Jeremias Gotthelf
Kurt von Koppigen
Jeremias Gotthelf

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So ritt Kurt langsam über das Feld, auf welchem jetzt Utzenstorf so unendlich lang sich ausstreckt, ritt dem Walde zu, hinter welchem sein Schlößlein lag. Je langsamer er ritt, vor Verfolgung sicher und um das Roß zu schonen, desto schneller wirbelten ihm die Gedanken, welche ihm sonst so langsam kamen und gingen, durch den Kopf. Die Rache brütete Pläne, der Stolz des Geschlechtes stieg in ihm auf, die Scham, daß er nichts anderes geworden als ein Räuber, dazu die Stichscheibe der andern, regte sich; die Frage »Und jetzt, was willst du?« stand wie ein schwarzes Gespenst vor ihm in dem dicken, schaurigen Nebel. In seine Gedanken versunken, ließ er sein Roß nach Belieben schreiten durch Nebel und Schnee, und da auf dem weiten Felde keine besondern Merkmale standen, welche anzeigten, ob man weiter oben oder weiter unten sei, so kam er viel weiter unten an den Wald, als es sonst zu geschehen pflegte, gerade unten an dem einzigen Hügel, welcher auf dem großen Felde und am Walde liegt, der Willenrain geheißen; an demselben merkte er, wo er war. Er hielt nun aufwärts südöstlich, ritt zwischen mächtigen Eichen dem Bachtelenbrunnen zu, wollte unten an der Bürglen durch den nächsten Weg nach Koppigen. Daß es die heilige Nacht war, daran dachte er schon nicht mehr, viele Gedanken auf einmal barg er in seinem Kopfe nicht; hätte er noch daran gedacht, er hätte sicherlich den Bachtelenbrunnen und Bürglen gemieden, denn, daß es dort in der heiligen Nacht nicht geheuer war, das war ihm wohl bekannt. Es war eine rohe, wilde Zeit, roh und wild war zumeist, was im Leben sich zeigte, daneben mochten wohl in vielen Herzen herrliche Gefühle blühen, der Friede Gottes sich wölben, ein hehrer Geist durch viele Häuser wehen, denn große Taten sah man hie und da ins Leben treten, die einen tiefen Grund haben mußten, nur von hoher Kraft geboren waren. Roh wie seine Zeit war Kurt; das Zeichen des Kreuzes machte er wohl in Notfällen, aber dessen Bedeutung kannte er kaum, an den Teufel glaubte er ebenfalls, wie wir gesehen, und aus diesen beiden Stücken allein mochte seine Religion bestanden haben.

Im Walde herrschte ein schauriges, unsichtbares Leben: über den Eichen schwirrte mit ihrem greulichem Rufe die Wiggle, es rauschte in den Büschen, wilde Schweine schnauften vorüber, hungrige Wölfe heulten durch die Nacht, jagende Füchse kläfften langsam und furchtsam hier und dort. Kurt achtete nicht darauf, es waren ihm gewohnte Dinge; an irgendeinen Fang dachte er nicht, er war zu abgespannt dazu. Matt und vorsichtig schritt sein Hengst durch den Wald, seit ihn die Sporen nicht mehr trieben; er hatte einen gar zu strengen Tag gehabt.

Auf einmal begann er unruhig zu werden, warf hochauf den Kopf, drängte zur Seite, schnoberte gar wunderlich in die Nacht hinein, zuckte zusammen mit dem ganzen Leibe, weckte Kurt, daß er achtsam ward, fest in den Sattel sich setzte und mit Kunst und Gewalt das Roß zusammennahm und vorwärts drängte. Anfangs glaubte Kurt ein wildes Tier in der Nähe, vor welchem das Roß scheute, aber von einem solchen war nichts zu merken, es erfolgte kein Angriff, er hörte kein verdächtiges Geräusch, und doch, je weiter er in den Wald hineinkam, desto heftiger schlotterte das Roß, drängte rückwärts, bäumte sich, drehte sich rundum auf den Hinterbeinen. So etwas hatte Kurt nie erlebt; er brachte sein Roß mit Angst und Not hinaus bis auf den Platz, in dessen Mitte der Bachtelenbrunnen quillt, und ward dabei selbst angesteckt von des Rosses Angst und Beben. Es war ein gar vortreffliches Roß von edlem Blute, ein vielbewährtes, das einzige Geschöpf, welches Kurt ordentlich am Herzen lag, und dem er seine Aufmerksamkeit schenkte; draußen auf dem Platze stellte es seine Beine vorwärts, stemmte sie mit aller Gewalt gegen den Boden, als ob sie wurzeln sollten in demselben, nicht Sporn, nicht Schlag, nicht Fluch brachten es mehr weiter.

Es wurde Kurt nicht geheuer im Sattel, er spähte, ob nicht etwas im Wege liege: ein grimmiger Wolf, ein toter Mensch oder sonst ein Wesen, welches Pferde scheuen. Er spähte umsonst; blank war der Schnee, und stille war es hier, keine Eule ließ ihren Ruf ertönen, kein Wolf heulte durch die Nacht; da schien es ihm, als verdichte sich vor ihm der Nebel zur schwarzen Wand, und langsam klaffte diese wieder auseinander, es wölbe sich ein ungeheures Tor, hinter demselben sei grause Finsternis, ein unendlicher Abgrund. In dieser Finsternis begann es zu brausen und zu toben, und näher und näher tobte es, wie aus des Berges Bauch der Bergstrom tobt. Es war, als rolle aus dem Abgrund herauf ein fürchterlicher Knäuel wirrer Töne, im Heranrollen entwirrten die Töne sich, Hundegeheul erscholl, Jagdgeschrei wütender Jäger, des Waldes Tiere alle heulten durcheinander wie in Todesangst. Wie der Blitz durch den Himmel fährt, der Gedanke durch die Seele, vom Auge ins Herz hinab die Angst, brauste durchs schwarze Tor auf ihn ein die wilde, die wütende Jagd; gräßlich schrie sein Hengst auf, wandte sich in wütendem Jagen zur Flucht.

Da schien es Kurt, er schrumpfe mit seinem Rosse zu einem Tiere zusammen, es war ihm, als sei er das Wild geworden, hinter ihm her raste die wilde, die wütende Jagd; war er zum Schwein, war er zum Hirsch geworden, er wußte es nicht, aber jedes Haar auf seinem Felle sträubte sich, jedes Haar ward zum Auge, und jedes der tausend und tausend Augen schickte Todesangst und Höllenpein ins Herz hinein; jedes Auge sah andere Greuel, eigene Schrecknisse, jedes füllte das Herz mit unsäglicher Angst, trieb zu schnellerem Laufe. Hinter sich her sah Kurt die schrecklichen Jäger, sah ihre Augen voll hundertjähriger Glut, Flammen aus hundertjährigen Bärten, sah sie Speere schwingen, Bogen spannen, sah hinter ihnen drein, schwarz wie die Nacht, den Herrn der Jagd. Nacht war sein Roß, sein Gesicht, ein glühender Ofen, war einer schwarzen Wolke zerrissener Schoß, der Strahlengarben sprüht auf die bebende Erde. Kurt an den Fersen saßen die Hunde mit Höllengeheul und Menschengesichtern, zahllos, gräßlich, und mit seinen zahllosen Augen sah er jeden Hund, jeden Zug in allen Gesichtern, und er kannte sie alle. An seinen Fersen zunächst hing sein Vater, ein schrecklicher Wolfshund mit blutigem Maule, mit diesem um die Wette schnappte nach ihm eine wütende Dogge, der Kopf eines Krokodils saß auf ihrem Rumpfe, aber er wußte, es war sein Großvater; nebenbei jagten schäumend und zähnefletschend Großmutter und Mutter, die schreckliche Grimhilde, hintendrein die Ahnen allzumal, die Verwandten alle in großen Scharen, verstorbene Freunde, Bekannte mit grausem Geheul und aufgesperrten Rachen, ein schreckliches Höllenheer. Rings in Busch und Wald sah er hundert und aber hundert Gesichter, und die Gesichter kannte er alle. Es waren die Gesichter aller, welchen er Leid zugefügt im Leben, sie geschlagen, niedergeworfen, beraubt, erschlagen; alle jauchzten zur wilden Jagd, riefen: »Hatz, Hatz! Ho Sassa! Ho Sassa!« und gellend jauchzte vor allen und klatschte und hetzte ein mageres, gelbes Gesicht, und Kurt kannte es wohl, es war das Gesicht des Hausierers, des ersten Menschen, den er meuchlerisch erschlagen. Wilder heulte dann die Meute ihm nach, gieriger stürmten die Hunde auf ihn ein, hieben in sein Fleisch die Zähne; aus Busch und Wald brachen andere Tiere, verrannten ihm den Weg, bäumten sich ihm entgegen, und er kannte auch diese Tiere. Es waren Rosse, welche er mißhandelt, grausam hatte hinschmachten lassen oder mutwillig sie verstümmelt; es waren zahllose Tiere des Waldes, denen er unnötige Pein verursacht, dem erlaubten Tode unnötige Marter beigefügt. Ja, die Vögel des Himmels, welchen er boshaft die Nester zerstört, mutwillig sie geängstigt und gelähmt, umflatterten sein Haupt, schlugen mit den Flügeln ihm ins Gesicht, suchten ihn zu blenden; ja die Tiere der Tiefe, Fische, Frösche, Aale, Schlangen, die er schrecklich zu Tode hatte schmachten lassen, wälzten sich auf seinen Weg, drängten sich unter seine Füße, damit er gleite, falle, den Höllenhunden zur Beute werde. Immer grimmiger ward die Jagd, immer höllischer heulten die Hunde, wütender, näher brausten hinter ihm her die Jäger, wilder, zorniger umdrängten ihn die Tiere von allen Sorten, und in den Büschen mehrten sich immer noch die Gesichter, riefen hitziger, jauchzender ihr »Hatz« und »Huß«, ihr »Ho Sassa! Ho Sassa!« in die rasende Meute.

Kurt kannte den Wald, der zur höllischen Wildbahn geworden, gar wohl, war er doch kaum eine halbe Stunde von Koppigen und keine Ecke darin, in welcher er nicht irgendein Jagdstücklein verübt hätte. Den Wald war er hinaufgetrieben worden auf der Utzenstorfer Seite, bald durch lichtere Waldung, bald durch das dichteste Gebüsch; war er in einer Lichtung, so bog er ins Gebüsch, im Glauben, es hemme die Jagd, aber weder Wald noch Busch hielt das wilde Heer auf, keine Hemmung war für die schrecklich luftigen Gestalten. Als er oben im Walde war, wo das Feld gegen Kirchberg hin wieder beginnt, da wandte er sich, und, wie der Fuchs, hart gedrängt, seinen Bau sucht, um vor den nachjagenden Hunden sich zu sichern, so strebte Kurt instinktmäßig nach der Waldseite gegen Koppigen hin in seiner Todesangst. Immer blutiger umbrauste ihn die wilde Jagd, in die Ohren hatten sich Mutter und Großmutter verbissen, hinten schlug der Vater seine Zähne ein, die ganze Verwandtschaft hing sich in sein Fleisch; da konnte er nicht mehr fort, er war gestellt, heran brausten die schrecklichen Jäger, voran der Ritter auf dem Rosse der Nacht mit dem Gesichte flammend wie Höllenglut. Der Ritter stieß ihm den Speer in den Nacken, er fühlte, wie sein Leben durchschnitten war, der Knoten zerhauen, der die Seele festhielt im Leibe. Aber er starb doch nicht, Höllenschmerz flutete ihm durch Mark und Bein, Glied um Glied zischte, und wie abgebrannt durch höllisches Feuer, fiel es vom Körper, schien ein eigenes Leben zu erhalten, zu einem besondern Wesen sich zu gestalten, und als die Glieder alle abgefallen waren, da traf ihn der Reiter auf dem schwarzen Rosse mit grimmigem Peitschenschlage, daß ein Wehgeheul ihm aus dem Munde fuhr. Plötzlich war er zum Hunde geworden, zum alleinigen Hunde der Jagd, zum Höllenhunde; die andern Hunde waren verschwunden oder saßen hoch zu Roß unter den Jägern.

Nun brauste auf ihn Jagdgeschrei, mit Holla und Hussassa, mit Speer und Peitsche hetzten sie den einzigen Hund zur neuen, wilden, wüsten Jagd; mit gräßlichem Geheule jagte er dem Gewilde nach, das vor ihm dahinstob. Es waren seine eigenen Glieder, zu seinem Weibe und Kindern hatten sie sich gestaltet, sein eigen Weib und seine Kinder waren es, die er jagte als Höllenhund mit gräßlichem Geheule; weinend und schreiend liefen, purzelten sie vor ihm her, er hinter ihnen her mit höllischem Geheule, hinter ihm her die schrecklichen Jäger, mit Peitsche und Speer ihn treibend zur schrecklichen Jagd, zum fürchterlichsten Geheule. Näher und näher kam der Hund dem Gewilde, markdurchdringender ward dessen Gewimmer, und grimmiger und glühender trieben ihren Hund die Jäger zu immer rascherem Laufe, zu immer gräßlicherem Geheule, immer wehlicher tönte des Wildes Gewimmer, immer näher kam der Hund. Zurück hinter den andern blieb das jüngste der Kinder, schrie immer wehlicher, herzdurchschneidender, je näher der grause Hund ihm kam; der Hund zögerte, hemmte den Lauf. Da, Funken sprühend, fuhren der schrecklichen Jäger glühende Peitschen ihm ins Fleisch, laut aufheulend, daß stundenweit die Menschen aus dem Schlafe fuhren, streckten seine Glieder sich zu weitem Sprunge, ein Wehgeschrei des Kindes durchschnitt die Lüfte bis hinauf zum Himmel. Da wandte die Mutter sich um, riß auf ihren Arm das Kind, floh den Kindern voraus in gedoppelter Eile weiter, nach ihren Kräften flohen die Kinder ihr nach. Da ward wieder das jüngste der andern das letzte, der Zwischenraum zwischen den vordern immer größer, der Raum zwischen dem schrecklichen Verfolger immer kleiner, immer herzzerreißender des Kindes Gewimmer, immer gräßlicher des nachjagenden Vaters Höllengeheul; die glühenden Zähne im schwarzbraunen Rachen wuchsen dem Kinde nach, immer wilder hintendrein die Jäger, zorniger sausten die Peitschen. In der Hölle Grimm und Angst schnappte er auf, nach dem Kinde fuhren seine Zähne; ein Schrei, der den Reif von den Bäumen schüttelte, das Wild aus den Lagern jagte, die Fische in den tiefsten Grund, rief der Mutter; sie warf sich zurück und auf den zweiten Arm das Kind, warf sich wieder voraus in gedoppelter Hast. Aber wieder blieb der Kinder eins hinter den andern, lauter und lauter, herzzerreißender tönte dessen Wehgeschrei, höllischer fuhren in Fleisch und Bein die Peitschen dem Hunde, je näher dessen Schnauze dem Kinde kam, schon klaffte sie dicht hinter demselben weit auseinander; ein gräßlicher Notschrei entfuhr dem Kinde, mit glühenden Speeren stachelten die Jäger den Hund, er sprang ein auf das Kind, aber er faßte es nicht. Vor ihm stand die Mutter, welche die beiden Kinder abgeworfen, fuhr ihm mit dem Arme in den Rachen, hielt mit nackter Hand seine glühende Zunge fest. Da floß es weich, kühl und leise ihm durch die Glieder, der Brand erlosch, ein süßes Mattsein, wie dem Müden vor dem Schlafe, kam über ihn; matt schlug er die Augen auf, und es war, als stünde nicht mehr seine Agnes, sondern ein hehres Frauenbild vor ihm in himmlischer Schöne, von blondem Lockenhaar umwallt wie von einem goldenen Mantel. Alsbald sanken ihm die Augen wieder zu, er streckte die Glieder, Nacht ward es über seine Seele, es war ihm, als stürze er in eine Kluft, stürze immerfort, aber um das Ende des Sturzes wußte er nicht mehr, sein Bewußtsein war ausgehaucht.

Wie es doch verschieden zugeht in der Welt in der gleichen Stunde! Wie feierlich geht es wohl zu in der heiligen Nacht um die mitternächtliche Stunde im hohen Münster, wenn gefeiert wird die Ankunft des Sohnes aus der Höhe auf Erden, wenn angebetet wird in der Krippe das neugeborne Kind, zu dessen Füßen gelegt werden soll die erlöste Welt samt den Fürsten der Welt, das kleine Senfkorn, das zum weltbeschattenden Baume werden soll; wie wild ging es zu zur selben Stunde erst auf der Bätterkinder Heide, dann im Utzenstorfer Walde, als hinter Kurt her jagte die wilde Jagd, als Kurt die eigenen Kinder hetzte, verleugnete sein eigen Fleisch und Blut, von der ganzen Hölle verfolgt, gepeinigt, getrieben in Pein, Not und Wehe zum Fraße der eigenen Kinder!


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