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Levin Schücking über Charles Dickens, und Gutzkows redaktioneller Kommentar

Levin Schücking:

Dickens ist Redakteur und Herausgeber des Bentley Miscellany, einer monatlich erscheinenden Sammlung von Erzählungen, Novellen, Schwänken u. s. w., die in England in keinem besondern Ansehen stehen, und worin jetzt der » Oliver Twist, der Pariser Lehrjunge«, in Fortsetzung erscheint. Dann hat er die nachgelassenen Papiere des Pickwick-Clubs, die Streets, Morning, Noon and Night und A treatise on young Ladies and young Gentlemen herausgegeben. Jetzt liegt uns vor: Leben und Abenteuer des Nikolaus Nickleby. Übersetzt von K. H. Hermes. Mit Federzeichnungen nach Phiz. Braunschweig bei Westermann, 1838 ...

Unser Autor besitzt einen Anspruch auf Verdienst und Anerkennung, den wir weit entfernt sind, ihm schmälern zu wollen; das ist eine ganz außerordentliche Gabe der Beobachtung. Wenn es darauf ankommt, die schlechten schmutzigen Triebfedern der menschlichen Handlungen zu erspähen, und das gewöhnliche Leben zu schildern in der Nichtigkeit der meisten Interessen, um die es sich wendet, in der gemütlosen Härte und der rücksichtslosen Selbstsucht, von der es beseelt ist, und dem auch die Bessern sich anschließen oder überwältigt werden müssen – hat Dickens die ganze tiefe Seelenkunde, welche die Schöpfungen der altern englischen Romanschriftsteller verherrlicht. Aber diese Beobachtungsgabe, weit entfernt, als Resultat bei ihm eine großartige und umfassende Weltanschauung zu haben, verschwendet ihre Ausbeute an eine Welt, die gar nicht existiert, wie die des Pickwick-Clubs, oder faßt nur die Schattenseiten des Lebens ins Auge und zeigt ihm dasselbe zu oft da, wo es von Verworfenheit beherrscht ist, oder wenigstens, wo es von Gemeinheit und Unverstand verzerrt wird. Diese Elemente der Gesellschaft werden alsdann auf das äußerste übertrieben in ironischen Schilderungen, deren Satire sich mithin nicht immer auf die Torheit und die Fehler der Menschen, sondern auch auf ihre Dummheit und ihre Laster richtet. Da hört die Satire auf, sowohl nützlich als amüsant zu sein und vernichtet sich selbst. Wenn Dickens uns das Bild von einem Schullehrer entwirft, der wie sein Squers in Nikolaus Nickleby nicht etwa ein unwissender mürrischer Pedant, sondern ein eingefleischter Teufel von unmenschlicher Bosheit ist, von einem Habsüchtigen, wie sein Oheim Ralph Nickleby in demselben Buche, der ein ausgemachter Halunke ist, so sind diese Charaktere nicht allein unpoetisch darauf darf man bei unserm Schriftsteller ein für allemal nicht sehen – sondern auch unwahr und übertrieben. Wären sie aber auch aus der Wirklichkeit gegriffen und hätte eine traurige Erfahrung von ihrem Dasein überzeugt, wer möchte dann mit breiter Behaglichkeit und in dem spaßhaften Tone des Herrn Boz solche Gestalten ausmalen, um allen, welchen der Glaube an die Menschheit noch nicht erschüttert worden ist, ihn schonungslos zu entreißen, was ohnehin früh genug in diesem wirren labyrinthischen Getriebe geschehen kann, wo so manchem von keiner fürsorgenden Ariadne ein leitender Faden gegeben wird!

Der Künstler braucht nicht immer zu idealisieren; er darf aber auch nicht umgekehrt negativ idealisieren und das Graue schwarz malen; sonst wird er Karikaturenzeichner und unter den Dichtern das, was unter den Mimen der Bajazzo ist, der übrigens auch sein Verdienst haben kann. Macht Dickens keine weitern Ansprüche, als auf diese Stellung, wie wir nach den nachgelassenen Papieren des Pickwick-Clubs sie ihm zuerkennen müssen, so kann man freilich nichts dagegen haben; in dem Leben des Nikolaus Nickleby aber werden wir zu Zeugen von Situationen gemacht, treten Personen auf, welche eher Weinen denn Lachen erregen müssen und den höchsten Ernst erfordern. Da wird eine Erziehungsanstalt, die Totenbuschallee, geschildert, in der ein wahres Ungeheuer von Grausamkeit die ihm anvertrauten Kinder unter einer mehr als viehischen Behandlung, die, wie es da heißt, bis zur Schinderei geht, verschmachten läßt, oft mit dem Willen der Eltern, welche die unglücklichen Opfer als Zeugen ihrer Schuld oder als Vorkinder des einen Ehegenossen von der Erde vertilgt wünschen. Ist das ein Gehalt, den man in eine humoristische Form gießen kann? Uns scheint es so absurd, als wenn Herr Phiz, welcher nebenbei gesagt die Stellen des Buches nicht immer gelesen hat, die er durch seine Federzeichnungen veranschaulichen will, solche Gegenstände auf eine Weise darzustellen sich bemüht, die unser Gelächter erregen soll.

Dieser Zwiespalt zwischen Gehalt und Form im Nikolaus Nickleby ist es, der den Humor unsres: Autors vernichten müßte, auch wenn er mehr geistigen Beruf dafür hätte. Jener liebenswürdige britische Humor, der zuerst in Chaucers Canterbury Tales auftaucht, wo ihn vornehmlich die Diener der Kirche wecken, durch den Kontrast, in welchem ihr spiritueller Beruf mit der materiellen Art steht, in der sie diesem Berufe nachkommen – ist wie ein köstliches Erbstück von einem englischen Autor auf den andern überkommen, und zieht sich durch Shakespeare und seine Zeitgenossen, Butler, dann Swift, Sterne, Smollet, u. s. w. bis auf Walter Scott und den ganz England angehörenden Washington Irving herab, ja bis auf Bulwers zuerst erschienenes Buch Pelham; da aber hört der Strom zu fließen auf; die neuern Schöpfungen Bulwers haben einen unverschleierten Ernst und der Humor ist bei ihm verschwunden, woraus es übrigens Unrecht wäre, einen Vorwurf zu machen, da seine andern Vorzüge dafür mehr als entschädigen. Nun ist von Marryat und von Dickens der Versuch gemacht, den bunten neckischen Vogel, der von Albion fortgeflogen, wieder einzufangen; der Flottenkapitän läßt alle seine Mates, Seekadetten, Matrosen und Bratswains dazu los und mit dem heave-ho-yeo geht's hinter ihm drein in die See; unterdessen zieht bei Dickens eine gelehrte Gesellschaft aus, um ihn zu entdecken und Schulbuben, Lehrjungen u. s. w. durchsuchen Hecken und Sträucher nach ihm. Die gelehrte Gesellschaft ist glücklicher, als mancher andere; sie findet wirklich etwas, aber es ist nur das Gespenst des Humors, es ist der Spaß, der Sperling statt des Paradiesvogels. Bei Marryat ist ein Mißgriff dieser Art kein Wunder; er schneidet alle Riemen seines künstlerischen Daseins aus seinem eigenen Felle, und sie sind dann auch oft ledern genug. Bei Dickens aber ist es um so mehr schade, als er in den Episoden, welche er in seine Schriften gewebt hat, zeigt, wie er für eine ernste Schreibart unverkennbaren Beruf hat und sowohl geist- als gedankenreich genug ist, um auf diesem Felde Lorbeeren zu pflücken...

Die fünf Schwestern von York im Nikolaus Nickleby sind eine so anmutige Erzählung, wie wir je uns eine gelesen zu haben erinnern, und die gleich darauf folgende Erzählung von dem deutschen Baron in diesem Buche ist ebenso lobenswert, wie überhaupt nichts interessanter ist, als eine Abspiegelung der deutschen Vorzeit in einem englischen Gemüte. Unser Mittelalter wird von keinem Volke, selbst von unserer eigenen schwindelnden Romantik nicht, so treu und wahr aufgefaßt, als von englischer gesunder und derber Tüchtigkeit, die das nahe Verwandte in den Zuständen dieser Zeit am richtigsten und leichtesten herauszufinden weiß. Man muß dies jedoch auf die äußerliche Auffassung beschränken; die innere Idee, das deutsche Gemüt, welches gerade im Mittelalter seine schönsten Blüten trieb, hat noch kein Ausländer und am wenigsten der so am Äußern klebende, vorurteilbeherrschte Brite zu würdigen gewußt.

Oft allerdings ist bei Dickens ein Nachklang des alten wahren Humors zu bemerken, und seine Satiren mögen mitunter so sein, daß für die maßlos verschrobene Gesellschaft etwas Heilsames in ihnen liegt; einer Welt, wie seine Pickwickier sie konstruieren, wollen wir den Anspruch auf dichterische Existenz nicht bestreiten, obwohl sie um Vieles dichterischer sein könnte; seine Figuren Sam Weller in dieser Schrift und Mr. Bumble im Oliver Twist sind wahrhaft ergötzlich, letztere besonders im Anfange; denn gegen das Ende hin ist sie sehr abgeschwächt; im allgemeinen aber wird uns statt des Humors nur Spaß aufgetischt, und selbst dieser ist nicht immer derb, körnig und schlagend, sondern meistens matt, schal und stumpf, die niedrigste Art der Prosa. Seine Situationen sind zuweilen komisch, aber weit öfter albern und verfehlt. Der Stil hat etwas Eintöniges, er hat Ähnlichkeit mit einem Klepper, der von Zeit zu Zeit um sich schnaubt und dann seines Weges weitertrabt, bis er an die heimatliche Heuraufe gelangt ist. In einem solchen Schlächtertrabe aber erjagt man den Humor nicht; dazu gehört eine edlere Zucht, ein flüchtiger Kenheylan, der über Schluchten und Abgründe setzt, und mit der Schnelle des Lichtes über alle Schranken fliegt, welche die nüchterne Vernünftigkeit um ruhiger Leute Kohlgärten gezogen hat und gern zu befriedeten Immunitäten machen möchte.

Nur wenn Dickens einer ernsten Schreibart sich zuwendet, sind wir berechtigt, Bedeutendes von ihm zu erwarten. Der wahre Humor aber wird, wie es scheint, eine Folge unserer immer mehr steigenden geistigen Entwicklung einerseits, und der immer mehr sich materialisierenden Lebensgestaltung andererseits, aus dem Kontraste des spirituellen und materiellen Elements, die sich immer näher rücken, jetzt so, wie er einst bei Chaucer daraus hervorging, ein Eigentum des deutschen Volkes werden.

Anmerkung Gutzkows:

Auch wir von unsrer Seite wollen dem Oliver Twist z.B. eine gute Beobachtung englischer Volkssitten, eine treue Zeichnung niedrer Charaktere und eine achtbare gegen das englische Armensystem gerichtete Tendenz nicht absprechen. Indessen stoßen auch wir in allen Arbeiten dieses Boz auf eine Häßlichkeit, die sich durch Naturtreue nicht entschuldigen läßt. Der Humor dieser Romane ist so karikatur- und fratzenartig, wie die Zeichnungen zu ihnen, die wir unausstehlich finden. Die Engländer von heute können starke Portionen häßlicher Naturwahrheit vertragen; wir Deutsche aber sollten Protest gegen den Unfug der deutschen Buchhändler einlegen, die uns durch ihre Übersetzungsfabriken allerhand Schmutz und packleinene Literatur aus dem Auslande bringen und durch solche Fratzengebilde wie diese Boziana sind, nur den geläuterten Geschmack der Nation verderben. Es weht ein Branntweingeruch durch diese pseudo-humoristischen Romane; eine stinkige, ordinäre Unfläterei; ein totaler Mangel an aller idealischen Färbung. Es ist gut, wenn der Dichter die Natur belauscht; aber vor dieser öligen, schmierigen, steinkohlenqualmigen englischen Natur möge uns der Himmel bewahren!

Gottfried Keller

Kellers »Die Leute von Seldwyla«

Unter diesem Titel hat Gottfried Keller (Braunschweig, Vieweg, 1856) einige Erzählungen herausgegeben, die schon durch den Namen des Verfassers mehr beanspruchen dürfen als nur die einfache Würdigung des fesselnden oder langweilenden Inhalts derselben.

Gottfried Keller ist ein Schweizer und gibt sich schon seit geraumer Zeit in unserer Literatur mit einer gewissen Sondertümlichkeit. Er gehört zu den neuern Autoren, die von der fast ausschließlichen Wendung unserer Literatur zur Erzählung und zum provinzialen Kolorit derselben den Vorteil gezogen haben, daß sie nur im Tone ihrer Heimat zu reden und ihre Jugendeindrücke auszubeuten brauchten, um sogleich am Parnaß eine zuvorkommende Begrüßung zu erleben. Auch er besitzt ein reichgefülltes Gedächtnis mit allerhand Schnurren und Schnacken und Schwänken, von seltsamen Abenteuern und Menschen und Erlebnissen aus seiner Gegend her. Er sieht sein heimatliches Wesen mit einer Klarheit vor sich wie ein Maler und hat z. B. in den Kommodenschubladen eines sentimentalen Dienstmädchens mit einem solchen Scharfblick gestöbert, daß man seine innigste Freude haben muß an den Prachtstücken von «gemalten Stilleben dieser Sphäre, wie sie kein Wilhelm Kalf, kein Melchior Hondekoeter naturtreuer geschildert haben. Sowie aber der Autor seine Sphäre, d. h. die Erinnerung, verläßt, wandelt ihn denn doch ein auffallendes Ungeschick an, daß man sagen möchte, er gibt Opferschalen in der Gestalt von Butterbüchsen und läßt Menschen vor uns wandeln, denen die ledernen Hosen am Halse zugeknöpft sind. So erzählt in der ersten Geschichte ein schweizerischer Oberst Dinge, die er in Indien erlebt haben will und die ebenso gut in einem Puppenspiel sich ereignet haben könnten. Der vernünftige Mann, der in Frankreich ein Regiment kommandiert, erzählt sie zwei schlafenden Personen, ja in der Manier des Verfassers hätte er sie ebenso gut seinem Stiefelknecht können erzählen lassen.

Die Geschichten von der Mutter Regula und den feindlichen Montechi und Capuleti auf dem Dorfe sind ganz vortrefflich. Sie werden denjenigen doppelt erfreuen, der die Phantasie und Lokalkenntnis besitzt, sich in all die kleinen schweizerischen Situationen zu versetzen, denen diese Vorgänge entnommen sind. Auch ist der malerische und poetische Blick des Autors in solchen Geschichten sehr bedeutsam. Er macht nicht viel Worte z. B. von den plastischen und dramatischen Effekten, die in den von ihm einfach geschilderten Tatsachen liegen; er läßt den Leser ergänzen und auf das selbst aufhorchen, was zu seiner erzählenden ersten Violine sozusagen der Baß des Schicksals brummt.

Und doch zeigen wieder die beiden letzten Erzählungen des Buchs, wie man zurückhaltend und behutsam sein muß in solchen Zugeständnissen an den Autor. Nicht, daß auch einmal seine Erzählungen weniger anziehend sind; darauf kommt an sich wenig an. Mißlich nur ist an dem Verfasser, daß er in seiner Eigenart auffallend breitspurig und behaglich und an seinen zuweilen recht schwachen Witzen, wie in den »Kammachern«, so gar gefallsüchtig sein kann. Gewiß, Gottfried Keller beobachtet sehr scharf; er hat viele Dinge (und Menschen ohnehin) im Nachtkleide, ungekämmt und ungewaschen gesehen; er enthüllt viel Allgewußtes und Dochnochnichtgesagtes mit Schärfe – könnten wir sagen mit grausamer Schärfe! Dann wäre in ihm wenigstens ein Wille, eine Überzeugung vorhanden, ein Aufschwung und eine wallende Regung des Herzens; Phlegma jedoch und Apathie lassen bei ihm selbst die Satire nicht recht aufkommen. Und so schlendert der Autor in einer gewissen menschenfeindlichen Selbstzufriedenheit hin, die uns um die Wirkungen eines großen Talents bringen wird.


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