat der Kommerzienrat ein, schien etwas ungehalten darüber, seine Tochter vorzufinden, und fertigte sie in einer ziemlich bärbeißigen Art ab. Hennigs Frage nach dem Stande der Stiftungsangelegenheit verbesserte seine Stimmung nicht. »Herr Gott, ich habe in diesen Tagen wirklich mehr zu tun, als endgültige Entscheidungen in Dingen zu treffen, die wohl überlegt sein wollen, und mit denen es doch gar keine Eile hat«, fuhr er den Prokuristen an.

»Das ist sehr bedauerlich, Herr Kommerzienrat. Dürfte ich dann wenigstens bitten, mir zu sagen, bis wann das Personal bestimmt auf die ihm in Aussicht gestellten Mitteilungen rechnen kann?«

»Ich liebe es nicht, mich zu irgend etwas nötigen zu lassen. Das sollten Sie wissen, Herr Hennig. Innerhalb weniger Tage kommen Sie nun schon zum drittenmal, um mir die Pistole auf die Brust zu setzen. Das paßt mir nicht, und ich muß Sie dringend ersuchen, Ihrer Neugier Zügel anzulegen.«

Hennig blieb vollkommen ruhig. »Mich persönlich interessiert die Sache nicht im geringsten, Herr Kommerzienrat,« sagte er. »Ich wollte Sie nur nochmals darauf aufmerksam machen, daß die Angestellten auf ihrem Schein bestehen. Sie haben ihnen beim Jubiläum zugesagt, daß Sie in der allernächsten Zeit die Bestimmungen über die geplante Stiftung bekanntgeben würden, und nun sind nahezu drei Wochen verflossen, ohne daß dies geschehen wäre.«

»Es ist wirklich ein Skandal, Paul,« mischte sich Albrecht der Beherzte ins Gespräch. »Die Leute müssen glauben, du wolltest sie übers Ohr hauen. Siehst du denn nicht ein, daß so etwas böses Blut machen muß? Wenn man mich fragt, was ich davon hielte, so sage ich geradeheraus, ich könne selbst nicht glauben, daß es dir mit deinem großartigen Versprechen wirklich ernst sei.«

»Würdest du nicht die Güte haben und dich um deine Angelegenheiten bekümmern, Albrecht?« sagte Wernicke gereizt. »Ich habe dir doch schon wiederholt zu verstehen gegeben, daß Dinge, die nicht zu deinem Ressort gehören, dich nichts angehen. Und Sie, Herr Hennig? Haben Sie etwa sonst noch einen Wunsch?«

»Nur den einen, eine bestimmte Antwort auf meine Frage zu erhalten. Ich wiederhole, daß mich das Personal beauftragt hat, diese Frage an Sie zu richten.«

»So. Das sieht ja ganz so aus, als ob Sie das Interesse des Personals dem der Firma voranstellten. Recht schön, das muß ich sagen! So etwas hätte ich nie und nimmer von Ihnen erwartet.«

»Meiner Überzeugung nach kann ich das Interesse der Firma nicht besser wahren, als dadurch, daß ich die berechtigten Wünsche der Angestellten nach Kräften unterstütze. Wenn die Leute mit Lust und Liebe arbeiten sollen, müssen sie die Überzeugung haben, daß ausgiebig für sie gesorgt wird. Vor allem darf bei ihnen der Verdacht nicht aufkommen, daß sie als das fünfte Rad am Wagen betrachtet würden.«

Der Kommerzienrat trommelte ungeduldig auf die Platte seines Schreibtisches. »Daran denkt ja niemand, bester Herr. Die Leute sollen mir nur Zeit lassen. Ich will nun einmal nicht gedrängt werden. Haben Sie also die Güte und geben Sie Ihren Mandanten zu verstehen, daß ich die Sache keineswegs aus den Augen verloren habe, daß ich mir aber das Recht vorbehalten müsse, Herr in meinem eigenen Hause zu bleiben. Wem das nicht paßt, dem steht es ja frei, seiner Wege zu gehen. Sonst noch eine Mitteilung?«

»Jawohl, Herr Kommerzienrat, allerdings eine, die schließlich auch bis zum 16. November Zeit hätte, von der ich jedoch annehmen zu dürfen glaube, daß es Ihnen erwünschter ist, wenn Sie sie schon heute erhalten.«

Wernicke horchte auf. »Das klingt ja recht feierlich,« meinte er. »Was gibt's denn?«

»Ich sehe mich leider genötigt, Ihnen zum 1. Januar zu kündigen.«

»Kündigen? Machen Sie doch keine schlechten Witze!«

»Zu schlechten Witzen habe ich keine Veranlassung. Ich rede in vollem Ernst.«

»Ach was, nur keine Unbesonnenheit, mein lieber Herr Hennig! Lassen Sie sich durch eine momentane Verstimmung doch nicht zu Übereilungen hinreißen! Kündigen! Das fehlte gerade noch! Wir beide sind doch aufeinander angewiesen.«

Der Prokurist lächelte. »Wie ich über diesen Punkt denke, habe ich Ihnen schon bei einer unserer früheren Auseinandersetzungen angedeutet, Herr Kommerzienrat.«

Wernicke wandte sich an seinen Bruder. »Du könntest uns wohl ein paar Minuten allein lassen, Albrecht,« sagte er, worauf der kleine Mann, etwas Unverständliches vor sich hinknurrend, im Hauptkontor verschwand. Als er weg war, legte der Kommerzienrat dem Rebellen vertraulich die Hand auf die Schulter und meinte: »Wenn Sie wirklich auf den Gedanken gekommen sein sollten, Sie wären hier überflüssig, so irren Sie gewaltig, lieber Freund. Ihre Mitarbeit ist mir jetzt sogar wertvoller als je. Sehen Sie? Sie können mich doch, wo mir die Arbeit immer mehr über den Kopf wächst, nicht im Stiche lassen wollen. Das geht doch unmöglich. Aber, auch abgesehen davon, wer weiß, ob Sie jemals wieder Gelegenheit haben werden, an einem Kulturwerk von der Bedeutung unserer ›Phöbus-Bücherei‹ mitzuarbeiten.«

Hennig lächelte. »Ich denke, irgendeine bescheidene Aufgabe wird sich schon für mich finden, Herr Kommerzienrat,« sagte er. »Jedenfalls muß ich, so leid es mir tut, auf meiner Kündigung bestehen.«

»Sie sind und bleiben ein Spaßvogel, Herr Hennig. Als ob ich Sie so ohne weiteres gehen ließe! Ihre Kündigung ist doch nur ein Schreckschuß. Sie werden mir bei unseren ausgezeichneten freundschaftlichen Beziehungen doch so etwas nicht antun. Wenn Sie etwa besser gestellt zu sein wünschen, so sprechen Sie einmal frei von der Leber. Sie wissen ja, daß ich jederzeit mit mir reden lasse.«

»Sehr gütig, Herr Kommerzienrat, aber das hat nun keinen Zweck mehr. Mein Entschluß ist gefaßt. Ich beherzige ja nur Ihre eigenen Lehren: ›jeder ist sich selbst der Nächste‹, und ›im geschäftlichen Leben gibt es keine Rücksichten‹.«

Wernicke geriet in einige Verlegenheit. »Na ja, lieber Freund, so etwas Ähnliches habe ich ja gelegentlich gesagt, aber solche Redensarten sind doch – wie heißt es nur gleich? – cum grano salis zu verstehen. Und wenn Sie, was ich Ihnen gar nicht zutraue, wirklich auf dem Standpunkt stehen sollten, Sie müßten Ihren eigenen Vorteil allem andern voranstellen, so scheint mir doch, daß Sie in diesem Falle ganz und gar nicht in Ihrem Interesse handeln. Geradeheraus gesagt: ich habe immer damit gerechnet, daß Sie sich im Laufe der Zeit noch fester mit meinem Hause liieren würden. Meinen Sie nicht selbst, das sei das Vorteilhafteste für Sie? Glauben Sie, daß man Ihnen anderswo eine solche Position bieten würde? Ich bin auch nicht mehr der jüngste und muß daran denken, eines Tages mein Lebenswerk in bewährte Hände zu legen. Wer käme da anders in Frage als Sie? Sie mit Ihrem köstlichen Idealismus, der zu unserer Arbeit so notwendig ist?«

Wie sich Wernicke die festere Liierung des Prokuristen mit seiner Firma dachte, war aus seiner Rede nicht klar zu erkennen. Ob er, der sich, wie das seine Gattin einmal angedeutet hatte, einen Buchhändler zum Schwiegersohn wünschte, etwa eine Verbindung Hennigs mit Irmgard ins Auge gefaßt hatte?

Dem jungen Manne wurde es bei diesem Gedanken etwas unbehaglich zumute. Nicht nur, daß es seinem stark entwickelten Freiheitsdrange widerstand, sich durch Familienbande für sein ganzes Leben an die Wernickesche Bücherfabrik fesseln zu lassen: er stellte auch an seine zukünftige Lebensgefährtin höhere Ansprüche, als sie die schöne und wohl auch gutherzige, aber recht unbedeutende und oberflächliche Tochter des Kommerzienrats zu erfüllen vermochte. »Mein Idealismus bewegt sich doch in einer wesentlich andern Richtung,« erklärte er. »Ich beabsichtige, mich selbständig zu machen.«

Wernicke schob den Klemmer hinter die Brille und maß seinen Prokuristen mit einem Blick grenzenlosen Erstaunens. »Selbständig machen? Hören Sie, das ist ein Wagnis. Alle Hochachtung vor Ihrem Mut, aber lassen Sie sich von einem erfahrenen Manne warnen, lieber Freund! Heutzutage ein Geschäft anzufangen, das will zehnmal überlegt sein.«

»Ich habe mir's sogar hundertmal überlegt, Herr Kommerzienrat.«

»Dann überlegen Sie sich's auch noch zum hundertunderstenmal, bester Herr Hennig! Ich sollte denken, Sie müßten jetzt, wo Sie meine Ansichten und Absichten kennen, die Angelegenheit doch in ganz anderm Lichte sehen. Tun Sie mir den einzigen Gefallen und überstürzen Sie nichts. Heute haben wir so herrliches mildes Herbstwetter. Benutzen Sie den schönen Nachmittag zu einem Spaziergang in die freie Natur und lassen Sie sich die Sache dabei noch einmal durch den Kopf gehen. Ich bin fest überzeugt, Sie werden dann zu einem andern Entschlusse kommen.«

Hennig wäre kein so leidenschaftlicher Naturfreund und Wanderer gewesen, wenn er diesem Vorschlage des Kommerzienrats nicht bereitwillig zugestimmt hätte. Den Spaziergang wolle er, wenn er ihm damit einen Gefallen tue, gern unternehmen, erklärte er, aber über das Ergebnis der hundertundersten Überlegung sei er keinen Augenblick im Zweifel: er werde bei seinem längst gefaßten Entschlusse bleiben. Jedenfalls müsse er die Kündigung einstweilen aufrechterhalten.

###

Gleich nach Tisch fuhr Hennig mit der Straßenbahn nach Gundorf, um das Teichgebiet zwischen Luppe und Bienitzwald aufzusuchen, das jetzt, zur Zeit des Vogelzuges, Gelegenheit zu mancherlei Beobachtungen bot. Hier draußen hatte er schon seit Jahren manchen schönen Frühlings- und Herbstsonntag verbracht, hier kannte er Weg und Steg.

Er ließ das Dorf hinter sich, wanderte auf der mit verkrüppelten Pflaumenbäumen eingefaßten Landstraße bis zum Rande des Auenwaldes und drang von dort aus auf schmalen Dammpfaden durch das hohe Schilf in die zum Teil schon verlandete, mit seichten Teichen durchsetzte Sumpfniederung ein. Aus dem Röhricht gingen Schwärme von Stock- und Pfeifenten auf; Scharen von Strandläufern und Goldregenpfeifern trippelten, geschäftig nach Nahrung suchend, auf dem Schlick des Ufersaumes umher, und über dem Walde kreiste ein Schwarzer Milan, der sich auf seiner Wanderung gen Süden verspätet haben mochte. Die Luft war still und kaum minder warm als an einem sonnigen Septembertage. Nur die rötlichbraunen Laubmassen der Eichen und die goldgelben Strähnen des Birkengezweigs, die sich gegen das stumpfe Grün der Eschen und Erlen in kräftigen Farbtönen abhoben, verrieten, daß man schon weit im Herbste war.

Hennig verlangsamte seine Schritte und weidete das Auge an dem stimmungsvollen Landschaftsbilde. Der scheckige Wald da drüben, die schilfumsäumten glatten Wasserflächen, in denen sich, von niedrigen Kaupen unterbrochen, das zarte Blau des Himmels spiegelte, das war so eine Ansicht nach seinem Geschmack. Wieviel Menschen mochten in der Stadt leben, die keine Ahnung davon hatten, daß man so etwas kaum eine Stunde vor den Toren finden könnte! Er dachte an Hilde Blumhardt, die ja immer auf der Suche nach dankbaren Motiven war, und nahm sich vor, sie auf die Reize der Gundorfer Teiche aufmerksam zu machen.

Ziemlich in der Mitte des Sumpfgebietes lagen die Trümmer eines Ziegelbaus, der wohl vor Zeiten, als die jetzt nahezu völlig verschlammten Wasserbecken noch mit Karpfen besetzt gewesen waren, dem Teichwärter zur Wohnung gedient hatte. Diese Ruine, zwischen deren Mauerresten man gegen Wind und Nässe geschützt sitzen und, vollkommen gedeckt, das Vogelleben ringsumher beobachten konnte, pflegte Hennig bei seinen Besuchen gewöhnlich als eine Art Observatorium zu benutzen. Auch heute lenkte er seinen Schritt wieder dorthin. Als er sich bei der letzten Wendung des Pfades durch das hohe Schilf wand, wo sich ihm freie Aussicht nach allen Seiten öffnete, machte er zu seiner Überraschung die Entdeckung, daß seine Warte schon besetzt war. Hinter dem Mauerrande stand ein weibliches Wesen, eine Malerin, die allem Anscheine nach damit beschäftigt war, den bunten Herbstwald mit der Wasserfläche davor auf die Leinwand zu bannen.

Er hob sein Glas und faßte die schlanke Gestalt ins Auge. Es war Hilde.

Das Herz klopfte ihm vor Freude, und er beeilte sich, sie zu begrüßen und in seinem kleinen Reiche willkommen zu heißen. Auch das junge Mädchen schien von der unerwarteten Begegnung angenehm berührt worden zu sein.

Hennig gestand Hilde, daß er eben erst, bei der Betrachtung des schönen Landschaftsbildes, an sie gedacht habe. Sie errötete leicht und wandte sich mit verdoppeltem Eifer ihrer Arbeit zu. Er breitete seinen Lodenmantel über den Mauerrest der Rückwand, schwang sich hinauf und beobachtete, in der warmen Sonne sitzend, wie sie mit sicherem Pinselstrich Reflexlichter auf den gemalten Wasserspiegel setzte. Zuweilen, wenn sich irgendein merkwürdiger Vogel zeigte, machte er sie darauf aufmerksam. Sie hielt dann mit Malen inne, folgte mit dem Auge dem flüchtigen Wanderer und ließ sich auch wohl das Glas reichen, um ihn genauer zu betrachten. Daß der Schwarze Milan, der immer noch über den braunen Eichenwipfeln seine Kreise zog, mit auf das Bild kam, hatte er Hennig zu verdanken.

Als Hilde sich über dessen genaue Kenntnis der Vogelwelt wunderte, kam das Gespräch auf ihre beiderseitigen Liebhabereien. Er meinte, er mit seiner Naturbeobachtung sei, wenn er schöne Eindrücke festhalten wolle, lediglich auf sein Gedächtnis angewiesen, sie aber sei in der glücklichen Lage, alles, was ihr gefalle, auf der Leinwand oder auf den Blättern ihres Skizzenbuches verewigen zu können.

Sie sagte, während sie ein paar Schritte von der Staffelei zurücktrat und die Wirkung des Bildes prüfte: »Für mich hat das Malen aufgehört, eine Liebhaberei zu sein. Ich betrachte es jetzt als meinen Beruf. Wenn ich natürlich auch zunächst nicht darauf hoffen darf, mir meinen Lebensunterhalt durch den Verkauf von Bildern zu erwerben, so rechne ich doch damit, Schülerinnen zu finden, was um so wichtiger für mich ist, als ich ja möglicherweise meine Eltern werde unterstützen müssen. Um ganz sicher zu gehen, nehme ich jetzt abends auch Unterricht in Stenographie und Maschinenschreiben, damit ich mir, wenn es sich herausstellt, daß ich mit dem Malen nicht durchkomme, eine Stelle im Buchhandel oder in einer Redaktion suchen kann.« Sie sprach ruhig und sachlich, wie jemand, der sich über seine Lage keiner Täuschung hingibt, aber entschlossen ist, sich vom Schicksal nicht unterkriegen zu lassen.

Hennig dachte darüber nach, wie sich wohl die verwöhnte Tochter seines Chefs benehmen würde, wenn sie mit Hilde die Rollen tauschen müßte. Nach einigen Minuten teilnahmvollen Schweigens bemerkte er: »Ich glaube, über die Zukunft Ihrer Eltern dürfen Sie völlig beruhigt sein, Fräulein Hilde. Die Passiva sind ja im Vergleich zu den Aktiven so geringfügig, daß nach Abzug aller Schulden und Kosten eine ganz ansehnliche Summe übrigbleiben wird, die Ihren Eltern erlauben durfte, wenn auch bescheiden, so doch sorgenlos zu leben.«

»Ich sehe noch kein Ende des Konkurses,« erwiderte sie. »Die ›Aurora‹ hat ja einen Käufer gefunden – für Vater war das übrigens ein neuer Schlag, da er die Zeitschrift für einen unveräußerlichen Bestandteil des Geschäftes hielt! – aber für den Buchverlag wird sich wohl nicht so leicht ein Bewerber einstellen. Die Richtung, die Vater pflegte, ist doch nicht nach jedermanns Geschmack.«

»Glücklicherweise nicht! Ich kann Ihnen jedoch versichern, daß die Firma Friedrich Ambrosius Blumhardt auch heute noch bei allen wahrhaft Gebildeten einen guten Klang hat.«

»Ich bin in der letzten Zeit skeptisch geworden. Ganz beruhigt werde ich erst wieder sein, wenn ein ernsthafter Reflektant für den Verlag auftaucht«, sagte sie, während sie in ihrem Kasten nach einer Tube suchte und einen tüchtigen Klecks Ocker auf die Palette drückte.

Er glitt von seinem Sitz herunter, trat an ihre Seite und sah sie mit fröhlichen Augen an. »Dann bin ich allerdings in der angenehmen Lage, Sie beruhigen zu können, Fräulein Hilde,« erklärte er. »Ein ernsthafter Reflektant bin ich nämlich selbst.«

»Sie, Herr Hennig?«

»Freilich, und ich habe die begründete Hoffnung, daß meine Verhandlungen mit Nürnberger schon in den nächsten Tagen zu einem befriedigenden Abschluß führen werden.«

Wenn er erwartet hatte, daß sie bei dieser Eröffnung ihrer Freude Ausdruck geben würde, so war das eine Täuschung. »Sie gedenken den Verlag wohl für die Firma Wernicke zu kaufen?« fragte sie beinahe ängstlich.

Er lachte, denn an diese Möglichkeit hatte er noch nicht gedacht. »Um Gottes willen, was Sie denken, Fräulein Hilde! Dazu würde ich mich nicht hergeben. Nein, für mich selbst will ich das Geschäft kaufen. Ich habe nämlich meine Stellung bei Wernicke und Kompanie heute zum 1. Januar gekündigt.«

Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich von ihrer Überraschung zu erholen. »Ich wußte gar nicht, daß Ihnen so bedeutende Mittel zu Gebote stehen«, bemerkte sie dann gleichmütig.

»Nun, ich bin zwar im Besitz eines kleinen Vermögens, aber zum Ankauf der Firma Blumhardt reicht es natürlich bei weitem nicht aus. Ihnen kann ich's ja anvertrauen, Fräulein Hilde: das Fehlende stellen mir Stricker und Stolze unter sehr annehmbaren Bedingungen zur Verfügung.«

»Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück,« sagte sie, ihm kräftig die Hand schüttelnd. »Vater wird es freuen, daß der Verlag, den er mit so viel Liebe ausgebaut hat, in gute Hände kommt.«

»Sie scheinen Vertrauen zu mir zu haben; dafür bin ich Ihnen nicht weniger dankbar als für Ihre guten Wünsche. Vertrauen ermutigt, und Mut brauche ich eine ganze Menge, denn ich bin mir vollständig darüber im klaren, daß es immerhin kein geringes Wagnis ist, seine geschäftliche Existenz mit fremdem Gelde zu begründen.«

Von den Wiesen waren weiße Nebelschwaden aufgestiegen, und die Sonne stand als blutrote Scheibe schon tief am dunstigen Horizont. Alle Farben des Landschaftsbildes waren verblaßt, und die junge Malerin, der der kurze Oktobernachmittag viel zu schnell vergangen war, schickte sich an, ihr Gerät zusammenzupacken. Hennig half ihr dabei, und als sie dann miteinander auf dem schmalen Pfade durch das Schilf gingen, trug er Staffelei und Malkasten. Sie schwiegen, denn der glitschige Weg, von dem man jeden Augenblick rechts oder links in den Morast hinabrutschen konnte, nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch.

Plötzlich vernahmen sie über sich in der Luft ein seltsames Rauschen, und als sie aufschauten, gewahrten sie eine Anzahl Höckerschwäne, die von den Luppenniederungen her in langer Reihe über den Wald geflogen kamen, mit lang ausgestreckten Hälsen über den Teichen kreisten und schließlich unter gewaltigem Lärm gerade vor den beiden Menschen auf der Wasserfläche einfielen. Hennig hatte Hilde beim Arm gefaßt und sie zwischen Rohr und Erlengebüsch neben sich in Deckung gezogen. Ein paar Augenblicke verweilten sie in stummer Bewunderung der herrlichen Vögel, deren schneeiges Gefieder das Abendlicht mit zartem Rosa überhauchte. Dann fragte er leise: »Ist das nicht schön?«

»Wundervoll!« erwiderte sie. »Und es sind gerade elf wie in Andersens Märchen.«

»Geben Sie acht: gleich versinkt die Sonne hinter dem Walde, dann werden sich die Schwäne in schöne Prinzen verwandeln.«

»Wir wollen froh sein, wenn sie Schwäne bleiben,« meinte sie heiter. »Elf Prinzen wären ein bißchen viel, und zu dem kalten Wasser passen die Vögel auch besser. Es ist mir wirklich eine Beruhigung, daß sie keine goldenen Kronen tragen.«

»Sie haben recht: die Natur zeigt uns Wunder genug, und man hat wirklich nicht mehr nötig, noch etwas dazuzudichten,« sagte er, als sie ihren Weg fortsetzten. Und nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: »Ich bin so froh, daß mein Märchenreich mit seinen gefiederten Bewohnern sich Ihnen von der vorteilhaftesten Seite dargestellt hat.«

»Es war in der Tat ein köstlicher Nachmittag,« erwiderte sie, »so köstlich, daß ich meine Sorgen für ein paar Stunden vergessen konnte. Wieviel Schönes hat er mir beschert! Die Farbenpracht des Waldes, den silbrigen Duft der Ferne, den Schwarzen Milan mit seinen Flugkünsten, die Schwäne und dann – aber das gehört ja eigentlich nicht dazu, obwohl es mich auch ganz märchenhaft anmutet! – Ihre Mitteilung, daß Sie meines lieben Vaters Lebenswerk fortsetzen wollen.«

Sie hatten die Endstation der Straßenbahn erreicht und saßen nun, der Abfahrt harrend, im vollbesetzten Wagen zwischen gleichgültigen Menschen schweigend nebeneinander. Aber wenn sein Blick dem ihren begegnete, lächelten sie beide, nicht anders, als habe das Schicksal ihnen zur Pflicht gemacht, ein gemeinsames seliges Geheimnis im tiefsten Herzen zu bewahren.


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