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Zweites Kapitel

Warum Herr Regierungsassessor Reinhard von Malepart plötzlich für die familiengeschichtlichen Forschungen seines Onkels Grimbart Gräving Verständnis zeigt

 

Um eben diese Stunde kehrte Herr Reinhard von Malepart, Regierungsassessor bei der Kreisdirektion, vom Abendpürschgang heim. Er war in der denkbar schlechtesten Stimmung, denn er hatte nur fünf Regenwürmer und einen Mistkäfer erbeutet, und da er einen Blitzableiter für seine üble Laune brauchte, suchte er sogleich den Onkel auf, der wie gewöhnlich in seinem zu einem behaglichen Studierzimmer eingerichteten Kessel saß und, mit ganzer Seele dem stillen Glück des Forschers hingegeben, in einem mächtigen Haufen vergilbter Blätter wühlte. Beim Eintritt des Neffen hob der alte Herr den feinen Gelehrtenkopf mit den etwas kurzsichtigen kleinen Sehern, legte das Dokument, das er gerade in den Branten gehalten hatte, auf den aus einer Eichenwurzel geschnitzten Schreibtisch und warf dem Ankömmling einen halb überraschten, halb freudigen Blick zu. »Nun, Reinhard, schon von der Jagd zurück?« fragte er.

»Schon?« wiederholte dieser gereizt. »Ich dächte doch, es sei spät genug. Du natürlich, der du dich nur um die langweilige Vergangenheit kümmerst, hast für die Zeit, in der wir leben, nicht die geringste Empfindung mehr.«

Herr Grimbart Gräving, der Historiker und Genealoge, war nahe daran, wieder einmal in die Höhe zu fahren, besann sich jedoch, daß er sich fest vorgenommen hatte, am heutigen Abend jede Ungezogenheit des zwar hochbegabten, aber in seinem Betragen unleidlichen Neffen unbeachtet zu lassen, und bediente sich eines Beruhigungsmittels, das seine Wirkung nie verfehlte: er rollte sich zusammen, hob den zottigen Bürzel und steckte den Windfang für einen Augenblick in das Fettloch.

Als er sich wieder aufrichtete, war er wie umgewandelt. »Mein lieber Junge, daß du es mit der Gegenwart hältst, verstehe ich vollkommen, denn du gehörst zu den Leuten, die noch eine Zukunft, und wenn mich nicht alles täuscht, sogar eine glänzende Zukunft haben«, sagte er. »Wer aber, wie ich, mit dem Leben abgeschlossen hat, der wendet den Blick gern in die Vergangenheit zurück, in die eigene Jugend und darüber hinaus in die Zeit der Ahnen. Tu mir also den Gefallen und schilt mir die Vergangenheit nicht! Wie war's denn? Hast du Weidmannsheil gehabt?«

Der Rotrock, der sich inzwischen zur Seite des Onkels auf die Keulen gesetzt und die Standarte um die Branten gelegt hatte, verzog die Lefzen zu einem höhnischen Grinsen. »Ein paar Regenwürmer und ein lumpiger Mistkäfer – das war der ganze Segen. Wenn du das etwa Weidmannsheil nennst« – knurrte er.

»Das ist allerdings nicht viel, obgleich ich persönlich einen saftigen Regenwurm nicht für das schlechteste halte«, meinte der alte Herr.

»Geschmacksache, Onkel! Ich ziehe jedenfalls ein paar Kiebitzeier, einen Butterkrebs oder einige Dutzend fetter Hummellarven vor, von größerem Wilde ganz zu schweigen. Aber es ist ein wahrer Jammer, wie verzärtelt die Tiere heutzutage sind. Wenn's ein bißchen regnet, läßt sich kein Schwanz sehen. Nicht einmal von dem albernen Lampe, der mir doch sonst jeden Abend über den Weg hoppelt und immer so familiär tut, weil wir vor Jahr und Tag zusammen in die Bürgerschule gegangen sind, habe ich heute Wind bekommen. Und seit die Oberförsterfähe ein paar Glucken sitzen hat, ist der Hühnerstall doppelt und dreifach verriegelt. Es ist eine erbärmliche Zeit, Onkel. Du hast, weiß Gott, recht, und wenn es so weitergeht, werde ich's wohl eines Tages wie du machen und mich in die Vergangenheit vertiefen.«

»Das wäre nicht das dümmste, was du tun könntest, Reinhard«, erwiderte Gräving, bedeutsam schmunzelnd. »Jedenfalls habe ich heute auf meinem familiengeschichtlichen Pürschgang einen Erfolg gehabt, wie ich ihn in meinen kühnsten Träumen nicht zu erhoffen wagte. Denke dir. Junge: ich habe jetzt den Beweis für die Richtigkeit meiner großen Hypothese in den Branten.«

»Welcher Hypothese?« fragte der Neffe gelangweilt. Er wußte schon: wenn der Onkel auf sein genealogisches Steckenpferd zu sprechen kam, dann hörte er so bald nicht wieder auf.

»Aber Reinhard! Entsinnst du dich denn nicht mehr, daß ich schon im vergangenen Herbst die Vermutung äußerte, wir Dachse stünden in nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zu Seiner Majestät unserm allergnädigsten König Petz XXXVII.?«

»Allerdings, aber ich habe die Richtigkeit dieser Annahme stark bezweifelt.«

»Mit Unrecht, mein Junge, mit Unrecht! Jetzt weiß ich, daß schon Linné und Bechstein uns zu den Bären zählten, und deren Zeugnis ist mir um so wertvoller, als sie Zweibeine waren, bei denen von Parteilichkeit doch nicht die Rede sein kann.«

»Soviel ich weiß, zählt jedoch das Zweibein Brehm euch Grävings zu den Mardern, Onkel.«

»Brehm! Was versteht der von unserer Familiengeschichte! Haben wir denn auch nur die entfernteste Ähnlichkeit mit den Mardern? Sind sie Sohlengänger wie wir? Steigen wir etwa auf Bäume? Hast du schon einen Marder kennengelernt, der Möhren verspeist? Sieh nur einmal meine Branten an! Sind das Bären- oder Marderbranten? So lange, aristokratische Klauen haben nur Mitglieder des allerhöchsten Hauses. Aber wir wollen von solchen Äußerlichkeiten ganz absehen. Das wichtigste ist die innere Übereinstimmung –«

»Natürlich! Monarchischer und konservativer gesinnt als du kann der König selber nicht sein«, bemerkte der Neffe mit leisem Hohn.

»Ich meine jetzt etwas anderes, Reinhard. Es handelt sich um das Gescheide. Heute bin ich dahintergekommen, daß bei uns Dachsen genau wie bei den Bären der Darmkanal achtmal so lang als der Körper ist, bei den Mardern aber nur viermal so lang. Das ist doch eine Natururkunde, die untrüglicher als jedes geschriebene Dokument unsere Verwandtschaft mit Majestät dartut.«

Der Assessor horchte auf. Hatte er für die Bemühungen des Onkels, seine Zugehörigkeit zum königlichen Hause zu beweisen, bisher nur ein geringschätziges Lächeln gehabt, so zuckte ihm jetzt der Gedanke durchs Hirn, daß sich die Sache, wenn wirklich etwas Wahres daran sei, auch zu seinem eigenen Vorteil ausnutzen lasse. War der Nachweis erbracht, daß der Onkel ein Vetter des Königs sei, so mußte diese Tatsache auch auf die Karriere des Neffen den günstigsten Einfluß ausüben. »Du, Onkel, was du mir da von dem langen Darm sagst, leuchtet mir ein«, bemerkte er. »Aber die schöne Entdeckung wird dir nicht viel nützen, wenn dir der König nicht in irgendeiner Form bestätigt, daß du zu seinem Geschlechte gehörst.«

»Das ist's ja eben! Wenn man nur Gelegenheit hätte, an Seine Majestät heranzukommen! Es ist ein wahres Unglück, daß der hohe Herr, fern von seinem Stammlande, auf einem einsamen Tiroler Bergschlosse residiert und den Fürsten von Sechzehnenden mit der Regentschaft betraut hat. Ich will beileibe nichts gegen Seine Durchlaucht sagen. Er gibt sich redliche Mühe, ein gerechter Landesvater zu sein, aber schließlich ist ein Hirsch doch kein Bär.«

»Sehr wahr, Onkel! Es wäre bei uns manches anders, wenn der König in Person unter uns weilte und ein bißchen nach dem Rechten sähe. Ich glaube, dann wäre es auch unmöglich, daß ein so beschränkter Kopf wie Baron Capreoli, bloß, weil er einer Seitenlinie des fürstlich Cervidischen Hauses entstammt, Kreisdirektor ist. Und ich meine, es könnte gar nicht schaden, daß man Seiner Majestät über die Verhältnisse hier im Lande einmal ein wenig die Seher öffnete. Weißt du was, Onkel? Du reist sobald wie möglich nach Tirol, suchst um eine Audienz nach und läßt dich vom König in aller Form als Prinz von Geblüt anerkennen und mit einem deinem Range entsprechenden Amt betrauen. Selbstverständlich darfst du auch nicht vergessen, bei dieser Gelegenheit ein gutes Wort für mich einzulegen.«

Den alten Herrn packte bei diesem Vorschläge des Neffen bleiches Entsetzen. »Um Himmelswillen, Junge, was mutest du mir da zu!« stöhnte er, beide Branten mit gespreizten Klauen wie zur Abwehr erhebend. »Wie könnte ich, der ich so schlecht zu Fuß bin und obendrein an Asthma und rheumatischen Schmerzen leide, die endlos weite Reise nach Tirol unternehmen! Davon kann doch gar keine Rede sein. Körperliche Strapazen ist mir die ganze Sache denn doch nicht wert. Gewiß, eine Bestätigung meiner Verwandtschaft mit Seiner Majestät – sei es durch das Oberhofmarschallamt, sei es durch das Heroldsamt – würde mir sehr erwünscht sein, lediglich des Familienarchivs wegen. Aber meine Beziehungen zum allerhöchsten Herrn zu anderen Zwecken auszunutzen, das würde ganz und gar meinen Grundsätzen widersprechen. Nein, daran denke ich nicht. Nichts wäre mir fataler, als bei meinen Jahren noch ein Amt aufgehalst zu bekommen, womöglich zum persönlichen Dienst bei Seiner Majestät befohlen zu werden, noch dazu da oben in der eisigen Bergwelt des Adamellogebiets, wo es weder Möhren noch Heidelbeeren gibt. Ach nein, Ehrgeiz ist meine Sache nie gewesen, und ich habe immer die beschauliche Muße für das Höchste gehalten, was uns das Leben bieten kann.«

»Wenn alle befähigten Köpfe so dächten, was sollte dann aus dem Staate werden, Onkel?« bemerkte der Assessor.

Der alte Herr lächelte. »Zum Regieren genügen schon die weniger befähigten«, meinte er mit behaglichem Sarkasmus. »Was so ein Hochgebietender macht, ist in den Sehern der Regierten ja doch immer falsch, und da unter den Fürsten überragende Begabungen im allgemeinen recht selten sind, halte ich's im Interesse des monarchischen Prinzips sogar für vorteilhaft, daß die Intelligenz der Herren Verwaltungsbeamten und Diplomaten nicht über das Durchschnittsmaß hinausgeht. Nun, und an solchen mit dem Durchschnittsmaß fehlt's ja nicht. Weshalb sollte ich also meine Schwarte zu Markte tragen? Ich danke dem Himmel dafür, daß man mich in Ruhe läßt. Wer, wie ich, mit den Tieren so üble Erfahrungen gemacht hat, der müßte ein Narr sein, wenn er sich nicht in die Einsamkeit zurückzöge und die Dinge gehen ließe, wie sie nun einmal gehen.« Er schnaufte, denn die lange Rede hatte ihn angestrengt.

Der Neffe, dem daran lag, Gräving bei guter Laune zu erhalten, hielt es für geraten, ihm beizupflichten. »Von deinem Standpunkt aus hast du vollkommen recht, lieber Onkel«, sagte er. »Aber seine Erfahrungen muß jeder selbst machen, und wenn ich natürlich auch auf das lebhafteste beklage, daß Treue und Aufrichtigkeit aus der Welt entschwunden sind, so fühle ich mich doch noch keineswegs so entmutigt, daß ich nicht wenigstens den Versuch machen möchte, Einfluß auf den Gang der Dinge zu gewinnen. An lohnenden Aufgaben fehlt es ja nicht. Wieviel läßt zum Beispiel das Polizeiwesen bei uns zu wünschen übrig! Es ist doch unerhört, daß man sich Abend für Abend, wenn man aufs Revier schnürt, von den unverschämten Amseln belästigen lassen muß. Dieses proletarische Gesindel gönnt natürlich unsereinem das bißchen Jagdvergnügen nicht und spektakelt am Waldrande herum, daß einem die Gehöre gellen. Selbstverständlich ist Gendarm Steinmarder bei solchen Anlässen nie zur Stelle. Der sitzt irgendwo in der Kneipe oder schläft in Lampes Feldscheune, wenn er nicht gar mit der schwarzen Bande unter einer Decke steckt, was ich ihm sehr wohl zutraue.«

»Nun ja, von Leuten, deren Darm nur die vierfache Körperlänge hat, kann man auch keine anständige Gesinnung, viel weniger Pflichtbewußtsein erwarten«, warf Gräving ein.

»Und deshalb meine ich, Onkel, du solltest nichts versäumen, was meine Beförderung beschleunigen könnte«, fuhr Assessor von Malepart fort. »Verlasse dich darauf: wenn ich erst Kreisdirektor bin, wird hier manches anders werden.«

»Das hat man von Baron Capreoli auch geglaubt«, sagte der alte Herr. »Und welche Hoffnungen hat nicht alle Welt an die Ernennung des Grafen Basse von Saugarten zum Staatsminister geknüpft! ›Endlich einmal ein aufrechter Mann, der geradeswegs auf sein Ziel losgehen und, wenn es not tut, das Unterste zu oberst kehren wird, kein geschmeidiger Höfling ohne Rückgrat!‹ sagten die Leute. ›Daß er ein bißchen borstig ist, schadet gar nichts; von geschniegelten Exzellenzen haben wir gerade genug gehabt.‹ Na ja, von all den Hoffnungen ist nicht eine in Erfüllung gegangen. Sobald der Graf das Portefeuille in den Schalen hatte, schob er sich in der Fichtendickung beim Schmerlenbach in sein Lager ein und war für niemand mehr zu sprechen. In der Öffentlichkeit erscheint er nur, wenn die Kartoffeln reifen, und wenn die gräfliche Familie im Spätherbst ihren Geschlechtstag abhält. Und wie sich die Herrschaften bei dieser Gelegenheit aufführen, weiß doch jedes Tier. Daß unter diesen Umständen auch während seiner Amtsführung bisher alles beim alten geblieben ist, versteht sich von selbst.«

In dem schmalen, rassigen Antlitz des Neffen machte sich der Ausdruck schlecht verhehlter Ungeduld bemerkbar. »Das stimmt ja alles, Onkel, aber mich dünkt, wir schweifen immer wieder von unserem Thema ab«, sagte er, ein wenig nervös mit der Blume seiner Standarte spielend. »Wenn du dich wirklich nicht zu der Reife an das königliche Hoflager entschließen kannst, so muß ich dich dringend bitten, wenigstens schriftlich mit Seiner Majestät in Verbindung zu treten. Es wird einen ausgezeichneten Eindruck machen, wenn du die nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihm nicht für deine eigene Person, sondern nur für deinen geliebten Neffen auszunutzen suchst. Man wird eine solche Uneigennützigkeit um so mehr zu schätzen wissen, als sie heutzutage doch selten ist, und ich zweifle keinen Augenblick, daß der Monarch, der wahres Verdienst, wenn er einmal Kenntnis davon erhält, gewiß nicht unbelohnt läßt, dir Stern und Kette des Petzischen Hausordens verleihen wird.«

Der alte Herr schmunzelte geschmeichelt. »Auf Auszeichnungen habe ich ja nie Wert gelegt«, bemerkte er, sich selbstvergessen unter dem Bürzel kratzend, »aber wenn dir so viel an meiner Empfehlung liegt, so muß ich dir wohl den Gefallen tun und an den König schreiben. Weißt du zufällig, wann Kurier Wanderfalk, der die Aktenmappe zwischen der königlichen Hofburg und der Residenz des Regenten hin und herträgt, auf seinem Fluge nach Tirol hier vorüberkommt? Ich denke, der Mann wird sich bereit finden lassen, auch einmal einen Privatbrief mitzunehmen.«

»Das laß nur meine Sorge sein, Onkel. Wanderfalk kommt jeden Mittwoch um die Mittagsstunde hier vorbei, dann kröpft er allemal hinter der Brombeerhecke auf dem ausgewinterten Gerstenschlag sein Mittagsbrot, wozu er sich gewöhnlich eine der Tauben aus der Oberförsterei schlägt. Vor vierzehn Tagen, als wir den dichten Nebel hatten, hätte er versehentlich beinahe den Forstwart Markolf erwischt, und wenn er ihn nicht noch im letzten Augenblick an den schwarz-blau-weißen Achselstücken erkannt hätte, wäre es um den armen Teufel geschehen gewesen. Sieh also zu, Onkel, daß der Brief bis Mittwoch früh fertig ist, dann werde ich ihn dem Luftpostrat, sobald er hier landet, aushändigen.« Und als der alte Herr die Zusage nur zögernd gab, klopfte ihn der Neffe vertraulich auf die Schulter und sagte: »Onkelchen, es ist ja dein eigener Vorteil. Je früher ich Kreisdirektor werde, desto eher wirst du mich los, denn dann habe ich Anspruch auf eine Dienstwohnung. Und loswerden möchtest du mich doch für dein Leben gern. Hab' ich nicht recht?«

Grimbart Gräving verzog das schwarz und weiß gestreifte Greisenantlitz zu einem schmerzlichen Lächeln. »Ich kann's nicht leugnen, Reinhard«, gestand er. »Sieh, ich habe mein ganzes Leben lang auf Ordnung und peinliche Sauberkeit gehalten. Da ist es mir natürlich höchst verdrießlich, daß du so ganz anders geartet bist. Wohin man im Burghause äugt, überall stößt man auf Äser und abgenagte Knochen, die von deinen Mahlzeiten herrühren. Hast du denn keine Empfindung dafür, daß eine solche Unordnung nicht nur vom ästhetischen, sondern auch vom hygienischen Standpunkt aus verwerflich ist? Man kann sich ja kaum noch vor den lästigen Schmeißfliegen retten, die überall herumsitzen und sich vor Freude über deine Liederlichkeit die Hände reiben.«

Der Assessor zuckte geringschätzig die Achseln und warf dem bekümmerten Alten einen beinahe feindseligen Blick zu. »Du vergißt, Onkel, daß ich ein Genie und kein pedantischer Philister bin wie gewisse andere Leute.«

»Wenn auch!« erwiderte Gräving, mühsam seinen Zorn beherrschend, »aber meines Erachtens vergibt sich auch ein Genie nichts, wenn es wenigstens den Abort benutzt. Nicht einmal das tust du. Du losest dich, wo du gerade gehst und stehst.«

»Nun ja, Onkel, unsere Weltanschauungen sind eben grundverschieden. Es hat keinen Zweck, sich darüber zu ereifern. Sorge nur dafür, daß ich sobald als möglich meine Ernennung zum Kreisdirektor erhalte, dann brauchst du dich nicht mehr über deinen ungeratenen Neffen zu ärgern.«

Damit war das Zwiegespräch der beiden beendet, und Reinhard zog sich mit einem kurzen »Nacht!« in seine Gemächer zurück, in denen es kaum anders aussah als in einer Studentenbude am Morgen nach einem Kommers.

Der Onkel aber stieß einen tiefen Seufzer aus, schüttelte das weiche Moospolster des Ruhebettes auf und steckte, bevor er sich zum Schlummer zusammenrollte, um noch ein wenig frische Luft zu schöpfen, den Kopf in die Öffnung des Ventilationsschachtes, der durch das niedrige Gewölbe des Studierzimmers in schräger Richtung nach oben führte. Da sah er am tiefdunkeln Nachthimmel sieben Sterne flimmern, und als er, um besser äugen zu können, die Lider seiner kurzsichtigen Seher bis auf einen schmalen Spalt schloß, erkannte er das Sternbild des Großen Bären. Er nahm die Himmelserscheinung für ein glückverheißendes Zeichen und sank getröstet auf sein Lager.


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