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Karl Ferdinand Gutzkow: »Ritter vom Geiste«

Vorwort zur ersten Auflage der »Ritter vom Geiste«

Es wird eine lange, weite Wanderung werden, lieber Leser, zu der ich dich hiermit einlade! Rüste dich mit Geduld, mit geschäftlosen Sonntagsvormittagen, einem gut aushaltenden Gedächtnis! Vergiß morgen nicht, was ich dir heute erzählt habe! Werde nicht müde, wenn du lange Ebenen erblickst und sich manchmal der Weg zwischen gefahrvolle, schwierige Gebirgspässe zwängt oder die Landstraße sich plötzlich wie in Wolken zu verlieren scheint!

Was du auf dieser Wanderung wirst zu sehen bekommen, die Landschaft und die dir begegnenden Menschen, deren Wert, Charakter, Wahrheit oder Lüge – sieh zu, wie dein Geschmack damit fertig wird! Ich setze für meine Leistung Nachsicht voraus; wird sie mir von deiner Strenge verweigert, so muß ich's so geschehen lassen. Nur über die lange Dauer dieser Wanderung, das weitentrückte Ziel den großen Proviant an Zeit und Geduld, den ich beanspruche, muß ich dich bitten, mir ein entschuldigendes Wort zu erlauben.

Tu mir nicht von vornherein das Unrecht an und sage: Ich hätte in meinem über das übliche deutsche Maß hinausgehenden Werke die Franzosen nachahmen wollen! »Der ewige Jude«, »Die Geheimnisse von Paris« –! sind geschrieben worden, weil in einer Zeit, wo alles spricht, Menschen, die geneigt sind, lange zuzuhören, eine neue Eroberung sind. Diese glücklichen Zeiteroberer von Paris haben ihre Beute nicht wieder wollen fahren lassen und führten deshalb den Stil ein, den sie von den Jahrmärkten, von den Taschenspielern entlehnten, die ihre Produktionen von heute, immer sogleich mit einer Ankündigung auf morgen schließen. Die Feuilleton-Romane, wie man sie drüben überm Rhein genannt hat, oder die Fortsetzung-folgt-Romane, wie wir sie nennen sollten, sind für große Kinder geschrieben, zu denen man sagt: Heute war's schön, morgen wird's noch schöner werden.

Das also nicht, lieber Leser! Ich wollte freilich, unser strenges Publikum ahmte den französischen an gutem Willen beim Hören und Hinnehmen nach, aber ich selbst bin nur deshalb so lang geworden, weil ich beim besten Willen nicht kurz sein konnte. Sollen wir zurückgezogenen einflußlosen Schriftsteller, die wir doch auch gewohnt sind, den Samen reeller Tatsachen von den Blüten der Erscheinung abzustreifen und in unserer Art auch Etwas für die Geschichte zu tun, die Gründlichkeit nur der Paulskirche und den Protokollen unserer Ständekammern, Interims- und Verwaltungsräte überlassen? Schlimm genug, daß man so ernst, so nachdrücklich, so systematisch mit unserer Zeit sprechen muß! Anekdoten tun's nicht mehr. Was ist Euch Boccaccio? Eine bunte Federflocke vom klassischen Wind bewegt! Es finden sich ihrer allerdings genug, die der Zeit entrinnen wollen und lieber einer vom klassischen Wind bewegten bunten Federflocke nachirren, als dem Jahrhundert, das sie hassen; allein mit diesen mag ich nicht reden. Ich will es mit Denen, die ihrer Zeit vertrauen, Hoffnungen auf sie setzen und die da sagen: Eine Nacht, um ein zweckloses Märchen zu hören, die hab' ich nicht, aber tausend und eine Nacht, die hätt' ich und schenke sie Dem, der sie im Scherze lehrend auszufüllen versteht!

Wohlan denn, Du wunderlicher Heiliger, ich halte Dich beim Wort! Ich sage Dir im Vertrauen, daß eine Nacht und ein Märchen mich selbst, den Erzähler, nicht befriedigen würden. Und erzählt' ich Dir das sinnigste und Arabiens würdigste Märchen, ich selbst würde in unsern sternenlosen Nächten dessen nicht froh, und wo dem Schöpfer nicht wohl wurde bei einem Werke, da kanns dem Beschauer ewig nur weh sein. Schönheit ist ja Ruhe; Ruhe des Gemüts quillt in den Betrachter vom befriedigten Schöpfer, und der Schöpfer, der hier dies vielleicht übervoll aufgeschossene Werk Dir vorlegt, diesen endlos scheinenden Park mit Seen und Brücken und Wasserfällen, gesteht aufrichtig, daß er jenen einzigen Wassertropfen, der jetzt die ganze Welt abspiegelte, nicht hat finden können. Er weiß wohl, es gibt Dichter, die mit einem Wassertropfen die Welt abspiegeln; und noch mehr solche, die glauben, diesen Wassertropfen zu besitzen. Er ging auch hinaus vors Tor und nahm von der Flur einen Tautropfen, der glänzte in der Sonne – grün – aber die Welt ist blau. Ein anderer glänzte blau aber die Welt ist rot. Ein dritter glänzte gelb und grün, und die Welt schillert jetzt in allen Farben. Es ist nichts mehr mit dem Tautropfen, dachte er. Es muß mehr sein und etwas Anderes, wenn auch noch keine Douche und noch kein Regenbad.

Macht ihr Geschichte, dachte er, wir wollen Romane schreiben.

Er dachte an die Geschichtsmacher von heute, die aus dem Staube der Ruinen neue Tempel bauen wollen. Er dachte an die Flicker und Leimer, in deren Hände die Organisationen geraten sind, und die uns nachgerade die Lust genommen haben, nur notdürftig auf ihre Bauplätze zu blicken, mögen sie nun in Paris, Rom, Wien, Berlin oder in Gotha und Erfurt liegen. Baut ihr und flickt an den alten Welten, wir wollen neue bauen, wenigstens in der Idee. Jeder große Münster hat anfangs sein kleines Modell. Die alten Erbauer, wenn sie ein Denkmal bekamen, trugen diese kleinen Modelle in der Hand; diese mochten nicht schwerer wiegen als so ein Roman von mehr Bänden als üblich, ein Roman in dem neuen Stil, der in der Tat architektonisch ist, sehr mißlich nachzuahmen, und auf den uns Professor Gervinus zu seinem Ärger doch noch ein literar-historisches Patent geben soll. Denn ich glaube wirklich, daß der Roman eine neue Phase erlebt. Er soll in der Tat mehr werden, als der Roman von früher war. Der Roman von früher, ich spreche nicht verächtlich, sondern bewundernd, stellte das Nacheinander kunstvoll verschlungener Begebenheiten dar. Diese prächtigen Romane mit ihrer klassischen Unglaubwürdigkeit! Diese herrlichen, farbenreichen Gebilde des Falschen, Unmöglichen, willkürlich Vorausgesetzten! Oder wer sagte Euch denn, ihr großen Meister des alten Romanes, daß die im Durchschnitt erstaunlich harmlose Menschenexistenz gerade auf einem Punkte soviel Effekte der Unterhaltung sammelt, daß ohne Lüge, ohne willkürliche Voraussetzung, sich alle Bedingungen zu Eurem einzigen behandelten kleinen Stoffe zuspitzen konnten? Die seltenen Fälle eines drastischen Nacheinanders greift das Drama auf. Sonst aber – lebenslange Strecken liegen zwischen einer Tat und ihren Folgen! Wieviel drängt sich nicht zwischen einem Schicksal hier und einem Schicksal dort! Und Ihr verbandet es doch? Und was dazwischen lag, Das warft Ihr sorglos beiseite? Der alte Roman tat Das. Er konnte nichts von Dem brauchen, was zwischen seinen willkürlichen Motiven in der Mitte liegt. Und doch liegt das Leben dazwischen, die ganze Zeit, die ganze Wahrheit, die ganze Wirklichkeit, die Widerspiegelung, die Reflexion aller Lichtstrahlen des Lebens, kurz Das, was einen Roman, wenn er eine Wahrheit aufstellte, fast immer sogleich widerlegte und nur eine Tatsache gelten, siegen ließ, die alte Wahrheit von der – unwahren, erträumten Romanenwelt!

Nein, der neue Roman ist der Roman des Nebeneinander. Da liegt die ganze Welt –! Da begegnen sich Könige und Bettler –! Die Menschen, die zu einer erzählten Geschichte gehören, und die, die ihr eine widerstrahlte Beleuchtung geben. Der Stumme redet da auch, auch der Abwesende spielt mit. Das, was der Dichter sagen, schildern will, ist oft nur das, was zwischen zwei seiner Schilderungen als ein Drittes, nur dem Hörer Fühlbares, in Gott Ruhendes, in der Mitte liegt. Nun fällt die Willkür der Erfindung fort. Kein Abschnitt des Lebens mehr, der ganze, runde, volle Kreis liegt vor uns; der Dichter baut eine Welt oder stellt wenigstens seine Beleuchtung der der Wirklichkeit gegenüber. Er sieht aus der Perspektive des in den Lüften schwebenden Adlers herab und hat eine Weltanschauung, neu, eigentümlich. Leider ist es eine polemische. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammengerückt und bekämpfen sich. Resultat: Durch diese Behandlung kann die Menschheit aus der Poesie wieder den Glauben und das Vertrauen schöpfen – daß die Erde von einem und demselben Geiste regiert wird. Ein solcher Versuch, die zerstreuten Lichtstrahlen des Lebens in einen Brennpunkt zu sammeln, das ist die Geschichte, die ich dir, lieber Leser, hier aufgerollt habe. Sie ist in den Tatsachen und in dem sozusagen allegorischen Rahmen keineswegs neu, sie ist es aber vielleicht in der Verknüpfung. Kurz konnte sie ihrer Natur nach nicht werden, denn um Millionen zu schildern, müssen sich wenigstens hundert Menschen vor deinen Augen vorüberdrängen. Denke nur immer, daß der Zweck und die Aufgabe so lautet: Die Missionäre der Freiheit und des Glaubens an die Zeit sind es ihren Gemeinden schuldig, ihnen zu zeigen, wie noch immer die ganze Fülle des Lebens von ihrem neuen Licht beschienen sein kann, und wie es sich noch mit den alten Lungen atmen läßt überall, in jedem Winkel Gottes, den der neue Luftzug der Idee, der Pfingstzeit neues Windeswehen, bestreicht. Die äußere Welt ist allerdings durch Künstlerhand allein nicht zu ändern. Laßt vorläufig unsere Minister und die Soldaten dafür sorgen! Aber die innere Welt, die, welche jeder in seiner Brust trägt, die kann schon eine umfassende, in allen Höhen und Tiefen des Lebens aus einem Gesichtspunkt betrachtete und eine festbegründete sein. Diese Allseitigkeit war nun mein Ziel. Ich sage nicht, daß ich ein Panorama unserer Zeit geben wollte. Wer vermöchte das? Die Aufgabe wäre nicht zu lösen, und anmaßend klänge es, wollte sich jemand ihrer anheischig machen. Aber ein gut Stück von dieser unserer alten neuen Welt sollte aufgerollt werden, eines, gerade groß genug, um ein Menschenleben zu ermuntern, daß es nicht verzagt, sondern getrost in dem einen Geist der Freiheit und Hoffnung fortwandelt und sich die laufenden, tagesüblichen Bedrängnisse der innern Überzeugung nicht zu sehr verdrießen läßt.

Laß dich denn also, lieber Leser, in diesen Blättern einspinnen, wie sich der werdende Schmetterling in den Kokon spinnt, wo er Blatt und Baum, auf dem er eben hilflos irrt, auch preisgibt und sich wie im Vortraum seines neuen Lichtlebens begräbt. Die Kunstrichter mögen richten; voreilige Kritik mag dem Leser die Lust nehmen wollen, dem Erzähler zu folgen; achte ihrer nicht und bleibe dem dich einhüllenden Gespinst treu, bis dem weitern Verlaufe zu die Hülle bricht und in anschauender Prüfung meiner Absicht auch dein Geist mit bunten Hoffnungen und heitern Glaubensschwingen in jene Gemeinschaft der Getreuen und Festen, der Ritter vom Geiste, aufsteigt, von deren Schicksalen diese Blätter dir erzählen wollen.

Dresden, am Pfingsttage 1850.


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