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Neuntes Kapitel

Wie Regierungsassessor von Malepart seinen Onkel Gräving mit Hilfe Doktor Adebars aus dem Burghaus ausquartiert, und wie der Doktor dem alten Herrn zum Trost die beinahe unglaubliche Geschichte von Waldkauzens Mißgeschick mit ihrem vermeintlichen Schwiegersohn erzählt

 

An einem Spätnachmittage des Juli ging Herr Doktor Adebar, der nicht nur eine Kapazität auf dem Gebiete der Geburtshilfe und der inneren Medizin war und während der Wintermonate einem rühmlichst bekannten Sanatorium in Ägypten als leitender Arzt Vorstand, sondern auch für einen hervorragenden Kenner der heimischen Kriechtiere, Lurche und Insekten galt, auf einem zu Lamprecht Lampes Pachtgut gehörenden blühenden Kleefelde spazieren, um Bienen, Hummeln und andere Kerfe für seine Sammlung zu erbeuten.

In seinem weißen Sommeranzug, zu dem er aus alter Gewohnheit auch bei seinen Ausgängen Schreibärmel aus schwarzem Futterstoff trug, war er, wenn er sich in der Öffentlichkeit zeigte, kilometerweit kenntlich, aber das störte ihn nicht, denn bei dem Ansehen, das er in der ganzen Tierwelt genoß, und bei der geradezu abergläubischen Verehrung, die ihm sogar die Zweibeine zollten, durfte er auf die Schutzfärbung, deren sich so viele andere Leute aus Gründen der persönlichen Sicherheit bedienten, getrost verzichten.

Heute war es der Regierungsassessor von Malepart, der den gelehrten Medikus bei seiner entomologischen Tätigkeit beobachtete und dabei den Plan faßte, die Hilfe des allzeit gefälligen alten Herrn auch einmal in einer mit Rücksicht auf die von ihm erstrebte Beförderung zum Kreisdirektor höchst wichtigen häuslichen Angelegenheit in Anspruch zu nehmen.

Wie man weiß, lebte der junge Verwaltungsbeamte mit seinem Oheim und ehemaligen Vormund Grimbart Gräving nicht gerade auf dem besten Fuße, was auch kein Wunder war, da sich die leichte Lebensauffassung des Neffen und die Skrupellosigkeit, mit der er seine Ziele verfolgte, mit der Gewissenhaftigkeit, dem an Pedanterie grenzenden Ordnungssinn und den strengen Moralbegriffen des Onkels nun einmal nicht in Einklang bringen ließen. Das Dichten und Trachten des Assessors ging deshalb nach wie vor darauf aus, sich der ihm so unbequemen Aufsicht Grävings zu entziehen und den wackern Alten aus dem von ihnen gemeinsam bewohnten Burghause zu verdrängen. Als rechtskundiger Mann wußte der Rotrock nur zu wohl, daß es ihm unmöglich sein würde, seinen angeblichen Anspruch auf den Besitz von Haus Malepart bei den Gerichten erfolgreich geltend zu machen, er war deshalb entschlossen, zu einer List seine Zuflucht zu nehmen.

Er trabte also munter den Feldrain hinauf, umschlug eine Kartoffelbreite und tauchte dann plötzlich, langsam schnürend und scheinbar in ernste Gedanken versunken vor den Lichtern Doktor Adebars auf.

»Nanu, Assessorchen! So tiefsinnig? Das ist man an Ihnen ja gar nicht gewöhnt«, begrüßte ihn der Arzt mit der Vertraulichkeit, zu der ihn der Umstand berechtigte, daß er Herrn von Malepart schon von Kindesläufen an kannte und als krassen Fuchs während einer langwierigen Staupe behandelt hatte.

»Sie mögen wohl fragen, Doktor!« erwiderte der Rote, wobei er sich den Anschein gab, als habe ihn Adebars Anruf aufs höchste überrascht. »Mein guter alter Onkel macht mir Sorge. Er leidet stärker als je am Reißen, ist so asthmatisch, daß man ihn durch drei Zimmer hindurch schnaufen hört, und wird von Tag zu Tag hinfälliger.«

Der alte Arzt zog den rechten Ständer unter den Leib, versenkte den Kopf zwischen die Schultern und machte sein nachdenklichstes Gesicht. »Also Reißen hat mein guter Gräving wieder! Hm, hm. Na ja, kann mir's schon denken: was die Laien so Reißen nennen, ist gewöhnlich nichts weiter als ein ordentlicher chronischer Gelenkrheumatismus. Kenne das schon. Hätte man beizeiten, das heißt, solange die Sache noch akut war, was dagegen getan, so wäre dem Übel mit ein bißchen Salizylsäure leicht beizukommen gewesen. Aber das ist ja die alte Geschichte: ehe man sich dazu entschließt, den Arzt zu rufen, muß das Leiden chronisch werden. Ein Steifwerden der Wirbelsäule hat sich bei Ihrem Onkel wohl noch nicht bemerkbar gemacht?«

»Geklagt hat er darüber bis jetzt noch nicht. Desto mehr Schmerzen hat er aber in den Branten, so daß er in beständiger Angst lebt, es möchte die Klauenseuche daraus entstehen.«

»Klauenseuche ist nicht übel!« sagte der Medikus lachend. »Nun, vor dieser Krankheit braucht sich der alte Herr nicht zu fürchten, die können sich bei uns zulande höchstens Durchlaucht der Fürst mit seinem Hause und der Damwildseitenlinie und allenfalls noch der Kreisdirektor leisten. Also von einem Steifwerden der Wirbelsäule, bei dem Kopf, Rumpf und Becken nahezu unbeweglich miteinander verbunden zu sein scheinen, ist nichts zu spüren? Schade! Hätte gern wieder einmal einen Fall von Spondylitis deformans beobachtet. Na ja, dem Patienten wird der Rheumatismus articulorum auch ohne eine solche Komplikation schon genügen.«

»Die Sache ist wirklich ernst, Doktor. Mir geht Onkels Zustand jedenfalls sehr nahe«, bemerkte der Assessor mit bekümmerter Miene. »Meiner Überzeugung nach ist an dem ganzen Elend nur das verfluchte feuchte Burghaus schuld.«

»Na selbstverständlich! Mir ist es immer ein Rätsel gewesen, wie ein vernunftbegabtes Tier in einem so durch und durch unhygienischen nassen Erdloch wohnen kann.«

»Ich fürchte, wenn sich Onkel nicht bald dazu entschließt, auszuziehen und nach einem recht sonnig gelegenen Abhang überzusiedeln, wird er den Herbst nicht erleben, auf den er sich doch immer so freut, weil er eine Leidenschaft für Fallobst hat. Ich wüßte eine ganz entzückende trockene Wohnung für ihn, einen verlassenen Karnickelbau, der sich ohne nennenswerte Kosten in kurzer Zeit ein wenig erweitern und zu einem hochherrschaftlichen Logis herrichten ließe. Onkel Gräving ist jedoch eigensinnig und läßt sich nicht raten, wenigstens nicht von mir, der ich doch an seinem Wohlergehen das meiste Interesse habe. Argwöhnisch, wie er von Natur nun einmal ist, bildet er sich sowieso ein, ich wolle mich seiner entledigen. Aber getan muß unter allen Umständen etwas werden, sonst kommt es so weit, daß ich dem guten Alten in ein paar Wochen die treuen Seher zudrücken muß. Man wird allerdings zu einer kleinen List greifen müssen, um ihn zu einem Wohnungswechsel zu bewegen, und ich hoffe, Doktor, Sie werden mir Ihre Unterstützung dabei nicht versagen. Auf Ihre Meinung gibt er noch etwas, und wenn Sie ihm tüchtig zusetzen und ihm die Hölle heiß machen, nimmt er vielleicht doch Vernunft an.«

»Dann werde ich ihn einmal besuchen und sehen, was sich tun läßt«, erklärte der Arzt.

»Da wäre ich Ihnen wirklich dankbar, Doktor. Aber da fällt mir ein, wenn Sie ihm jetzt plötzlich einen Besuch machen, wittert er Lunte und kommt auf den Gedanken, ich hätte Sie ihm auf den Hals geschickt. Und dann würde alles verdorben sein. Wir müssen die Sache anders anfassen. Haben Sie morgen kurz vor Sonnenaufgang vielleicht ein Stündchen Zeit? Nun schön! Ich werde dann versuchen, ob ich Onkel veranlassen kann, in meiner Begleitung einen kleinen Frühspaziergang längs des Waldrandes zu unternehmen. Am hellen Tage geht er nicht gern aus, weil er bei seiner Korpulenz die Hitze scheut und auch eine krankhafte Abneigung dagegen hat, anderen Leuten zu begegnen. Abends aber, wenn er seinen gewohnten Ausgang unternimmt, ist es so finster, daß Sie keine Diagnose stellen können. Wir richten es also so ein, daß Sie Onkel und mir gleichsam ganz zufällig begegnen und ihm dann Vorhaltungen über sein schlechtes Aussehen machen. Merken Sie, daß dies wirkt, so erklären Sie ihm rundheraus, wenn er noch acht Tage in Haus Malepart bliebe, gäben Sie für sein Leben keine Kaulquappe mehr. Das wird schon den gewünschten Eindruck auf ihn machen. Übrigens, Doktor, da wir gerade von Kaulquappen reden: ich habe einen Wassergraben entdeckt, worin es von Fröschen nur so wimmelt. Sagten Sie mir nicht einmal. Sie brauchten immer einige solcher Quaker zu Ihren Studien über den Kreislauf?«

»Aber gewiß, Assessorchen! Nicht bloß einige, sondern womöglich ein paar Dutzend täglich. Hören Sie, Ihre Entdeckung interessiert mich außerordentlich. Wo befindet sich denn der Graben? Wohl hier in der Nähe?«

»So sehr nahe ist er nun gerade nicht; man hat von hier etwa eine halbe Stunde zu gehen. Aber der Weg läßt sich schwer beschreiben. Ich muß Sie gelegentlich einmal hinführen.«

»Famos!« rief Doktor Adebar, legte den Kopf auf den Rücken, daß sich das lange Halsgefieder kerzengerade emporrichtete, während der Schnabel nach hinten wies, und klapperte vor Freude so laut, daß eine Feldmaus, die sich nebenan auf dem Rain ein Tütchen Grassamen zum Abendbrot gesammelt hatte, entsetzt in ihr Loch schlüpfte. Und dann fuhr er fort: »Den Spaziergang zum Wassergraben wollen wir aber ja nicht vergessen. Sie haben ganz recht: je eher der alte Herr in eine trockene Behausung übersiedelt, desto sicherer können wir auf seine Genesung rechnen. Also es bleibt dabei: morgen früh Schlag drei drüben am Waldrand!« Worauf er, die Schwingen lüftend, ein paar Luftsprünge machte, sich emporschraubte und mit langsamen, weit ausholenden Flügelschlägen einem fernen Dorfe der Zweibeine zustrich, wo die junge Frau des Windmüllers schon mit Sehnsucht auf seinen Besuch wartete.

Als Assessor von Malepart nach seiner Unterredung mit dem Doktor im Burghaus anlangte, fand er den Oheim mit der Niederschrift seiner Lebenserinnerungen für das Familienarchiv beschäftigt.

Der alte Herr hatte seines Leidens wegen beide Hinterbranten dick mit weichem Moos umwickelt, aber es ging ihm heute nicht schlechter als alle die Tage vorher, und die von dem Neffen dem Arzte gelieferte Beschreibung seines Zustandes war stark übertrieben gewesen. Daß er über die durch Reinhards Eintritt verursachte Störung mit einem mißlaunigen Schnaufen quittierte, entsprach durchaus dem Wesen des einsiedlerischen Sonderlings und durfte keineswegs als ein Anzeichen gesteigerter asthmatischer Beschwerden betrachtet werden.

Der Assessor war auch nicht der Mann, der sich durch Grävings üble Laune einschüchtern ließ, am allerwenigsten jetzt, wo er den längst geplanten Schlag gegen den Oheim zu führen gedachte.

»Ich muß dich schon bitten, deine Arbeit einmal ein Weilchen zu unterbrechen und mir für ein paar Seherblicke dein Gehör zu leihen, lieber Onkel«, begann er, sich neben dem alten Herrn auf die Keulen niederlassend. »Du wirst ja wohl selbst am besten wissen, daß mich dein Gesundheitszustand seit geraumer Zeit mit herzlicher Sorge erfüllt –«

»Wird nicht so schlimm sein!« knurrte der Greis, der, soweit die verwandtschaftlichen Gefühle des Neffen für ihn in Frage kamen, nicht mit Unrecht etwas skeptisch war.

»Bitte, laß mich ausreden, Onkel! Ich habe bisher, um dich nicht zu ängstigen, geschwiegen, aber jetzt, wo ich sehen muß, wie du von Tag zu Tag hinfälliger wirst, würde ich's für ein Verbrechen halten, dir zu verhehlen, daß ich den beinahe schon hippokratischen Ausdruck deines lieben Gesichts nicht mehr ertragen kann. Du mußt unbedingt, ehe es zu spät ist, etwas Durchgreifendes für deine Gesundheit tun. Am besten wäre natürlich, du versuchtest es einmal mit einer Badekur in Teplitz oder Wildbad, aber bei deiner Abneigung gegen das Reisen wirst du dich dazu wohl nicht entschließen.«

»I wo! Das würde ein teurer Spaß werden. Ganz abgesehen davon, daß man bei einer solchen Kur diät leben muß, was mir auch nicht paßt. Findest du denn wirklich, daß ich so schlecht aussehe?«

»Geradezu jammervoll, Onkel! Alle Leute sprechen mich daraufhin an und machen mir die bittersten Vorwürfe, daß ich untätig zusähe, wie es mit dir immer mehr bergab gehe.«

»Nun ja, so besonders brillant fühle ich mich ja in der Tat auch nicht, und wenn ich ein paar Stunden am Schreibtisch gesessen habe, sind meine alten Knochen so steif, daß ich nur mit der größten Anstrengung die Nase bis zum Bürzel bringe«, gestand der alte Hypochonder, auf dessen ängstliches Gemüt die Worte des Neffen zu wirken begannen.

»Das ist's ja eben, Onkel! Du machst dir viel zu wenig Bewegung. Jeden Tag müßtest du ein paar Stunden an die frische Luft; dann würden deine Gelenke wieder beweglich. Daß du im hellen Sonnenschein nicht gern ausgehst, verstehe ich vollkommen; ich vermeide es ja auch, aber so ein kleiner Spaziergang in der ersten Morgenfrühe ist doch das Köstlichste, was man sich denken kann. Wie atmet dann die Vegetation eine würzige Frische! Und die wohltuende Stille auf Wiesen und Feldern! Man wittert noch nichts von den Zweibeinen und dem ekelhaften beißenden Qualm, den sie aus ihren hölzernen Rüsseln blasen. Und wie herrlich ist's, das Erwachen der Natur zu belauschen, wenn ein Stern nach dem andern verlischt, und ein schmaler Orangestreif im Osten das Nahen des Tages verkündet! Ach Onkel, tausendmal schöner als die Vergangenheit, in die du dich immer vergräbst, ist doch die Gegenwart, und wer sie unbefangenen Sinnes genießt, der muß ja an Leib und Seele gesunden! Wie wäre es also morgen mit einem Frühspaziergang?«

»Das klingt ja alles recht schön, Reinhard, und wenn man dich so begeistert reden hört, könnte man wirklich Lust bekommen, aber du weißt, ich finde gewöhnlich erst gegen Morgen Schlaf, und dann bringe ich's nicht so leicht über mich, meinen warmen Kessel zu verlassen.«

»Du, Onkel, ich will dir ganz offen sagen: es ist nicht dein schlechtes Aussehen allein, was mich so beängstigt. Siehst du, du magst es glauben oder nicht, aber so wahr ich hier vor dir stehe«, – der Assessor schien zu übersehen, daß er in diesem Augenblick gar nicht stand, sondern auf den Keulen saß! – »die ominöse Erscheinung hat sich in den letzten Nächten wieder gezeigt.«

Der Alte horchte auf. »Welche Erscheinung, Reinhard?« fragte er unsicher.

»Das Weiße Huhn, Onkel. Zweimal schon. Jedesmal auf dem Korridor zum Klosett. Du weißt, was das zu bedeuten hat. Zeigt es sich zum drittenmal, so muß jemand in Haus Malepart eingehen. Ich weiß nicht, soll ich's einen Fluch oder eine Gnade des Schicksals nennen, daß das unselige Gespenst, das niemals Ruhe zu finden scheint, aus dem zerstörten Burghaus in das neue übergesiedelt ist? Als ich's zum ersten Male wahrnahm – es war in der Nacht zum Donnerstag, gerade während des Gewitters –, versuchte ich mir einzureden, es handle sich um eine Sinnestäuschung. Das grelle Licht der Blitze fiel ja durch die Röhren und den Luftschacht bis in die innersten Gemächer. Ein Irrtum meinerseits wäre also immerhin denkbar gewesen, um so mehr, als meine Phantasie bei einem Gewitter sehr rege ist, weil mich die Knallerei an die Blitzrohre der Zweibeine erinnert. Aber es war leider keine Täuschung, Onkel. In der letzten Nacht zeigte sich's wieder. Zuletzt unmittelbar vor der Tür zu deinem Kessel. Und es benahm sich höchst seltsam. Erst pickte es völlig lautlos am Boden umher, dann aber richtete es sich auf, reckte den Hals, öffnete den Schnabel und schlug mit den Flügeln – genau wie ein Hahn, der krähen will.«

Grimbart Gräving war bei dem Bericht des Neffen in seinen Sessel zurückgesunken und starrte, die Armlehnen mit den Branten umkrampfend, entgeistert ins Leere, so daß der teuflische Rotrock schon gewonnenes Spiel zu haben glaubte. Aber der Alte faßte sich und sagte: »So etwas kommt vor. Wenn Hühner in die Jahre gelangen, nehmen sie die Manieren der Hähne an. Und das Weiße Huhn muß schon sehr alt sein. Von dem hat mir meine selige Großmutter schon erzählt, als ich noch ein ganz junger Dachs war. Übrigens, mein lieber Reinhard, es ist noch lange nicht gesagt, daß das Erscheinen des Weißen Huhnes unbedingt meinen baldigen Tod anzudeuten braucht. Ich bin ja nicht der einzige Bewohner von Haus Malepart, und ich meine, du, der du dich beinahe beständig draußen herumtreibst und, nebenbei bemerkt, auch keineswegs besonders beliebt bist, wärest viel größeren Gefahren ausgesetzt als ich alter Mann, um den sich kein Tier kümmert, und den die meisten Zweibeine kaum dem Namen nach kennen. Wer bürgt dir dafür, daß du nicht heute oder morgen in ein Eisen gerätst, einen Giftbrocken annimmst oder eine Ladung Nummer drei auf den Balg gebrannt bekommst?«

Der Neffe lächelte überlegen. »Meine angeborene Vorsicht, lieber Onkel«, erwiderte er. »Die Welt fliehen heißt noch lange nicht, sich gegen die von ihr drohenden Gefahren sichern. Nur wer wie ich mitten im Leben steht, vermag den mannigfachen Nachstellungen zu entgehen, die unsereinem auf Schritt und Tritt drohen. Seit ich weiß, daß der Zweibeinoberförster seine Eisen grundsätzlich nur mit trocknem Pferdemist verblendet, mache ich einen weiten Bogen um jede Örtlichkeit, wo es nach dieser Materie riecht. Und finde ich irgendwo einen Spatzen- oder einen Heringskopf, so hüte ich mich wohl, ihn aufzunehmen, denn wenn solche Delikatessen im Wald oder auf dem Feld umherliegen, so kann man zehn gegen eins wetten, daß eine Strychninpille darin ist. Was aber die bleiernen Wacholderkörner anlangt, so braucht man auch die nicht zu fürchten, wenn man nur jede Begegnung mit den Herren Zweibeinen vermeidet. Und das machen sie einem ja selbst leicht, weil sie ja nie ohne den hölzernen Qualmrüssel, den man schon auf dreihundert Gänge wittert, über das Revier schnüren. Und dann, Onkel, jetzt im Sommer lassen sie unsereinen ohnehin ungeschoren, denn es ist ihnen nur um unsern Winteranzug zu tun, für den sie auf dem Brühl in Leipzig ein sündhaftes Geld bekommen. Ach nein, wenn das Weiße Huhn etwas zu bedeuten hat, und ich hoffe, es handelt sich nur um eine wohlgemeinte Warnung des Schicksals, so geht's dich an und nicht mich, der ich mir, Gott sei Dank, jederzeit selber zu helfen weiß. Also Onkel, es bleibt dabei: morgen Punkt drei wecke ich dich, und dann bummeln wir selbzweit ein Stündchen den Waldrand entlang. Du sollst einmal sehen, wie gut dir das tun wird.«

»Na meinetwegen! Wenn du durchaus darauf bestehst, muß ich um des lieben Friedens willen schon in den sauern Apfel beißen«, erwiderte der Alte mit einem tiefen Seufzer. Und er setzte, um sich den schweren Entschluß annehmbarer zu machen, hinzu: »Vielleicht finden wir bei dieser Gelegenheit ein paar fette Regenwürmer.«

Wirklich wurde am nächsten Morgen der geplante gemeinsame Spaziergang unternommen. Dabei verriet sich schon in der Art, wie Onkel und Neffe das Burghaus verließen, die gewaltige Verschiedenheit ihres Wesens und ihrer Gewohnheiten. Während Assessor von Malepart blitzschnell aus der Röhre fuhr und draußen erst sicherte, bedurfte es bei Herrn Grimbart Gräving der umständlichsten Vorbereitungen. Lange bevor er aus dem Bau kam, kündete er sein Erscheinen durch ein seltsames dumpfes Gerumpel an: der alte Pedant und Reinlichkeitsfanatiker schüttelte erst tüchtig Staub, Sand und Moospartikelchen aus seinem Anzug, um sich nur ja recht sauber und nett an der Oberwelt zu präsentieren. Dann steckte er einen Augenblick den halben Kopf heraus, lauschte und holte Wind, worauf er für etliche Sekunden wieder in der Tiefe verschwand. Das wiederholte sich drei-, viermal, bis er mit dem Oberkörper auftauchte, nochmals ein Weilchen verhoffte und nun endlich dem schon vorausgeschnürten Neffen folgte.

Nach kurzer Wanderung stießen sie auf Doktor Adebar, der mitten auf dem Wege stand und in die Untersuchung einer überfahrenen Blindschleiche vertieft zu sein schien. Er begrüßte den Assessor in seiner ein wenig burschikosen Weise und fragte, während er Gräving eine sehr förmliche Verbeugung machte, ob Herr von Malepart ihn seinem Begleiter nicht vorstellen wolle.

»Was? Sie kennen meinen alten Onkel nicht mehr, Doktor?« rief der Rotrock mit gut gespieltem Erstaunen. »Wie geht denn das zu? Haben Sie etwa Ihre Brille zu Hause gelassen?«

»Wahrhaftig, Herr Grimbart Gräving!« sagte der Arzt, seinem Mitverschworenen einen Blick des Einverständnisses zuwerfend. »Sie hätte ich aber wirklich nicht wiedererkannt! Nun sagen Sie mir um's Himmels willen, was ist denn mit Ihnen geschehen? Sie haben sich ja, seit wir uns das letztemal sahen, total verändert. Nein, so was! Lassen Sie sich doch einmal genau betrachten, alter Freund! Sie müssen ja durch und durch krank sein!«

Der Alte war ob dieser Begrüßung doch etwas betroffen und äugte den Medikus mit umflorten Sehern an.

»Siehst du nun, Onkel, wie recht ich hatte, als ich dich auf dein jammervolles Aussehen aufmerksam machte? Aber natürlich: mir glaubst du so etwas nie; nun mußt du aus des Doktors Schnabel vernehmen, daß du gewissermaßen ein verlorener Mann bist«, bemerkte der liebevolle Neffe, dem Arzte sekundierend.

»Nun, ›verlorener Mann‹ ist doch vielleicht ein wenig zuviel gesagt«, meinte Doktor Adebar, während er sich auf den rechten Ständer stellte und mit dem linken nach Grävings Puls griff. »Wo fehlt's denn eigentlich? Haben Sie Schmerzen? Leiden Sie an Appetitlosigkeit? Und wie sieht's mit der Losung aus? Zeigen Sie mir mal Ihre Zunge! Hm, hm, könnte besser aussehen! Und die Nachtruhe? Auch nicht prima, was? Na ja, kann mir schon denken, wo's bei Ihnen hapert. Sie haben chronischen Gelenkrheumatismus im letzten Stadium. Puls schwach und intermittierend. Das bedeutet, daß das Herz schon affiziert ist. Ja ja, so was kommt von so was. Nun erzählen Sie mir einmal ganz genau, wie die Krankheit bisher verlaufen ist, aber vergessen Sie dabei auch nicht das kleinste Symptom, denn für eine richtige Diagnose ist auch das scheinbar Unbedeutendste von Wichtigkeit.«

Gräving, durch die besorgten Mienen des Arztes kaum weniger beunruhigt als durch seine Worte, lieferte gehorsam eine sehr ausführliche Schilderung seines Zustandes.

»Also, wie ich schon vermutete: Rheumatismus articulorum chronicus!« sagte Doktor Adebar mit einer gewissen Genugtuung. »Nun, alter Freund, Sie brauchen deshalb nicht gleich die Gehöre hängen zu lassen; ich denke, wir werden der Sache schon beikommen. Zunächst versuchen wir's einmal mit heißen Sandbädern und, wenn wir da nicht bald Erfolg haben, mit einer drastischen Dosis Kolchikum. Aber das allerwichtigste ist, daß Sie sofort Ihr feuchtes Burghaus verlassen und in eine trockene, recht sonnig gelegene Wohnung ziehen. Bleiben Sie auch nur noch acht Tage in dem nassen Loch, in das nicht einmal in dieser Jahreszeit ein Sonnenstrahl fällt, so sind Sie geliefert, verstanden?«

Der arme Alte knickte bei dieser Ankündigung förmlich zusammen. »Aus Haus Malepart wegziehen?« stammelte er. »Liebster Doktor, das kann ich beim besten Willen nicht! Ich habe mir vorgenommen, an der Stätte, wo ich so viele Jahre gelebt habe, meine Tage zu beschließen.«

»Das Vergnügen können Sie bald haben«, erwiderte der Medikus achselzuckend. »Dann wollen wir aber auch gar nicht erst mit den Sandbädern anfangen. Heute haben wir Mittwoch; ich werde mich also Freitag nächster Woche vor Ihrer Hauptröhre einfinden, um die Autopsie vorzunehmen und den Totenschein auszustellen. Das sind Formalitäten, die Sie ja nicht weiter behelligen werden.«

Grävings gestreiftes Antlitz legte sich in schmerzliche Falten. »Meinen Sie wirklich, daß es mit mir so schnell aus sein würde, Doktor?« fragte er mit gebrochener Stimme.

»Selbstverständlich. Vielleicht sogar noch schneller.«

»Wenn ich wenigstens vorher meine Erinnerungen fertigschreiben könnte!« jammerte der Alte. »Sie sagen: ausziehen; aber wie soll ich so rasch eine passende Wohnung finden?«

»Das wäre die geringste Sorge, Onkel. Ich weiß einen verlassenen Karnickelbau in geradezu wundervoller Lage an einem sonnigen Abhang. Wenn du den ein wenig erweitern ließest, würde er eine ideale Wohnung für dich sein«, bemerkte der Assessor, sich vergnügt die Branten reibend.

Der Alte, der sich weder seinem erbarmungslosen Neffen noch dessen energischem Verbündeten gewachsen fühlte, mußte wohl oder übel nachgeben. Aber sein schmerzlich verzogenes Antlitz verriet, wie schwer ihn der Schlag getroffen hatte. Sogar Doktor Adebar, der im allgemeinen nicht so leicht weicheren Regungen zugänglich war, verspürte beim Anblick des völlig gebrochenen Greises ein tierisches Rühren und redete ihm zu, den Wohnungswechsel, der doch nur im Interesse seiner Gesundheit erfolgen müsse, nicht gar zu tragisch zu nehmen. »Und nun, lieber Freund«, fuhr er fort, »will ich Ihnen zu Ihrer Aufheiterung die allerneueste Skandalgeschichte erzählen, von der ich selbst erst gestern Kenntnis erhalten habe, und aus der Sie ersehen können, daß auch anderen Leuten noch lange nicht alles nach Wunsch geht. Sie wissen doch, daß Kantors Eulalia Anfang Juni einen Ausländer geheiratet hat, der angeblich ein schwerreicher Vogel war und in Westafrika große Plantagen haben sollte?«

»Gewiß, Doktor, davon hat mir mein Neffe erzählt.«

»Schön. Also dieser vermeintliche Nabob war ein Hochstapler schlimmster Sorte. Allerdings stammte er aus Afrika, aber die Zweibeine hatten ihn, noch ehe er flügge geworden war, aus dem Nest geraubt und nach Europa gebracht, wo er dann schließlich da drüben zu der Frau Oberförster kam, die ihn in einem blanken Käfig in ihren Horst stellte. Eines Tages gelang es ihm, das Türchen zu öffnen und aus der Gefangenschaft zu entkommen. Da er außer allerlei schönen Redensarten aus der Zweibeinsprache nichts gelernt hatte, hätte er elend verhungern müssen, wenn sich Kantors, gutmütig, wie sie nun einmal sind, seiner nicht angenommen hätten. Dagegen wäre nichts zu sagen gewesen, aber dieser sogenannte Herr Jako, dem das ungebundene Leben bei guter Verpflegung gefiel, log seinen Wirten die Hucke voll und spielte sich als einen Krösus auf, der sich früher oder später für die ihm erwiesene Gastfreundschaft in fürstlicher Weise erkenntlich zeigen werde. Diese angenehme Aussicht auf eine reiche Entschädigung genügte den guten Leuten noch nicht; sie meinten, einen so glänzend situierten Herrn müsse man fester an sich ketten, und so zwangen sie ihn mit sanfter Gewalt dazu, ihre Eulalia zu heiraten. Schön. Wie vorauszusehen gewesen war, blieb die Ehe im ersten Monat eierlos. Die Frau Kantor mochte das Nest, das sie dem jungen Paare in ihrer guten Stube gebaut hatte, so oft untersuchen, wie sie wollte: es war und blieb leer. Da, vor ein paar Tagen, lag endlich ein Ei darin, zwar nicht so schön kugelig, wie sonst Kauzeier doch sind, sondern mit einem dicken stumpfen und einem mäßig abgerundeten spitzen Ende, aber es war doch wenigstens ein Ei. Na ja, da war die Freude in der Familie natürlich groß, und Eltern und Schwester fielen der jungen Frau Jako um den Hals, aber die erklärte ganz schmucklos, sie sei an dem Ei völlig unbeteiligt und wisse nicht, wie es ins Nest gekommen sei. Das wollte ihr selbstverständlich niemand glauben, man weiß ja auch, daß junge Frauen beim ersten Gelege manchmal nicht ganz klar im Kopfe sind. Von nun an hielt jedoch die Kantorn das Nest der Tochter Tag und Nacht unter scharfer Kontrolle, und da sah sie vorgestern abend, wie sich ihr saubrer Schwiegersohn daran zu schaffen machte, hineinstieg und nach einer Weile ganz heimlich davonschlich. Die Alte eilte zum Nest und sah nach, und da hatte sie denn die Bescherung: neben dem ersten Ei lag ein zweites, genau von derselben Fasson! Da kam es klipp und klar zutage, daß dieser Herr Jako gar kein Mann, sondern ein Frauenzimmer war, was man ihm freilich nicht so leicht ansehen konnte, weil in seiner Familie Herren und Damen ganz gleich gekleidet gehen. Als man den Pseudoschwiegersohn darauf sehr energisch zur Rede stellte, erklärte das Vieh mit der heitersten Miene, es liebe seine Eulalia so innig, daß es ihr die Mühe des Legens und Brütens habe abnehmen wollen. Selbstverständlich hat der Kantor die Ehe seiner Tochter sofort für ungültig erklären lassen und die afrikanische Schwindlerin mit Eklat aus dem Hause geworfen. Wie ich höre, ist sie daraufhin freiwillig zu den Zweibeinen zurückgekehrt. Tolle Geschichte, was?«

»In der Tat unglaublich! Wenn ich's nicht aus Ihrem Schnabel hörte, Doktor, ich würde es für eine oberfaule Anekdote halten«, bemerkte Grimbart Gräving, für den das Mißgeschick der Kantorsfamilie ein Tropfen Balsam war. »Nun kann ich mir auch erklären, weshalb sich der fremde Vogel immer mit dem jungen Bussard auf den Feldern herumtrieb. Die beiden haben natürlich eine Liaison unterhalten.« Und gedankenvoll setzte er hinzu: »Für Waldkauzens muß der Skandal doch scheußlich sein. Aber das kommt davon, wenn man mit seinen Töchtern zu hoch hinaus will! Nun hat sich der Kantor seine ganze Familiengeschichte vermenscht!«


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