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IV. Aristides und Sokrates.

 

Aristides.

Ein Zeitgenosse des Themistokles war Aristides, der Sohn des Lysimachos. Als Xerxes abgezogen war, hatte er seinen Schwiegersohn Mardonius mit 300,000 Mann zurückgelassen. Diese zerstörten, was von dem zertrümmerten Athen noch übrig geblieben war, dann zogen sie sich in die Ebenen von Böotien zurück und lagerten sich bei Platää. Die Spartaner unter Anführung des Pausanias und die Athener unter Aristides rückten ihm nach und lieferten den Persern eine blutige Schlacht. Mardonius selbst fiel und sein Tod war die Losung zur allgemeinen Flucht. Das ganze persische Lager mit allen Kostbarkeiten wurde eine Beute der triumphirenden Sieger. Aristides aber vertheilte seinen Antheil an der Beute und blieb arm, wie zuvor. Der Spartanerfürst Pausanias widerstand nicht den Lockungen des Goldes, das die Perser ihm schenkten, aber Aristides wies streng jede Bestechung zurück. Da verloren die Lacedämonier ihre Oberherrschaft (Hegemonie) und die Griechen übertrugen dem Aristides den Oberbefehl. Alle nannten den Aristides nur den »Gerechten« und er verdiente den Namen, wie Wenige. Selbst gegen seine Feinde war er voller Uneigennützigkeit und Gerechtigkeitsliebe. Einst war er genöthigt, einen Athener vor Gericht zu verklagen, und als er seine Anklagerede beendigt hatte, waren die Richter so sehr von dem Rechte seiner Sache überzeugt, daß sie sofort, ohne den Angeklagten hören zu wollen, zur Verurtheilung desselben schritten. Da stellte sich Aristides auf die Seite des Angeklagten und unterstützte dessen Bitten, damit auch diesem sein Recht, sich vertheidigen zu dürfen, zu Theil werden möchte.

Leider bestand zwischen Aristides und Themistokles keine Freundschaft. Der ruhmsüchtige Themistokles sah mit neidischem Blick auf das Ansehen, welches Aristides beim Volke genoß; auch war Aristides dem Themistokles, der in den Mitteln, um seine Zwecke zu erreichen, nicht eben gewissenhaft war, oft unbequem, weil er offen das schlecht nannte, was schlecht war, und dem Themistokles mit Festigkeit widersprach. So kam einst Themistokles in die Volksversammlung und sagte, er habe einen Plan, der für die Athener sehr heilsam sei, er könne ihn aber nicht öffentlich bekannt machen. Man möge ihm einen wackeren Mitbürger geben, dem wolle er Alles mittheilen. Das Volk erwählte hierzu den Aristides. Themistokles eröffnete ihm nun, man könne die Flotte der Lacedämonier bei Gythium auf heimliche Weise in Brand stecken und so auf Ein Mal die Seemacht der Spartaner vernichten. Darauf sagte Aristides in der Versammlung des Volkes, die Ausführung des geheimen Planes sei zwar für Athen sehr vortheilhaft, aber zugleich höchst ungerecht. Im Vertrauen zu dem Gerechtigkeitssinne des Aristides wollten die Athener gar nicht einmal den Plan des Themistokles erfahren und derselbe unterblieb.

Da es aber dem Aristides nicht an Feinden fehlte, so brachte es endlich Themistokles dahin, daß er durch den Ostracismus (das Scherbengericht) auf zehn Jahre aus Athen verbannt wurde. Aristides war selbst in der Volksversammlung, in welcher seine Verbannung beschlossen wurde. Da nahete sich ihm ein Landmann mit der Bitte, er möchte den Namen »Aristides« aus das Täfelchen schreiben, das zur Aufgabe der einzelnen Stimmen diente. Aristides nahm das Täfelchen und sprach: »Was hat dir denn Aristides zu Leide gethan, daß du ihn verurtheilen willst?« Der Landmann antwortete: »Nichts, ich kenne den Mann nicht einmal; nur verdrießt es mich, daß man ihn immer den Gerechten nennt.« Darauf schrieb Aristides seinen Namen auf die Scherbe und gab sie dem Manne. Als er die Stadt verließ, erhob er seine Hände gen Himmel und flehte, daß doch die Götter nie eine Zeit möchten eintreten lassen, wo die Athener genöthigt wären, seiner zu gedenken Luc. 23, V. 41..

Nach einigen Jahren schon ward Aristides wieder zurückgerufen und leistete dem Vaterlande große Dienste. Er ordnete mit der größten Uneigennützigkeit die jährlichen Geldbeiträge der Verbündeten und legte die ganze Bundeskasse in Delos unter dem Schutze des Tempels nieder. Von diesem schwierigen Geschäft ging der edle Mann so arm fort, als er gekommen war. Er starb so arm, daß er nicht aus eignen Mitteln begraben werden konnte und seine Töchter mußten vom Staate genährt und ausgestattet werden.

 

Sokrates. Nach F. Bäßler.

 

1. Charakterschilderung.

Sokrates wurde im Jahre 469 v. Chr. geboren. Sein Vater war ein Bildhauer zu Athen, seine Mutter eine Hebamme. Frühzeitig kündigte sich die hohe und eigenthümliche Bestimmung des Knaben an. Eine Sage erzählt, daß gleich nach seiner Geburt der Vater einen Orakelspruch erhielt, welcher ihm befahl, den Knaben Alles, was diesem einfiele, thun zu lassen, ihn zu nichts zu zwingen, noch von etwas abzuhalten. Man solle ihn nur den Eingebungen seines eigenen Geistes überlassen und bloß zu Zeus und den Musen für ihn beten, denn diese hätten ihm einen Wegweiser bescheert, der besser sei als tausend Lehrer und Erzieher.

Als Jüngling widmete er sich Anfangs der Kunst seines Vaters, doch diese Beschäftigung genügte nicht dem Drange seiner Seele. Nicht in Stein, Holz oder Elfenbein, sondern an sich selbst wollte er die sämmtliche Schönheit eines tugendhaften Lebens zur Erscheinung bringen und an Denen, die seiner Lehre und Leitung sich anvertrauten, auch diese Seelenschönheit herausarbeiten. Er studirte die Schriften der Weisen und begab sich in den Unterricht der vorzüglichsten Lehrer Da er arm war, so erweckten die Götter einen edlen Freund, den reichen Kriton, der ihn unterstützte.

So nahm er zu an Weisheit und Verstand; aber er wollte die Wahrheit nicht bloß erkennen und darüber streiten, wie jene Weisheitskrämer, die Sophisten, sondern er übte sie im Leben und ging überall mit gutem Beispiele voran. Vor Allem wollte er den Geist befreien von der Herrschaft des Leibes und äußerer Güter. »Nichts bedürfen,« sagte er, »ist göttlich und wer am wenigsten bedarf, kommt der Gottheit am nächsten.« Der Grundstein der Tugend war ihm die Mäßigkeit. Er nahm nur so viele Speise, als er zur Nothdurft gebrauchte, und weil er sich durch Leibesbewegung hungrig gemacht hatte, schmeckte ihm jede Kost. Ging er auf die Einladung eines Freundes zu Gast, so konnte ihn auch die leckerste Speise zu keinem Uebermaß verlocken und nie trank er über seinen Durst.

Seine Tracht war schlicht und unansehnlich. Er trug kein Unterkleid, sondern begnügte sich mit dem Mantel und ging fast zu jeder Zeit barfuß. Durch solche Lebensart hatte er sich dermaßen abgehärtet, daß er Frost und Hitze, Hunger und Durst mit großer Leichtigkeit ertrug. Doch vernachlässigte er keineswegs seinen Leib, und welche dies thaten, die tadelte er. Als einer seiner Schüler, Antisthenes, der es dem Meister in der Gleichgültigkeit gegen alles Aeußerliche zuvor thun wollte, in einem zerrissenen Mantel einherging, rief ihm Sokrates zu: »Freund, Freund! Durch die Löcher deines Mantels schauet die Eitelkeit hervor!«

Sokrates war von Natur heftig, aber durch große Achtsamkeit und Strenge gegen sich selber hatte er einen edeln Gleichmuth gewonnen, den Nichts erschüttern konnte. Als ihm ein jähzorniger Mann einen Backenstreich gab, sagte er ruhig lächelnd: »Es ist doch Schade, daß man nicht voraussehen kann, wann es gut wäre, einen Helm zu tragen.« Nie sah man ihn verstimmt und mürrisch; »seine Rede war immer von anmuthigem Scherz gewürzt. Wenn er aber von dem Werth der Tugend und dem Walten der Gottheit sprach, dann waren seine Worte tief in die Seele dringend. Selbst der leichtsinnige Alcibiades, der sich sonst nicht viel aus den vortrefflichsten Rednern machte, bekannte: »Von Sokrates' Rede werde ich so ergriffen, daß mir das Herz klopft und die Thränen mir aus den Augen dringen.«

Mehrmals kämpfte Sokrates für sein Vaterland und sein Name ward unter den Tapfersten genannt, aber bescheiden leistete er Verzicht auf die öffentliche Anerkennung seiner Verdienste. Durch seine Unerschrockenheit rettete er in einer Schlacht dem Alcibiades das Leben. Der kühne Jüngling war schon verwundet niedergesunken; da eilte Sokrates herzu, deckte ihn mit seinem Schilde und entzog ihn glücklich der Gefahr.

Eben so unerschrocken war er auch im bürgerlichen Leben, und weil er die Gottheit fürchtete, kannte er keine Menschenfurcht. Als die Athener bei Lesbos einen Sieg über die Flotte der Lacedämonier gewonnen hatten, waren zwei von den zehn Befehlshabern beauftragt worden, die während des Gefechtes schiffbrüchig Gewordenen zu retten und die Leichname der Gebliebenen in Sicherheit zu bringen. Die stürmische Witterung hatte dies aber unmöglich gemacht. Darüber zogen die wankelmüthigen Athener sämmtliche Zehn zur Verantwortung vor Gericht und in der Leidenschaft verlangte man, Alle auf Einmal zu verurtheilen. Sokrates aber, der an diesem Tage gerade Vorsitzender der richterlichen Versammlung war, widersetzte sich standhaft jenem Vorhaben, weil es wider das Gesetz sei, Jemanden ohne Verhör zu verdammen. Das Volk tobte, viele der Mächtigen droheten, aber Sokrates blieb fest, ließ sich nicht einschüchtern vom Geschrei des Volkes und dem Zorn der Vornehmen und sein Wille drang durch. Denn er war des Glaubens, daß die Götter Alles wüßten, was man redete oder handelte, ja auch was das Herz dächte.

 

2. Lehrweise.

Sokrates bildete nicht, wie die Philosophen nach ihm, eine abgesonderte Schule oder einen geschlossenen Kreis von Jüngern, sondern suchte vielmehr allen seinen Mitbürgern durch gelegentliche Unterredungen zu nützen. Als ein echter Bürgerfreund und leutseliger Mann verkehrte er mit den verschiedensten Menschen aus allen Ständen von jederlei Alter und Gewerbe und wie Einer unserer Dichter von Jesu sagt, daß er durch Gleichniß und Exempel jeden Markt zum Tempel gemacht, so wurde oftmals durch Sokrates die Werkstatt eines Riemers oder Panzermachers zu einer Akademie und Schule der Weisheit. Man konnte ihn den größten Theil des Tages an öffentlichen Orten finden. Frühmorgens besuchte er die Hallen und Gymnasien, wo die athenische Jugend Leibesübungen trieb, auch viele Erwachsene sich einfanden, um sich über Dies und Jenes zu besprechen. Nach der dritten Stunde (9 Uhr Vormittags) war er auf dem Markte und die übrige Zeit des Tages da, wo er die meisten Leute vermuthete. Dabei sprach er mehrentheils und wer Lust hatte, konnte ihm zuhören. »Menschen zu fangen« Matth. 4, 19: Folget mir nach, ich will euch zu Menschenfischern machen., wie er selber sagte, war bei diesem scheinbaren Müßiggange sein Zweck. Und darauf verstand er sich trefflich.

Sokrates wünschte den Xenophon, einen schönen Jüngling von vortrefflichen Geistesgaben, in seinen Umgang zu ziehen. Einst begegnete er ihm in einer engen Gasse und hielt ihm einen Stock vor. Der Jüngling blieb stehen. »Sage mir doch,« begann Sokrates, »wo kauft man Mehl?« – »Auf dem Markte,« war die Antwort.– »Und Oel?« – »Ebenda.« – »Aber wo geht man hin, weise und gut zu werden?« – Der Jüngling schwieg und sann aus eine Antwort. »Folge mir,« sprach der Weise, »ich will es dir sagen!« Seitdem schlossen die Beiden eine innige Freundschaft und Xenophon ward ein Mann, der sich nachmals nicht nur als Feldherr und Schriftsteller, sondern auch durch Tugend und Frömmigkeit bei seinen Zeitgenossen und bei der Nachwelt in hohe Achtung setzte.

Seine Schüler hingen mit aller Hingebung an ihm und kannten keinen höhern Genuß, als um ihn zu sein und ihn zu hören. Der schon oben erwähnte Antisthenes, der außerhalb Athens wohnte, ging täglich eine Stunde weit, um Sokrates willen. Euklid von Megara kam oft vier Meilen weit, um nur einen Tag mit dem geliebten Lehrer beisammen zu sein. Als die Athener beim Ausbruch des Krieges gegen die Megarenser Jedem derselben bei Strafe des Todes verboten, in die Stadt zu kommen, schlich sich Euklid öfters in Weiberkleidern durch das Thor, um eine Nacht und einen Tag bei Sokrates zu weilen. Dann ging der treue Schüler wieder zur Nachtzeit nach Megara zurück.

»Nichts konnte nützlicher sein,« versichert Xenophon, »als seine Gesellschaft und sein Umgang. Selbst wenn er abwesend war, gereichte noch sein Andenken Denen, die bei ihm gewesen waren, zur Stärkung und Kraft in allem Guten.« Mancher lasterhafte Jüngling hat von seinen Sünden abgelassen und durch Sokrates Lust zum Guten bekommen. Er rief Allen den schönen Spruch des Hesiod in's Gedächtniß:

Vor der Trefflichkeit setzten den Schweiß die unsterblichen Götter,
Lang auch windet und steil die Bahn zur Tugend sich aufwärts
Und ist rauh im Beginn, doch wenn du zur Höhe gelangt bist,
Alsdann wird sie dir leicht und bequem, wie schwer sie zuvor war Matth. 7, 13. 14: Und die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der etc..

Auf die leichteste und einfachste Weise verstand es der weise Mann, die Wahrheit seinen Schülern einleuchtend zu machen. So belehrte er den jungen Alcibiades, als dieser große Schüchternheit verrieth, künftig vor dem Volke als Redner aufzutreten, folgender Art: »Würdest du dich wohl fürchten, vor einem Schuster zu reden?« – »O nein!« – »Oder könnte dich ein Kupferschmied verlegen machen?« – »Gewiß nicht!« – »Aber vor einem Kaufmanne würdest du erschrecken?« – »Eben so wenig!« – »Nun siehe« – fuhr er fort – »aus solchen Leuten besteht das ganze athenische Volk. Du fürchtest die Einzelnen nicht, warum wolltest du sie versammelt fürchten?«

Seinen Unterricht gab Sokrates stets unentgeltlich. Der junge Aeschines wünschte sehr, ein Schüler des Sokrates zu werden, scheuete sich aber, zu ihm zu gehen, weil er arm war. Sokrates, der seinen Wunsch merkte, fragte ihn: »Warum scheuest du dich vor mir?« – »Weil ich nichts habe, das ich dir geben könnte.« – »Ei,« erwiederte Sokrates, »schätzest du dich selbst so gering! Gibst du mir nicht sehr viel, wenn du dich selbst mir gibst?«

 

3. Tod des Sokrates.

Es war vorauszusehen, daß sich Sokrates durch seine ausgezeichnete Weisheit und Tugend bei dem großen Haufen seiner schon sehr verdorbenen Mitbürger Haß und Neid zuziehen mußte. Sie verleumdeten ihn und suchten ihn auf alle Weise lächerlich zu machen. Als ihnen das nichts half, verklagten sie ihn öffentlich. Sie beschuldigten ihn, er glaube nicht an die Götter seiner Vaterstadt, auch verderbe er durch seine Lehre die Jugend; darum müsse er als staatsgefährlich hingerichtet werden. Sokrates, bereits ein Greis von 70 Jahren, fand es seiner unwürdig, sich gegen solche Anklagen weitläufig zu vertheidigen. Er wies auf sein öffentliches Leben hin, betheuerte, daß ihm seit 30 Jahren nichts mehr am Herzen gelegen habe, als seine Mitbürger tugendhafter und glücklicher zu machen, und dazu habe ihn eine innere göttliche Stimme getrieben Marc. 14, 61 etc. Bist du Christus, der Sohn des Hochgelobten? Jesus aber sprach: »Ich bin's.« Da zerriß der Hohepriester seine Kleider und sprach: »Was bedürfen wir weiter Zeugen?«. Eine so freimüthige Vertheidigung erbitterte aber die Richter. Denn sie hatten erwartet, er würde, wie andere Verbrecher, durch eine lange Rede unter Bitten und Thränen um Mitleid und Begnadigung flehen. Darum schickten sie ihn vorläufig in's Gefängniß. Hierhin brachte ihm einer seiner Freunde, Lysias, eine sehr schön ausgearbeitete Vertheidigungsrede, die sollte er halten. Sokrates las sie und fand sie schön. »Aber« – sagte er – »brächtest du mir weiche und prächtige Socken, ich würde sie nicht anziehen, weil ich es für unmännlich halte.« Damit gab er ihm die Rede zurück.

In der nächsten Versammlung wurden die Stimmen über ihn gesammelt. Eine geringe Mehrheit von drei Stimmen verurtheilte ihn zum Tode. Sokrates hörte sein Todesurtheil mit der größten Ruhe; nicht aber seine Schüler. Sie drängten sich mit Thränen in den Augen zu den Richtern und fleheten und boten eine große Summe Geldes für die Freiheit ihres Lehrers. Sie wurden aber abgewiesen. Sokrates nahm Abschied von den Richtern, die für ihn gestimmt hatten und verzieh auch denen, die ihn verurtheilt. Mit heiterer Miene, festem Schritte und edler Haltung entfernte er sich hierauf aus dem Gerichtshause und begab sich in das Gefängniß zurück. Seine Freunde gaben ihm das Geleite. Als er einige derselben Thränen vergießen sah, sprach er: »Was soll das, daß ihr erst heute weint? Wußtet ihr nicht schon längst, daß die Natur, als sie mir das Leben gab, mich zugleich auch zum Tode verurtheilte?« Apollodor, der ihm sehr ergeben war, eine gutmüthige Seele, versetzte dagegen: »Ach, liebster Sokrates, das geht mir gar zu nahe, daß du unschuldig sterben mußt!« Sokrates strich ihm lächelnd über den Kopf und sprach: »Liebster Apollodor! Wolltest du mich denn lieber schuldig sterben sehen?«

Ein kleiner Trost für die Jünger des Sokrates war es noch, daß der Tag der Hinrichtung hinaus geschoben wurde. Denn an demselben Tage, als Sokrates vor Gericht stand, hatte der Priester des Apoll das heilige Schiff, welches die Athener alljährlich nach Delos sendeten, zur Abfahrt bekränzt. Sobald dies geschehen war, durfte nach einem alten Gesetz die Stadt durch keine Hinrichtung verunreinigt werden, bis das Schiff von seiner heiligen Fahrt zurückgekehrt war. Darüber vergingen dreißig Tage – eine kostbare Zeit, denn es war nun dem Sokrates vergönnt, in der nächsten Nähe des Todes die Kraft und Weisheit seiner Lehre zu bewähren. Er ward mit jedem Tag heiterer, ja er fing sogar an zu dichten, er brachte mehrere äsopische Fabeln in Verse und machte Loblieder auf die Götter. Und wenn die Freunde ihn besuchten, fanden sie bei ihrem Meister stets Worte des Trostes und Lehren der Weisheit.

Kriton, der älteste und vertrauteste seiner Freunde, konnte sich aber gar nicht in das Schicksal seines Lehrers finden. Er hatte daher den Gefängnißwärter gewonnen und dieser ließ des Abends die Thür des Gefängnisses unverschlossen. Für einen sicheren Aufenthalt und ein ehrenvolles Leben war bereits gesorgt; Thessalien war das Ziel einer gefahrlosen Flucht. Als Kriton zum Sokrates eintritt und mit aller Beredtsamkeit ihn zur Flucht ermuntert, antwortet der Weise: »Lieber Kriton, sind wir nicht einverstanden, daß man in keinem Falle Unrecht mit Unrecht vergelten soll? Haben wir nicht das für wahr erkannt, daß die erste Bürgerpflicht darin bestehe, den Gesetzen zu gehorchen? Ich habe so lange unter den Gesetzen meiner Vaterstadt gelebt und ihre Wohlthat genossen; warum sollte ich jetzt, da einige Menschen sie zu meinem Verderben mißbrauchen, mich ihnen entziehen?«

Zwei Tage nach dieser Unterredung kamen die Elfmänner, welche die Hinrichtung der Verurtheilten zu besorgen hatten, früh am Morgen in das Gefängniß, nahmen dem Sokrates die Fesseln ab und kündigten ihm an, daß er heute sterben müsse. Kurz darnach traten seine Freunde ein, fünfzehn an der Zahl, um die letzten Stunden bei ihm zu sein. Da ergriff Kriton das Wort und sprach: »Sage uns, welchen Auftrag hinterlässest du mir und diesen deinen Freunden in Hinsicht deiner Kinder und häuslichen Angelegenheiten? Womit können wir dir zu Gefallen leben?« – »Wenn ihr so lebt,« erwiederte der Greis, »als ich euch längst empfohlen habe. Ich habe nichts Neues hinzuzufügen.« – »Wir werden mit allen Kräften streben, dir zu gehorchen, mein Sokrates,« fuhr der Jünger fort, »wie sollen wir aber nach deinem Tode mit dir verfahren?« – »Wie ihr wollt,« antwortete Sokrates, »wofern ihr mich wirklich habt und ich euch nicht entwische.« Dabei sah er die Uebrigen lächelnd an und sprach: »Kriton meint noch immer, mein Leichnam werde derselbe Sokrates sein, der jetzt mit ihm spricht. Man soll bei meiner Beerdigung nicht sagen: Man legt den Sokrates auf die Bahre, man trägt den Sokrates hinaus, denn ich bin ja dann längst bei den seligen Geistern.«

Jetzt kamen noch sein Weib und seine drei Kinder, und als er Abschied von diesen genommen hatte, neigte sich die Sonne zum Untergang. Und der Gerichtsdiener trat herein, den vollen Giftbecher in der Hand. »Sage mir doch, wie habe ich mich zu verhalten?« fragte er den Diener. »Du mußt,« – erwiederte dieser – »nach dem Trinken auf- und abgehen, bis dich eine Müdigkeit befällt; dann legst du dich nieder.« – Und mit heiterer Miene nahm Sokrates den Becher, betete noch zu den Göttern, setzte ihn an den Mund und leerte ihn mit Einem Zuge. Da fingen seine Freunde laut zu weinen an. »Still doch!« sagte Sokrates – »darum habe ich ja die Weiber fortgeschickt.« Jetzt ging er auf und ab, dann legte er sich nieder. Das Gift fing an zu wirken, seine Füße wurden schon kalt und die Glieder steif. In trauriger Stille standen seine Jünger umher. Plötzlich schlug er seine Augen auf und sprach: »Ich bin genesen, nun opfert dem Aeskulap ein Dankopfer!« Nach diesen Worten verschied er.

So starb der göttliche Sokrates unschuldig im Jahr 399 v. Chr. Erst nach seinem Tode sahen die Athener ihr Unrecht ein und da reuete es sie. Aber die Reue kam zu spät.


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