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Der Realismus und die Idee.

Wahrheit und Wirklichkeit.

Man kann den Zufall verdammen, man kann selbst überzeugt sein, daß in allem, was geschieht, eine konsequente Offenbarung des Gottes da liegt; und doch würde niemand zu behaupten wagen, daß alles, was geschieht, alles, was wir als geschehen beobachten können, etwas andres sei, als die zufälligen Äußerlichkeiten jener offenbarten Gottesidee. Ich glaube, daß alles gut ist, was geschieht; glaube aber nicht, daß eben nur das geschehen kann, was geschieht. Unendlich ist das Reich der Möglichkeit, jenes Schattenreich, das hinter den am Lichte der Begebenheiten sichtbaren Erscheinungen liegt. Es gibt eine Welt, die wenn sie auch nur in unsern Träumen lebte, sich ebenso zusammensetzen könnte zur Wirklichkeit, wie die Wirklichkeit selbst, eine Welt, die wir durch Phantasie und Vertrauen zu kombinieren vermögen. Schale Gemüter wissen nur das, was geschieht; Begabte ahnen, was sein könnte; Freie bauen sich ihre eigne Welt.

Zwei Garantien der unsichtbaren Welt sind die Religion und die Poesie. Jene schließt das Reich der Möglichkeit auf, um zu trösten; diese, weil sie die Wirklichkeit erklären will. Beide beruhen auf Täuschungen, nur ist die Poesie glücklicher, weil sie die Wahrscheinlichkeit für sich hat. Es ist leichter, an ein Gedicht, als an den Himmel glauben. Die Ereignisse des Gedichtes sind oft die heimlichen Erklärungsmotive der Wirklichkeit, die Schöpfungen des Autors haben die Analogie für sich und die Erde; aber der Himmel schwebt in der Luft und ist, trotz aller Philosophie, ohne Maßstab, wie Gott selbst.

Die Geschichte der Poesie zeigt, wie sich in ihr von jeher Wahrheit und Wirklichkeit gestritten haben. Jene Gemüter, welche wir die schalen nannten, entschieden sich für die Wirklichkeit, die freien für die unsichtbare Wahrheit, die begabten, die empfänglichen, die sogenannten Leute von Geschmack, Bildung und Erziehung, für das Mittlere zwischen beiden, für die Wahrscheinlichkeit. Und so ist es noch. Bei jeder neuen Dichtung fragen die Einen: Wo geschah dies? die, Andern: Sollte dies geschehen können? nur die freien Gemüter entscheiden, ohne zu fragen, weil sie es fühlen, daß das, was nicht geschieht, immer noch wahr ist, selbst wenn es nicht geschehen kann.

Alles, was die Wirklichkeit kopiert, ist für die Masse. Diese Gattung der Poesie erhebt sich von der untersten Stufe der Genremalerei bis zu den Romanen von Walter Scott und Bulwer, bis zu den Dramen Ifflands und Kotzebues. Nur hell, blank und geschliffen muß diese Literatur sein, weil sie der Wirklichkeit gegenüber nur ein Spiegel ist, der sie treu auffaßt und wiedergibt. Für die schalen Gemüter ist nichts genialer, als sich selbst so zeichnen, wie sie sind: ihre Tante, ihre Katze, ihren Shawl, ihre kleinen Sympathien, ihre Schwachheiten. Was haben wir von euern Grillen? von euern Erfindungen, die in der Luft schweben? Gebt uns selbst, dem Egoismus den Egoismus! Es gibt Kritiker und Literatoren, die sich nur für das Kopieren der Wirklichkeit enthusiasmieren können. Das Wahrscheinliche ist bei ihnen schon eine Konzession. England hat von jeher diese Art der poetischen Darstellung bevorzugt, Deutschland ist systematisch genug bearbeitet worden, hierin nachfolgen zu müssen. Die alte Literatur steht bei uns versteinert da in Tempeln und in Walhallen, die mittlere war keines Schusses Pulver wert, die neue hat nur noch ein schwankendes und kaltes, von Politik und spekulativer Trägheit ganz darnieder gehaltenes Publikum. Darauf kommt alles zurück: man will von der Literatur keine Anstrengung haben; die Literatur soll niemanden mehr eine unruhige Nacht machen, sie schildert, sie porträtiert, sie stillt die Leselust mit Historie und Bulwer. Die Poesie ist jetzt Selbstbefruchtung. Die Wirklichkeit nährt sich von ihrem eignen bürgerlichen, überquellenden Fette.

Menschen, die schon eine Stufe höher stehen, sind mit der Wahrscheinlichkeit zufrieden,. Sie wollen nur einige Voraussetzungen, die den Boden der Wirklichkeit berühren; das übrige überlassen sie der Kombination und Phantasie. Dies sind die gemütlichen Leser, die sich durch poetische Schöpfungen in einen sanften Halbschlummer wiegen lassen, die die Bücher nach der Elle konsumieren. Es muß ihnen nichts zu nahe, und nichts zu ferne liegen. Schwebend zwischen Himmel und Erde, ganz willenlos hingegeben den Kaprizen des Dichters, freuen sie sich zuletzt, daß nun alles, was sie gelesen haben, doch entweder nicht wahr ist, oder im entgegengesetzten Falle immer sehr wahrscheinlich bleibe.

Die Wahrheit selbst ist unsichtbar und liegt niemals in dem, was wirklich ist. Die poetische Wahrheit ist schöpferisch. Sie baut mit den geheimsten Fäden der menschlichen Seele, sie kombiniert nicht, wie der Staat, die Familie, die Religion, die Sitten und das Vertrauen kombinieren, sondern revolutionär. Die poetische Wahrheit offenbart sich nur dem Genius. Dieser lauscht niedergestreckt auf den Boden der Wirklichkeit, und hört wie in den innersten Getrieben der Gemüter eine embryonische Welt mit keimendem Bewußtsein wächst. Wer auf seine Entwicklung lauscht, muß sich oft gestehen, daß ganze Gedichte in ihm sich zusammenreimen aus Motiven, welche die Außenwelt niemals anerkennen würde. Dies sollte nicht auch Wahrheit sein? Dies sollte den Dichter nicht entzücken? Die Alten und die Mittleren schufen in dieser Weise nicht: aber die Modernen werden es. Ihre Historien sind nicht die Sage oder Gedichte, sondern die Ideen, die im Schoße der still wirkenden und schaffenden Gottheit schlummern. Die Welt, wie sie ist, wird ihren Gebilden nicht entsprechen; diese werden dem nüchternen Vorwurfe der Unwahrheit und Unwahrscheinlichkeit ausgesetzt sein. Aber noch immer ging das Genie seinem Jahrhunderte voraus.

Zwei Tatsachen möcht' ich aus Obigem folgern: die beiden weniger literarisch, als historisch sind.

Wenn man in Anschlag bringt, daß entschieden schon in der französischen Literatur, ohne alle Widerrede auch bei uns allmählich eine Poesie der ideellen Wahrheit und reellen Unwirklichkeit sich zu entfalten beginnt, wenn man diese Frauengebilde betrachtet, welche die Phantasie der jetzigen begabteren Dichter erfindet, diese originellen Situationen und allem Herkommen widersprechenden Sitten; sollte man diese Erscheinung nicht für beziehungsreich halten für unser zukünftiges Leben, für die Existenz in der Wirklichkeit, für die weite Unterlage der Masse und des allgemeinen Glaubens? Es ist wahr, die Dichter fangen an, auf immer luftigeren Bahnen zu wandeln: sie schaffen sich ihre eigenen Welten mit Thronen, die ihre Phantasie erbaute, mit Richterstühlen, die ihre eigne Gesetzgebung haben, mit einem Gottesdienst, dessen Priester nur noch die kleine Gemeinde selbst ist. Es baut sich eine Wahrheit der Dichtung auf, der in den uns umgebenden Konstitutionen nichts entspricht, eine ideelle Opposition, ein dichterisches Gegenteil unsrer Zeit, das einen zweifachen Kampf wird zu bestehen haben, einmal einen gegen die Wirklichkeit selbst als konstituierte Macht mit physischer Autorität, sodann einen gegen die Poesie der Wirklichkeit, welche so viel Dichter und so viel Kritiker für sich hat.

Dies ist ein Symptom unsrer Zeit, aus dem wir bis jetzt noch keinen weitern Schluß ziehen wollen, als einen, der vielleicht außerhalb der Literatur liegt, den ich aber nicht verschweigen will, weil jedes, was die Menschheit ehrt, auf den Lippen des Enthusiasten brennt. Man verwirft mit Recht das Experimentieren mit der Menschheit, aber man geht darin weiter, als man darf, ohne die Menschheit zu beleidigen. Wir fürchten uns den Zeitgenossen etwas zu entziehen, wovon wir uns einbilden, daß es zu ihrem Leben nötig ist. Wir glauben an die Institutionen in Sitte, Meinung und politischer Einrichtung, wie an die unerläßlichen Lebensbedingungen der Jahrhunderte, als wenn die Menschheit keine innern Quellen hätte! Als wenn sie unterginge, wenn ihr sie aus dieser ganzen Sündflut ihrer Existenz plötzlich nackt und noch triefend auf den Ararat versetztet! Als wenn die Menschheit nicht immer die erste sein wird, die sich hilft und diejenige, welche für sich den besten Rat weiß! Sie zucken die Achseln, wie unvorsichtige Ärzte, sie fürchten für das Leben des Patienten und quacksalbern an den alten Schäden herum; aber nehmt der Menschheit ein Bein ab: sie wird sich ein neues machen; nehmt ihr, um nur eines, was unmöglich scheint, zu nennen, z. B. das Christentum: glaubt Ihr, daß sie untergehen wird? Nehmt ihr Eure Gesetzbücher, Eure Verfassungen; – nehmt ihr zuletzt das, worauf alles ankommt, nehmt ihr Euch selbst! – und die Menschheit wird fortbestehen. Sie wird alles ertragen, und durch Felsen von stärkstem Granit noch immer einen Weg finden, der sie zu ihrem Ziele führt.

Über die Idee in der Literatur

Es handelt sich um zwei Begriffe, um die Nation und um die Literatur. Wo die Nation steht, wissen wir; wo die Literatur, das ist zweifelhaft. Die Literatur soll der Spiegel des Nationallebens sein. Das ist entschieden; aber soll sie nicht mehr sein? Ja, sie soll mehr sein. Die Literatur schöpft niemals aus der Durchschnittsintelligenz. Diejenigen Geister, welche mit der Masse gehen, werden die Masse niemals erheben können. Unsere Sitten und Gebräuche, unsere Geschichte, unsere Hoffnungen spiegeln sich in der Literatur: aber das wäre eine jämmerliche Literatur, die das Journal zu ihrem Kulminationspunkt nimmt. Diejenige Literatur, die nur das Nationalleben spiegelt und nur ein Echo unserer Misere oder unseres Glücks ist, was bietet sie dir? Neue Ideen, Zukunft, Anblicke heroischer Subjektivitäten, welche die Literaturgeschichte so interessant machen, Kometengeister, die die Planeten und Fixsterne durchkreuzen? Es ist vorüber mit dieser Literatur des reflektierten Nationallebens. Sie konnte keinen größeren Dichter in Deutschland hervorbringen, als Unland, einen Mann, den ich hochschätze, und keinen größeren Kritiker, als Menzel, einen Mann, den ich verachte.

Man warnt vor einer aristokratischen Literatur. Ich meine, man sollte nur vor einer Literatur warnen, die den Massen schmeichelt. Wir würden weit kommen, wenn die Literatur nur dazu diente, einem Handschuhmacher sein Konto zu entwerfen, das er lithographieren läßt, oder die Aufforderungen zu stilisieren, welche an die Bürger ergehen, um einen Gemeinderat zu erwählen. Ich nenne hier nur das Äußerste; aber eine Literatur, welche die Masse portraitiert, wie sie ist, eine Literatur, welche in Versen oder Prosa niemand anders ist, als du selbst, führt so weit. Es ist unmöglich; man kann die Musen nicht bei den Bürgern verdingen und den Pegasus zur Vermittelung unseres täglichen Brots in den Pflug des Bauers spannen.

Es gibt nur zwei Endziele, für welche sich das Genie begeistert: die Tat und die Kunst. Unsere Zeit ist politisch die der Masse und des Gesetzes. Kommen wir zu einem Endpunkte, so geschieht es jetzt weniger durch Handeln, als durch Dulden. Jene Rennbahn, die das geschichtlich Außerordentliche produziert, ist verschlossen. Mut, Jugend, das Leben – mit den erhabensten Opfern ist es nichts. Die Opfer werden immer allein stehen und keine Nachahmung finden.

Was bleibt zurück? Die Idee. Wer für den Tag nicht wirken kann, sucht für das Jahrhundert zu wirken. Wo stehen wir? wir gehören der Welt und der Nation an. Wir müssen etwas tun, was Ersatz ist für das, was wir tun könnten. Es muß wenigstens eben so groß sein, wie unsere Vorstellung. Wir ergreifen die Feder.

Da sind die Götter der Literatur! Da ist Goethe, Schiller, da ist Klopstock, Herder, Wieland. Da sind die Heroen, die schon an die Unterhaltung dachten: Jean Paul, Hoff mann. Wir werden viel aufbieten müssen, um der deutschen Sprache Ehre zu machen. Wir werden uns aber die Aufgabe erleichtern, indem wir den Kreis, der um uns steht, verengern. Wir werden, indem wir das Wort Literatur im Munde führen, nicht jedem Nachbar die Hand drücken und die Häuser reihherum besuchen und nach dem Befinden der gesegneten Frau Gemahlin fragen. Wir werden uns nur ungefähr soviel Zuhörer denken, als Unterrichtete, Gebildete und Geschmackvolle im Lande sind.

Es ist ein entsetzliches Unglück, daß sich in den letzten zwanzig Jahren gerade diejenigen produktiv mit der Literatur beschäftigt haben, welche keinen Beruf dazu hatten. Die schöne Literatur wurde in dieser Art etwas, was den gebildeten Mann anekelte. Man wußte im voraus, daß dasjenige, was sich auf die Literatur warf, immer das Unsauberste, Genieloseste und Gemeinste war, was in Deutschland grade aufgetrieben werden konnte. Nur der Kampf gegen diese Trivialitäten interessierte den Gebildeten; späterhin einige Persönlichkeiten, die sich witzig und schwärmerisch aus sich selbst entwickelten, und durch die Naivität ihrer Produktionen anzogen. Es schien, daß diese subjektive Periode unserer Literatur, die niemand poetischer repräsentiert, als Heine, keine eigentliche Absicht hatte, ausgenommen die, einen Beweis für ihre Fähigkeit zu liefern. In der Tat, dahin mußte es kommen, daß die aufstrebenden Köpfe protestierten gegen eine Verwechslung mit den Männern, welche fünfzehn Jahre hindurch die deutsche Literatur gemacht haben. Ich glaube, daß nur diejenige Literatur von Wert ist, welche der Masse imponiert. Subjektive Beweise mußten geführt werden, daß die Nation von der neuen Poesie etwas zu erwarten hat, was gegen die Restaurationsperiode den Vorsprung der Genialität voraus hat...

Über die politischen Interessen des modernen Schriftstellers

Halten Sie es für ein Glück, Dichter zu sein? Ich wenigstens nur dann, wenn ich von irgend einem verrufenen Kritiker, aus dessen Munde der böswilligste Tadel zum beschämendsten Lob wird, in allen Gelenken gelöst werde. Diese Art von Feindseligkeit (denn für das Lob literarischer Freunde, das immer nur langweilig ist, dank' ich) ermuntert mich, weil ich weiß, daß solche Feinde mir nur Enthusiasmus erregen werden. Sonst hindert dichterischer Lorbeer. Es ist unmöglich, so bekränzt wie Dante zu sein und sich einen wassergeprüften fashionablen Hut aufzusetzen. Glauben Sie mir, daß in mir das ewige Idealisieren einen rechten Heißhunger nach der Wirklichkeit erweckt. Ich möchte kein Staatsmann sein, aber oft und gern auf die Politik zurückkommen. Meinen prekären Erfindungen gegenüber haben für mich die Tatsachen wieder einen unendlichen Reiz. Ich gestehe Ihnen, daß ich die meisten Dinge manchmal richtiger zu beurteilen glaube, als die, welche dafür besoldet werden. Ich bilde mir sogar ein, die Kriegskunst zu verstehen, und habe, wenn ich des Abends nicht einschlafen konnte, im Bette schon manche Schlacht zwischen Nationen aufgeführt, von welchen aber immer diejenige unterlag, die – ich kommandierte! Denn über dem Kanonendonner schlummerte ich allmählich ein und mußte das Schlachtfeld räumen.

In allem Ernste, mein hochgeachteter Freund, ich habe die Neigung zur Politik mit den meisten altern Dichtern gemein, wie sehr ich auch sonst hinter ihnen zurückstehe. Dante und Milton ergriffen sogar Partei, die andern lieferten nicht ungern Strophen und Szenen, welchen sich eine Bezüglichkeit auf die große Welt abgewinnen ließ. Überhaupt war aber auch die Stellung der Literatur in vergangenen Zeiten eine andere, als jetzt. Die Literatur stand über den historischen Tatsachen, sie wurde um Rat gefragt, sie hatte noch Gewalt genug, um etwas entscheiden zu können. Die Literatur verlor dies Übergewicht erst, als sie sich der historischen Autorität selbst unterordnete und ihr zu schmeicheln anfing. Die französische Literatur hat diesen Verrat an der Selbstgesetzgebung des Geistes zu verantworten. Sie machte sich anheischig, die Taten der Könige beurteilen zu wollen, und endete damit, daß sie sie nur erklärte, aufschrieb und pries. Friedrich II. und Katharina geizten nach dem Beifalle Voltaires; aber indem sie die Literatur zu erheben schienen, setzten sie sie nur herab. Denn Literatur blieb nicht mehr die geschlossene Kette einer bestimmten, streng vorgezeichneten Freiheit, sie hielt ihre einzelnen Glieder nicht mehr zusammen, sondern wurde, statt sich in den Objekten zu konsolidieren, individualisiert, wurde Eigentum eines Einzelnen, der Witz und Kenntnisse genug besaß, um sie zu beherrschen, mit einem Worte, die Literatur war nicht mehr Masse, sondern Person. Durch eine solche von den Franzosen verschuldete Umkehr ihrer Bestimmung hat auch die Literatur seither ihre Kraft verloren und kann nur noch als individuelle Meinung wirken, als eine Meinung, die sehr wenig ausrichtet, wenn sie nicht durch Namen, Rang und großen Ruf unterstützt wird.

Bei den Engländern findet noch so ziemlich zwischen Leben und Literatur ein Gleichgewicht statt. Dies kommt aber weniger von dieser, als von jenem her. Denn Englands Geschichte hat sich früher, als die anderer Nationen, bestimmte Formen erobert, innerhalb deren sich das Urteil der Publizisten bewegen konnte. Eine frühe Spaltung der dortigen politischen Begriffe teilte sich der ganzen Nation mit, es kam darauf an, man erwartete es, daß hier etwas angegriffen, dort etwas verteidigt wurde. Die Formen der politischen Existenz mußten in England erklärt werden und, da sie zunächst nur Kreise ohne Inhalt sind, ausgefüllt. Die Feder war an die Stelle des Schwertes getreten, d. h. sie war eine Hilfeleistung und wurde wenigstens dort als eine unumstößliche Tatsache anerkannt, wo sie unter den Ihrigen, unter der Partei war. Allein diese günstige Entwicklung der Literatur, welche, wenn nicht den gründlichen Werken, doch den Pamphlets und Journalen eine große Wirksamkeit gelassen hat, findet sich auf dem Kontinente weit weniger. Mit Napoleon hörte in Frankreich die Furcht vor der Literatur auf. Paul Louis Courier fiel nur als eine Ausnahme. Jetzt, werden Sie gestehen, ist in Frankreich der gedruckte politische Buchstabe, schon ehe er trocknete, zu Makulatur geworden.

Aus diesen Tatsachen ist nun ersichtlich, wie undankbar es ist, wenn man sich mit der Kritik der Öffentlichen Angelegenheiten als Autor beschäftigt; aber ebenso auch, wie erklärlich, immer wieder von neuem etwas zu versuchen, was nur Wasserschöpfen ist in das Faß der Danaiden. Die Literatur will sich ein Recht erobern, das ihr bestritten wird. Sie beschwört alle Mittel, die ihr zu Gebote stehen, um die Tyrannei kalter, spröder und vornehmer Tatsachen zu stürzen. Die Philosophen kommen mit ihren ersten und letzten Gründen der Dinge, strecken ihre knöchernen Hände aus und weissagen. Die Dichter runden ihre lachenden Gleichnisse ab, spitzen ihre feinen Spöttereien und umziehen den Gegner mit so viel Blumengirlanden, bis sie ihn eines sanften, scherzenden Todes ersticken sehen. Es ist eine gährende und gefährliche Bewegung, die immer gerüstet an den Toren der offiziellen Hotels steht und sie entweder mit stürmenden Ballisten berennt oder sich erst bei der Frau des Concierge, dann bei ihm selbst einschmeichelt, sich in die Freundschaft des Kammerdieners hineinwitzelt, zuletzt in der Antichambre der Autorität steht und aus einem muntern Scherze sich in den Schlangenstachel verwandelt, der aus dem Blumenstrauße der Kleopatra züngelt. Es soll in Deutschland Schriftsteller geben, welche über die Äpfel der Hesperiden schreiben und darunter die Reichsäpfel der Könige verstehen.

Es scheint mir aber, daß sich diese Polemik einige Fehler zuschulden kommen läßt, die alle ihre Wirkungen aufheben. Man läßt sich in Kämpfe ein, deren Terrain man nicht untersucht hat. Man spricht in einer Sprache, die dem, der sich belehren lassen soll, unverständlich ist. Endlich mischt man zu viel Arkadien in unser runzliges Europa, man macht aus der alten Schönen eine Theaterprinzessin, die sich schminkt und eine Jugend affektiert, die sie längst verloren hat. Unsre Zeit hat Torheiten, von denen der Kabinette bis zu denen des Boudoirs, von der Krone herab bis zur Krawatte; aber sie hat dabei etwas ungemein Anziehendes, selbst wenn man ihre Abgeschmacktheiten vergleicht. Es gibt nichts so Unvernünftiges, was bei uns die Gedankenlosigkeit in der Politik, Moral und der Mode ausgeheckt hat, das nicht zu gleicher Zeit einen gewissen Anstrich, eine gewisse Raison hat, wenn man auch über sie nur lachen muß. Der Nonsens unsrer konversationellen Beziehungen ist kein Defizit an Vernunft, sondern Obervernunft, die uns bei schlechter Laune albern, bei guter zuweilen recht ergötzlich erscheint. Von Sprache z. B. ist nirgends mehr die Rede, alle Verhältnisse, die gelehrten wie die gesellschaftlichen, haben ihren Jargon. Die Religion hat ihren Jargon, die Moral, die Politik, die Industrie, die Liebe. Man kann sich mit Redensarten weit kürzer und bequemer ausdrücken, als wenn man vernünftig spricht. Man gähnt, man sagt eine Stelle aus Hamlet, man ruft: Sehr, sehr!, und man hat beinahe eine Rede gehalten. Denn jeder, der eingeweiht ist, versteht diese Abkürzungen und Zitate. Ein Vernünftiger hält zwei Menschen, die sich auf diese Weise durch Knurren, Schnalzen, Gähnen und einige unartikulierte Interjektionen ihre Ansichten und Gefühle wechselseitig zu verstehen geben, für verrückt, während sich doch diese Leute vortrefflich miteinander unterhalten. Ich kenne zwei junge Gentlemen, welche durchaus nicht wie Sprößlinge einer reichen Primogenitur leben können, die sich im Gegenteile noch unter dem Lose »jüngerer Söhne« befinden und tüchtig rudern müssen, um zu schwimmen. Sie haben unendlich viel Erfahrungen durchzumachen, sie kennen auch einer des andern Begegnisse und schwierige Lagen, und dennoch wird man niemals finden, daß sie ein Wort miteinander reden. Sie sitzen zusammen, gähnen, seufzen, beobachten ein pythagoräisches Stillschweigen und wissen doch alles, was ihnen passiert. Waren Sie bei der Gräfin Fink ...? fragt der eine, wenn sie sich sehen. Der andre stößt einen Ton aus, der zwar das Anhören eines Seufzers hat, aber doch so hoch hinauf gezogen ist, daß er weit mehr Vergnügen als Schmerz auszudrücken scheint. Jetzt schweigen sie eine Viertelstunde, während welcher sie nur mit ihrem Mienenspiele sich verständlich sind. Sie lachen, sie beißen die Lippen über einander, sie spitzen die Zunge und drücken ihre Backen in die Höhe, kurz sie betrachten sich wechselsweise wie Telegraphen und erreichen durch allerhand pantomimische Merkwürdigkeiten ein Resultat, das auf einen ungefähren Roman hinauskommt und einen Bogen von 24 Seiten brauchen würde, wenn man ihn mit all' den witzigen Nuancen wiedergeben wollte, mit welchen sie sich ihn erzählt haben.

Diese Abschweifung entschuldig' ich durch das, was ich sogleich sagen werde. Ich finde nämlich, daß diejenigen, welche über die öffentlichen Angelegenheiten schreiben, den Charakter unsrer Zeit nicht gründlich studiert haben, und daß, wenn sie auch die Zeit kennen, ihnen doch wieder die Zeitgenossen gänzlich unbekannt geblieben sind. Es läßt sich vielen Verhältnissen unsers Jahrhunderts eine bessere Form geben; allein der Stoff, aus dem man schaffen will, wird ein andrer sein, als der ist, welchen man vorfindet. Man kann, streng genommen, nichts Neues gründen, man kann immer nur das Alte verbessern, einen Acker, der brach lag, umpflügen, ihn düngen, man kann Früchte erzielen, Grund und Boden aber müssen gegeben sein. Was sind nicht für Theorien aufgestellt worden, um unserm Jahrhundert zu Hilfe zu kommen! Sie schöpften alle nur den Schaum von den Zeitgenossen ab und berechneten ihre Schriften für ein Abstraktum, das nirgends existierte. Mich wenigstens treibt es augenblicklich aus den Allgemeinheiten heraus, wenn ich mich in sie verflogen habe, und es klopft an meine Tür. Herein! Der Friseur. Eine Gestalt, die uns mitten im Sommer das Bild des Winters gibt, weil der Puder wie festgefrorner Reif an dem Kleide sitzt; eine krumme, servile, höfliche Schwatzhaftigkeit, welche die Menschen nach ihren Toupés beurteilt und deren täglicher Refrain ist: »Ja, ehemals! Der Perruquier ist für unsre Zeit hin: Alles schert sich glatt; die Frauenzimmer stehen des Morgens auf, links, rechts, hin und her, so, der Zopf ist fertig, herumgewunden, aufgesteckt, zwei Löckchen an den Ohren! Das ist die heutige Kunst, die sich selbst bedient!« Dieser Mann ist unausstehlich, er gehört dem vorigen Jahrhundert an, er macht aber schon mehr als dreißig des neuen mit. Darf ich ihn übergehen? Muß ich ihn nicht anschlagen? Und so den ganzen Tag. Das Rufen und Lärmen auf der Gasse, die neuen Erfindungen, die Plakate, die Stiefelwichspatente; kann man dies alles vergessen, wenn man über sein Jahrhundert nachdenken will? Dort steht ein junger idealistischer Revolutionär aus Paris, ein Eingebürgerter von St. Pelagie. Sein Haar wallt lockig über die Schultern, es ist schwarz und hat vor Frühreife schon, gegen das Licht gehalten, ein graues Lustre; er runzelt die Stirn, er liest in den Werken St. Justs, er ist adlig und läßt die Bezeichnung davon aus, er ist reich und hungert, um die Empfindungen der Proletarier zu studieren. Und hier führ' ich Euch in ein Haus, das mit Tulpen rings umpflanzt ist, ein sauber lackiertes Haus in Holland, in welchem man nichts, als Milch und Kupfer sieht, in der Nähe derer, die es bewohnen, zweier Eheleute, die ohne Kinder alt geworden sind. Sie stehen spät auf, frühstücken eine Stunde, lesen sich wechselseitig die Zeitung vor, von dem leitenden Artikel an bis zum Hunde, der verloren ist und auf den Namen einer Sängerin hört, mit welchem ihn sein Herr taufte; sie lesen alles, frühstücken dann zum zweiten Male, lassen sich dann von vier Ziegenböcken durch ihren Tulpengarten fahren, essen eine lange Zeit hindurch zu Mittag und beginnen das Komischste, was ich mir von zwei alten kinderlosen Eheleuten denken kann. Er im Schlafrock, mit der Nachtmütze, sie noch immer in der Morgencontusche, einem Jäckchen, das nur kaum bis über die Taille geht und dann weiter unten einem flanellenen Unterrocke Raum gibt. So setzen sich die beiden Leute, die eine Million besitzen, einander gegenüber, beide rauchen Zigarren, eine Flasche Portwein steht zwischen ihnen, rings ist alles fest verwahrt, sie spielen eine Kartenpartie, sprechen dabei kein Wort, sondern gehen, vom Spiel, Dampf und dem Portwein allmählich übermannt, stumm und steif um acht Uhr zu Bette. Ist dies nicht auch eine Szene des Jahrhunderts? Darf sie der Reformator übersehen? Darf sie, wenigstens wenn man von Holland spricht, vergessen werden?

Ich sagte schon, daß es Schriften gibt, wo dies alles übersehen wird. Die Verfasser derselben taten die unzähligen Charaktere und Individualitäten unter den Zeitgenossen zusammen in einen großen Trog, wie man die Kartoffeln zusammenstampft und preßt, bis ihre Quintessenz, aus der man Mehl, Zucker, Aquavit bereits gemacht hat und vielleicht sogar auch Fleisch machen wird, bis ihre Medulla, wie die Alten auch vom Kern der Menschen sagten, herausgedrückt ist. Für diesen Durchschnittscharakter der Zeit stellen sie dann ihre guten Lehren auf, die sie mit Stellen aus antiker und mittelalterlicher Weisheit zu erhärten suchen. Dies Verfahren hat uns eben so viel geistreiche Köpfe wie Scharlatane kennen gelehrt. Ich billig' es nicht. Ich mag meine lieben guten Nachbarn, die so wenig Lärm machen und wenn nicht durch das Parlament, doch durch die Kirche mit der Zeit zusammenhängen, ich mag meinen Comte-prolétaire und meine beiden Holländer nicht um ihr Stimmrecht in den Angelegenheiten des Jahrhunderts bringen. Sie gehören mit dazu, wenn sie sich auch nur durch ihre Ruhe, durch ihre Torheit oder durch die Steuern, die sie zahlen, auszeichnen.

Es ist ein Fehler, daß die reformierenden Schriftsteller fast immer nur die Intelligenz, selten die Materie im Auge haben. Es ist sogar ein Nachteil für diejenigen, welche durch eine Einseitigkeit dieser Art am meisten geehrt werden. Die Reformatoren wollen immer nur die Ideen gegeneinander ausgleichen, statt daß sie die Ideen mit der Materie, mit meinen beiden Holländern ausgleichen sollten. Ob ich dem Systeme der Bewegung, meine Kritiker dem des Widerstandes angehören, das sollte zuletzt weit weniger entscheiden. Ein System ist immer ein weiter Vorsprung. Die Vorzüge des Jahrhunderts miteinander in Kampf zu bringen, ist wahrlich nur eine ganz einseitige Polemik! Mit einem Worte, es handelt sich weit weniger um Revolution, als um Aufklärung, Aufklärung über uns selbst.

Realismus und Idealismus.

Da uns gelegentlich die Bemerkung gemacht wurde, daß unsere, der »Unterhaltungen« befindliche Äußerung der »idealisierte Realismus« wäre von den realistischen Richtungen die verwerflichste, die Poesie aufzuheben scheine, so kommen wir, ohnehin versprochenermaßen, auf diese Unterscheidungen zurück.

Man liest jetzt soviel von realistisch und idealistisch. Was hat es damit für eine Bewandtnis?

Allgemein bekannt ist die Unterscheidung der Goethe'schen und Schiller'schen Dichtweise. Jene ging von der Erscheinungswelt, diese vom Gedanken aus. Goethe war Realist, Schiller Idealist.

In neuester Zeit hat man dem Realismus den Vorzug gegeben, denn man will entdeckt haben, daß der Idealismus zum Schattenhaften und Wesenlosen führe; Schiller, Jean Paul, die Romantiker und unsere transzendentale Philosophie hätten nur Straßen angebahnt, die in ein Utopien führten ...

Man suchte daher, um Träumereien über Reform der Staaten, Sitten und Meinungen zu vermeiden, nach einem positivern Inhalt der poetischen Darstellung und fand diesen allmählich teils durch Nachahmung des Fremden, teils durch eigenen Umblick. Von den Franzosen hatte sich seit 1850, fast gleichzeitig mit dem idealistischen Roman, das Genrebild in Deutschland eingebürgert; von den Engländern ermunterte Boz, auch auf deutsche Sitten und Eigentümlichkeiten, vorzugsweise die gegebenen sozialen Verwicklungen einzugehen. Das deutsche Provinzleben fand einen reizenden Ausdruck schon seit lange in Hebels »Alemanischen Liedern«; in der Schweiz war die Richtung Pestalozzis weiter ausgebildet worden von Ulrich Hegner, Zschokke und Jeremias Gotthelf; Immermann überraschte durch die westfälischen Tatsächlichkeiten in seinem sonst so formlosen und zu dem alten romantischen Spuk- und Koboldwesen gehörenden »Münchhausen«. Daran schloß sich die Dorfgeschichte und Hackländers Soldatenerinnerung. Das Material für den Realismus war gefunden.

Eine Sonderung und Zersetzung in zwei ihrer selbst erst bewußte Richtungen konnte nur die Folge eines kritischen Prozesses sein. Dieser wurde, ätzend und säuerlich genug, in Leipzig vollzogen. Man erklärte der ganzen deutschen Literatur, soweit sie idealistisch war, bis zu den »Räubern« Schillers hinauf den Krieg. Schillers Lyrik hieß »beinahe ein einziger großer Irrtum«. Jean Paul wurde der Vertreter rechtloser und polizeiwidriger Begriffe und Kopf-, Herz-, Sitten- und Charakterlosigkeit jeder Art galt als der eigentliche Niederschlag jenes Idealismus, dem plötzlich alles mit einem Rette sich wer kann! zu entfliehen suchte.

Man hat nun gegenwärtig eine sich realistisch ausdehnende Literatur, d. h. man hat die Ideen, Abstraktionen, Träume von Glauben, Wissen, Denken, Fühlen u.s.w. aufgegeben und daguerreotypiert die Wirklichkeit. Manche tun dies ganz roh. Diesen bricht natürlich jedes Forum, auch das realistische, den Stab. Irgendeinen Zweck, irgendeine Idee, eine Zuspitzung muß auch die Beobachtung des Getreidesäens oder der Schafzucht oder der doppelten italienischen Buchhaltung haben. Und darüber können zuletzt alle einverstanden sein, daß eigentlich der ganze Streit insofern ein müßiger ist, als ja wahrlich auch vernünftigerweise keine noch so neue Theorie etwas anderes wollen kann als allenfalls einen Idealismus, der sich real, d. h. auf Voraussetzungen der Natürlichkeit und Wirklichkeit, zu offenbaren und auszusprechen, und einen Realismus, der seine Anschauung des Lebens und der bunten Erscheinungswelt zu einem Kunstzweck zu konzentrieren sucht. Vom dichterischen Standpunkt aus, soweit die obengenannte moralische und polizeiliche Kritik dies oder das als dichterisch zuläßt, können Idealismus und Realismus vielleicht verschiedene Wirkungen hervorbringen, doch in ihrem Werte vor dem Musenhofe sind sie beide in dem Falle sich gleich, daß nur entweder zur Seele die rechten Glieder oder zu den Gliedern die rechte Seele kam. Verwerflich aber ist die Zwittergattung, die ein Stück Realismus und ein Stück Idealismus ist. Idealisieren darf der Künstler, aber er darf es nur insoweit, als dem Realen dadurch kein Abbruch geschieht, in dem, was zu seiner ganzen Wesenheit notwendig ist. Den Realismus zur Idee zu erheben, ist schön und gibt Poeten im Geiste Goethes. Idee und Ideal sind aber himmelweit verschieden. Wenn Jeremias Gotthelf das Bauerntum uns in seinem ganzen Duft, mit Dünger- und Käsebereitung, schildert, so wendet man sich vielleicht ab, weil diesem großen Meister der Beobachtung leider die Gabe versagt war, immer auch ein Bildner, ein Ergänzer und Verklärer seines Stoffs zu sein; er war es zuweilen, z. B. im »Uli der Knecht«; er würde es noch öfter gewesen sein, wenn seine schweizerische Parteisucht und religiöse Unduldsamkeit ihm nicht den Blick getrübt und ihn statt zum epischen Dichter nur zum Satiriker gemacht hätten; der Zorn schafft Karikaturen, keine reinen Kunstgebilde. Aber – er hätte die ganze Wahrheit seiner Beobachtung ruhig lassen und beibehalten können, wenn ihm nur noch etwas anderes wäre gegeben gewesen, das so oder so heißen mochte, aber eher alles andere war als die Kunst des Idealisierens. Da, wo man einmal an reale Dinge herangegangen ist, können diese durch Idealisten nur entstellt werden. Einem a priori idealistischen Dichter läßt man es hingehen, wenn er schreibt: »Die Saaten blühten, die Lerche stieg wirbelnd auf, Lust und Freude wehten über Feld und Flur.« Es ist einfach empfunden, wenn auch nur so obenhin gesagt. Ist nur sein übriges Herz und was es schildert in Ordnung, so ist es wunderlich, wenn ein Realist, der zufällig auf dem Lande geboren wurde, kommen wollte und ihm sagen: »Kannst du Gerste von Hafer unterscheiden? Weißt du, wie die Lerchen des Morgens und wie sie des Abends singen?« Jeder könnte ihm sogleich erwidern: »Wie aber dreht der Töpfer die Drehscheibe? Wie viel Prozent Sauerteig nimmt der Bäcker in die verschiedenen Brotsorten?« Kurz, um das Leben und die Welt hinfort als Poet noch schildern zu können, müßte man bei allen Handwerken erst in die Schule gegangen sein, in allen Kontoren gesessen, alle Wasser befahren haben. Geht man aber auf das Isolierte ein, schildert man mit ausdrücklicher Apartheit, wie man beim Pflügen umwendet oder beim Holzflößen über den Waldbach die Stämme in Schuß bringt, oder ähnliches, an sich sehr dankenswert Aufzunehmendes und immerhin uns wohltuend Berührendes, dann gehört auch notwendig zum bäuerlichen Dasein der Dünger, zu einer jahrelang barfuß hinter den im Wandeln stets düngenden Gänsen einhergehenden Hirtin, die auch später als Dienstmagd noch immer nur barfuß gehen muß, die Gewöhnung an das Unsaubere und eine dem Unsaubern entsprechende Anschauungsweise und Geistesbildung. Sich gleichsam nur die Psyche aus einem solchen Dasein herausnehmen und diese dann bald unter Blumen einschlummern, bald im Walde träumen, bald Dinge sagen und treiben lassen, die an und für sich gar lieblich und das Auge blendend sein mögen, aber nur die loseste Verbindung mit der so nur von ungefähr ergriffenen eigentlichen Persönlichkeit gehabt haben können, dies Idealisieren ist die Anbahnung und Mehrung jenes Unwahren, mit welchem in unserer Zeit soviel bedenkliches Blendwerk getrieben wird.

Einen Bauernknecht, der zur rechten Zeit mistet, sonntags seine Stiefeln mit Schweinsschwarte glänzt, poetisch verwenden, warum wäre es nicht möglich! Jeremias Gotthelf hat im Interesse einer Herz und Nieren erfreuenden genrebildlichen und didaktischen Darstellung und Unterhaltung diese Kunst meisterlich verstanden. Er erhielt sich die Ironie über seinen Gegenstand, diese köstliche, notwendige Ironie, die das Salz dieser ganzen Literatur sein muß, wenn man sie aushalten soll. Er stellte dem Rohen, wie es ist, einen Schulmeister, einen Amtmann zur Seite oder gegenüber und ließ das vegetative Leben so hintrotten in seiner dümmlichen Art, uns durch die andern Charaktere fesselnd oder beruhigend, die ihm zur Folie dienten. Aber dem Uli seine Mistgabel nehmen und seine Stiefeln und sein sonstiges Zubehör von Rindsleder auch am Kopf und leider oft genug am Herzen und ihn sauberkehren zum Besten des Salons und ihn hinausschicken in den Wald, um ein Kapitel über das Schlagen der Amseln zu produzieren oder mittags im Sonnenbrand die Geister zu belauschen, die so durch die Halme rascheln, und darüber zu idealisieren wie ein junger Student, der am Heimweh krankt, das ist ihm nie beigefallen. Wäre er so im dorfgeschichtlichen Modeton mit seinen Stoffen verfahren, dann hätte er sie idealisiert, d. h. ihr natürliches Kolorit verwischt.

Gewiß, das ästhetische Verbrechen ist nicht zu groß, wenn man einen Bauer in eine Bürgergeschichte einführt, und er ist zuletzt nur die Abstraktion eines Bauern, oder man läßt einen Handwerker vor einem Grafen reden, und sein Stil entspricht nicht ganz seiner gewöhnlichen Volksgrammatik, die derjenige kennt, der vielleicht zufällig die Kunde von der Art und Weise der Blaufärber oder Lohgerber hat – es genügt, daß nur die Psyche oder Quintessenz dieser Menschen, ihres zufälligen Anliegens, ihres Zwecks für die Darstellung auf glaubhafte Art getroffen wurde. Wer uns aber ausdrücklich unter die Blaufärber und Lohgerber einführt und sich etwas darauf zugute tut, sie in ihrem ganzen Tun und Handeln, in ihrer Hantierung am Farbentopf und in der Lohgrube zu schildern, der darf an ihnen nichts idealisieren, weder Inneres noch Äußeres.

Wenn also unsere Leser wieder von diesen beiden strittigen Prinzipien hören, so mögen sie nur denken: Realist oder Idealist, beides hat gleichen Wert, wenn nur jener seinem detaillierten Material eine Seele, d. h. eine Idee, eine innerhalb der gegebenen Voraussetzungen mögliche schöne Einheit zu erzielen verstand, dieser nicht ganz in Abstraktionen herumfährt und wie Kinder den Bäumen blaue Blätter, den Menschen grüne Gesichter malt. Der »idealisierende« oder »idealisierte Realismus« aber, der etwas aus dem Dorfe hernimmt und es mit den Reizen der Bildungswelt schmückt (wozu auch die unausgesetzten, vom Landbewohner gar nicht empfundenen Naturdetails gehören), ist eine modische Vergänglichkeit, mögen einzelne von denen, die ihr huldigen, auch noch so sehr durch Wärme des Gefühls und die Tiefe ihrer Absicht sich auszeichnen.

Über Idealismus und Realismus in der Literatur

Der Gegensatz des Idealismus und Realismus wurde ein besonders bezeichnender für die neuere deutsche Literatur.

In die Sprache übersetzt, die Ihnen geläufiger sein wird, ist dies der Gegensatz zwischen einer künstlerischen, in unserem Falle dichterischen Schaffensweise, bei welcher ein Idealist die Gegenstände und Personen, die er schildert, den allgemeinen Schönheitsgesetzen näherzurücken sucht und sie mit verklärenden Lichtern umgibt, während ein Realist sein Talent mehr im Erfassen und Wiedergeben des unmittelbaren Eindrucks und demnach so zu bewähren sucht, daß er Dinge und Menschen bis auf die täuschendsten Einzelheiten ihrer Natürlichkeit schildert. Das Wesen des Realismus, die Wahrheit, ist durch die Kritik der letzten Jahrzehnte mit besonderer Strenge betont worden und hat in der Tat den Ausschweifungen einer überfliegenden, die Maßstäbe zutreffender Richtigkeit allzusehr verschmähenden Phantasie ein lehrreiches Halt! geboten. Darüber ist man jedoch ebenfalls schon wieder einverstanden, daß beide Weisen, die reale und ideale, ohne einander nicht bestehen können.

Ein nackter Realismus, die bare und platte Darlegung der Wirklichkeit, wenn auch noch so charakteristisch, kann nicht befriedigen ohne Anknüpfung an diejenigen Empfindungen des Wohlgefallens und der höheren ästhetischen Befriedigung, von welchen in meinem vorigen Briefe gesprochen wurde. Sie kennen die Leistungen eines unbedingten Realismus in den Malereien des Franzosen Gustave Courbet, denen sich jetzt auch schon deutsche Leistungen, in München, kürzlich ein Bild von Markart, zu nähern anfangen. Die Poesie ist vor den Gefahren dieser immer weiter zu gehen drohenden Anwendung des bei Shakespeare von den Macbethhexen ausgesprochenen Satzes der Umkehr: »Schön ist häßlich, häßlich schön!« durch den Umstand bewahrt, daß sie nicht das bestechende Material, die Farbe, besitzt, um die nackteste Natürlichkeit bei alledem einschmeichelnd darzustellen. Gegen eine Anerkennung des tiefen Zuges im Zeitgeiste, das gleichsam auf den Kopf gestellte Schöne zum Ausdruck des Einspruchs gegen die Voraussetzung, als wäre diese Welt die beste aller möglichen Welten, zu machen und hinter dem Zerrbilde eine Welt der Leere, der Trauer, der Unzufriedenheit, kurz dessen, was man Weltschmerz nennt, ahnen zu lassen, versperre ich mich bei alledem keineswegs.

Späte Verteidigung des jungdeutschen Romans

Eines erhob die so vielfach gescholtene Literatur der dreißiger und vierziger Jahre diesseit wie jenseit des Rhein weit über die jetzt herrschende: die Beschäftigung mit geistigen und seelischen Problemen, der, wenn auch nicht immer geglückte Versuch, Fragen der Philosophie und des sozialen Lebens poetisch zu erfassen und sie wenigstens in der Welt der Phantasie annähernd zu lösen. Nicht eine Spur dieser vortrefflichen, gewöhnlich jungdeutsch und Reflexionspoesie gescholtenen Richtung ist davon in den realistischen Novellen und Erzählungen zu finden, die jetzt die Büchertische füllen. Der geistige Gehalt wie die romantische Phantasie haben sich beide gleich erschöpft. Die durch einige Arbeit erlangte Gewandtheit in stilistischer Beziehung ersetzt alles, öfter haben wir schon erwähnt, mit welch unsäglicher Breite Fäden, die kaum das kleinste Gewebe bilden, zu Romanen von so und so viel Bänden durch eine Anführung uralter, in neuer Gewandung auftretender Anekdoten und Erfindungen aus gezogen werden ...


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