Jeremias Gotthelf
Kurt von Koppigen
Jeremias Gotthelf

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Schwiegervater hatte bereits an Geräten, Gewändern, Vorräten ein Ansehnliches mitgebracht, womit man die alte Höhle etwas wohnlicher machen konnte; aber er sah wohl, daß da viel mehr noch nötig sei und namentlich Bauleute, wenn die Menschen trocken wohnen und mit Sicherheit wieder etwas Vierbeiniges in den Ställen untergebracht werden sollte. Indessen tröstete er sich darüber leicht; dem allem sei abzuhelfen, dachte er. Kurt hatte den schwersten Augenblick überstanden, es war leichter gegangen, als er sich gedacht; doch belästigte noch etwas sein Gemüt, und zwar sehr. Wer etwa meint, es seien die Schauer, welche über Agnes' Seele fuhren, die er gesehen und mitempfinde, der würde sich sehr irren, die sah Kurt nicht. Kurt hatte ein herrliches Auge: den Aal sah er im Schlamm, das Rebhuhn im Grase, die Schnepfe im dürren Laub, das Wildschwein im Dickicht, aber in den Herzen der Menschen sah er hell nichts, und so wenig als er lesen konnte in einem Buche, ebensowenig konnte er die Gedanken der Menschen lesen, welche über die Gesichter der Menschen flogen, noch viel weniger die, welche bloß vorsichtig aus den Augen gucken oder tückisch lauern in den Winkeln des Mundes; da war allenthalben unleserliche Schrift für ihn, und wenn man ihm Brillen aufgesetzt hätte, er hätte nichts gesehen. Es gibt halt gar verschiedene Augen, aber wirklich kommod ists, wenn man deren hat, welche sehen, was auf den Gesichtern vorgeht und im Grase, und was sitzt in des Herzens Grund und in des Teiches Schlamm; sie sind aber leider nicht zu kaufen, diese Augen, sie sind eine Gottesgabe.

Neben Kurt zu beiden Seiten saßen die alten, treuen Hunde, die Gespielen seiner Jugend, freuten sich des Wiedersehens, wedelten ihrem Herrn den Willkomm zu nach Vermögen, ließen dann den Kopf sinken tief zwischen die Vorderbeine hinab, schlossen die Augen, taten, als studierten sie Wichtiges: Entdeckungen im Gebiete der Mechanik oder Chemie, Reden vor einer Kammer oder Kombinationen in den Finanzen. Nach geraumer Weile ermannten sie sich, hoben den Kopf, als hätten sie das Gesuchte entdeckt, leckten dann einfach ihrem Herrn die Hand, setzten ihre Studien wieder fort. Was machen mit solchen alten Studenten, wie jagen mit diesen alten Tieren, die kaum mit dem alten Jürg Schritt halten konnten? Das lag Kurt im Gemüte, und für das war nicht gesorgt. Hunde waren wohl da, aber nicht für ihn, wie Kurt wohl wußte; daß dieses ihn sehr plagen mußte, wird jeder fassen, der weiß, was jagen ist, und wie es einem Jäger im Gemüte ist, der alte Hunde hat. Der alte Herr hatte in diesem Fache bessere Augen als Kurt, er merkte alsbald, wo diesen der Schuh drücke; er hatte die Bosheit, diese alten Studenten zu preisen, ihre vergangenen Taten zu rühmen, und was das für ein Jagen gewesen sein müsse mit ihnen, denn bessere Tiere seien ihm nicht vorgekommen.

Ach, wie da dem Kurt das Herz aufging, und was er da dem Schwiegervater für Stücklein erzählte, welche er mit diesen Hunden vollbracht, und wie er nirgends solche Hunde angetroffen. »Aber jetzt«, sagte er und ward dabei förmlich gerührt, »aber jetzt, was soll ich mit ihnen, der eine tut jede Viertelstunde einen Schritt, unterdessen gibt der andere einen Laut von sich, dann erholen sich beide und tun so wieder einen Schritt und geben wieder einen Laut, und so soll ich jagen künftig!« Kurt zeigte offenbare Spuren oratorischen Talentes, nach dem alten Sprüchwort: Es ist das Herz, welches beredt macht. »Da jage mit den jungen!« sagte der alte Herr. »Mußt nicht meinen, man könne immer die gleichen Hunde brauchen!« »Ja, wenn ich junge hätte!« sagte Kurt. Das war die Spitze der Armut, welche dem Herrn von Önz wirklich nicht mehr lächerlich vorkam, sondern ins Herz ging, denn das hätte er nicht gedacht, daß es ein Schlößchen in der Welt gebe, in welchem bloß zwei Hunde seien, beide mit haarlosen Schwänzen, von denen der eine in einer Viertelstunde einen Schritt tue, während der andere die gleiche Zeit brauche, einen Laut von sich zu lassen. Diese Armut trieb ihn zum Aufbruch früher, als er vielleicht sonst daran gedacht, denn ein solcher Mangel war unerträglich, dem mußte abgeholfen werden alsbald.

Der Tochter war es doch schwer ums Herz, als der Vater Abschied nahm und fortritt, und sie allein blieb im öden Haus und mit der bösen Schwieger. Indessen an sentimentale Betrachtungen war Agnes nicht gewöhnt, sondern hatte im innersten Kerne ihres Wesens eine bedeutende Kraft, welche sich in das Notwendige ergibt, die Sachen nimmt, wie sie sind, sie zu benutzen und zu gestalten sucht auf das beste. Sie packte ihre Sachen aus, ordnete sie so gut als möglich und mit geschickter Hand, welcher man es ansah, daß sie selbst angreifen konnte, und ehe der Tag zu Ende war, hatte Koppigen ein um viel besseres Aussehen erhalten, einem Bettler gleich, den man gehörig wäscht und reine Kleider ihm anzieht. Der Vater hielt aber auch Wort; am andern Morgen schon kamen die Hunde, und zwar treffliche, hintendrein und nach und nach das andere.

Kurt liebte seine junge Frau sehr, aber seine Pflicht erforderte begreiflich, daß er nicht fortfuhr, neben ihr zu sitzen; er mußte den Hausvater machen, für das Notwendige sorgen, das heißt, er mußte jagen mit den neuen Hunden. Oh, es ist schön, wenn Pflicht und Lust übereinstimmen, und stimmen sie nicht überein, so hat man ein einfaches Mittel, sie zu vereinen: man macht aus der Pflicht einen Mantel und hängt ihn der Lust um, und zwar um und um, so daß gar kein Zipfel davon hervorguckt, dann wandelt man in der Pflicht und tut, was die Lust gelüstet. Da gehts gar lustig zu und öfter so, als die Welt glaubt. Es war aber auch Kurt fast nicht zu verargen: erstlich war er ein Naturkind, und die Natur treibt ihre Kinder der Lust nach; die Kultur ists, welche den Naturkindern ein Mäntelchen umhängt, und da Kurt zwei Jahre in der Welt gewesen war, so kam er eben zu einem Fetzen Kultur, aus welchem man diese Mäntelchen macht. Und wer einmal außerhalb der Kuhweide war, der wird von zwei Mächten getrieben: er will wiedersehen, er will sich wieder zeigen. Kurt wollte wiedersehen sein ganzes Jagdrevier, jeden Anstand, auf welchem er in der Dämmerung zu lauern pflegte, jedes Dickicht, in welchem er eine Sau gesehen, jede Wiese, über welche das Wild strich, jede Quelle, an welcher Reh und Hirsch sich fanden, die alten Weidenstöcke, wo die größten Forellen standen, die Plätze, wo die Lachse laichten, die Strömungen, wo die Rauhfische in Netzen zu fangen waren, jede besondere Art zu ihrer besondern Zeit. Er mußte beobachten, ob das Wild die gleichen Gänge ging oder beim Wechsel des Holzes die Bahnen geändert, andere Richtungen genommen. Das Wild ist freiherrlich, macht sich seine Wege nach seiner Bequemlichkeit, nachdem das Holz aufwächst oder abgehauen wird, je nachdem das Unterholz sich ändert oder rundum die Kultur, denn es ist eben auch sehr empfänglich für die Kultur. Es ändert seine Wege ohne obrigkeitliche Bewilligung, denn es braucht zur Instandstellung seiner Wege auch keine obrigkeitlichen Wegeknechte. Wie ein alter Student seine alten Lieder, so liebt ein alter Jäger seine alten Gänge, und jeder hat seine besonderen Stellen, wo ihm das Herz besonders schlägt, und in die Augen ein besonderes Leben kommt.

Aber auch zeigen, wieder zeigen will man sich, besonders wenn man glaubt, es sei eine merkliche Veränderung an einem vorgegangen. Kurt ritt an Halten gerne vorüber und sah auf die Fräuleins herab mit souveräner Verachtung, weidete sich am Ärger, den sie haben müßten bei seinem Anblicke, wenn sie denken müßten, wie sie ihn ausgespottet, und wie er sie jetzt verhöhnen könnte. Er ritt gerne nach Solothurn, labte sich an dem dortigen Gerede, und wie man laut sich wunderte, wie der jetzt einem Grafen gleich geworden an Männlichkeit und Anstand, den man früher ganz anders gesehen. Je öfter er sich also zeigte, um zu zeigen, wer er jetzt sei, desto mehr schien es ihm, er erfülle eine Pflicht, die Pflicht, seinen und seines Geschlechtes Ruf herzustellen und wieder zu Ehren zu bringen.

Während auf diese Weise Kurt seiner Pflicht nachritt, lagen die beiden Damen zu Hause ihren Pflichten ob, jede wollte treu sein, und jede war eifrig, aber jede auf ihre Weise. Sie bildeten gleichsam zwei Kammern: Frau Grimhilde die Pairskammer, Frau Agnes die Kammer der Gemeinen. Frau Grimhilde war eine geborene Gräfin, das öde Häuschen war das ihre samt Grund und Boden. Frau Agnes war die jüngere, bloß eines Edelknechts Tochter, hatte aber die Finanzen, und was ins Haus gebracht wurde, das schickte ihr Vater. Begreiflich nahm Frau Grimhilde das Hausrecht in Anspruch, die angestammte Würde, betrachtete die Sohnsfrau als einen Eindringling, die froh sein sollte, wenn man sie aus Gnaden duldete, nicht totschlüge, behandelte sie als eine Magd und forderte dafür noch Dankbarkeit, weil sie doch dabei das Leben behielt. Frau Agnes dagegen war der Meinung, sie sei wohl aus Gottes Gnaden hier, aber nicht aus Frau Grimhildens Gnade. Kurt sei froh gewesen, sie zu erhalten, und Frau Grimhilde sollte froh sein, leben zu können aus ihrer Sache. Sie wolle niemandem was vorrücken, aber leben als eine Bettlerin und doch von ihrer Sache, das wolle sie nicht; sie meinte, sie könnte befehlen, wo sie ihre Sache abgestellt wissen wolle, was die Bauleute bauen, was die Knechte tun sollten, wo man mit ihren Rossen pflügen, und von welchem Samen man säen solle; meinte auch, sie verstände das, und zwar besser als eine alte Frau, welche seit zwanzig Jahren keinen Pflug im Felde gehabt. Indessen wenn Frau Grimhilde auch keinen Pflug im Felde gehabt, so führte sie doch eine Sprache ins Feld, welche durch Leib und Seele ging, und was sie befahl, das wußte sie durchzusetzen gleich einem alten türkischen Sultan.

Man kann sich daher das Leben vorstellen, welches die beiden miteinander führten, und die süße Zärtlichkeit, welche zwischen ihnen herrschte. Das Zweikammersystem ist nur dann gut, wenn ein gutes Zünglein an der Waage ist und eine starke Hand die Waage hält. Diese Hand hätte eigentlich Kurt ins Feld führen sollen, er sollte des Hauses König sein, das Gleichgewicht herstellen und alle Kräfte einigen unter seinen Willen. Aber Kurt hatte eben ein eigenes Fach ergriffen, war zu sehr mit den auswärtigen Angelegenheiten behaftet, um das Ganze gehörig zu überwachen. Zudem hatte er Furcht vor seiner Mutter; eigentlich hatte er sich nie von ferne gegen sie aufgelehnt, geschweige daß er ans Emanzipieren gedacht hätte. Es ist übrigens sehr merkwürdig, wie so oft ein altes Weib, dessen Glieder nur noch zusammengeleimt scheinen, eine unumschränkte Gewalt über baumstarke Söhne übt, und wie die Söhne sich derselben nicht entziehen dürfen, wie gerne sie sich auch entziehen möchten.

War Kurt einmal zur Seltenheit zu Hause, wenn eine Hündin Junge werfen wollte, oder ein Pferd lahm geworden, und kam Agnes zu einem vertrauten Worte mit ihm, so klagte, weinte sie jämmerlich, machte alle Manövers, welche eine Frau in solchen Umständen macht, redete von Fortlaufen, wenn er seiner Mutter nicht den Marsch mache, oder schmollte, redete nicht nur nichts mit ihm, sondern ließ sich höchstens von hinten selten. Das brachte Kurt in Verlegenheit und tat ihm weh, denn er war von Natur gutmütig; er suchte seine Frau zu trösten, aber seine Beredsamkeit in diesem Fache war wirklich nicht groß. Er wußte ihr wenig anderes zu sagen, er begreife nicht, was sie eigentlich immer zu klagen hätte, es hätte ihr doch niemand was getan, und was sie wolle, habe sie oder könne es nehmen. Es sei freilich wahr, seine Mutter rede viel, besonders in den langen Tagen, aber sie müsse es machen wie er, er lasse den Waldi, der niemanden beiße, auch bellen, solange und soviel er wolle; er wüßte nicht, warum seine Mutter nicht das gleiche Recht haben sollte, ihre Stimme zu gebrauchen. Ein andermal sagte er: »Mußt dich dulden, mußt warten lernen! Sieh, wir Jäger müssen auch lauern, oft ganze Nächte umsonst, dir aber wirds nicht fehlen. Die Mutter ist alt und stirbt gewiß, und ist sie einmal tot, vergeht ihr Reden und Regieren von selbst, dann bist du Meister, kannst schalten und walten, wie es dir gefällt.« Solcher Trost schlägt bei einem klagenden, erzürnten Weibe nie gut an, sondern gießt Öl ins Feuer; zornige Weiber sind durchweg radikale Neuhegelianer, wollen keine Anweisung auf die Zukunft, sondern ein Handeln in der Gegenwart.

Zudem schien im letztern Troste Spott zu liegen, denn was er in Aussicht stellte, hatte einstweilen keine Wahrscheinlichkeit. Frau Grimhilde nahm sichtbarlich zu, zwar nicht an Gnade und Weisheit bei Gott und bei den Menschen, sondern am Fleische, verjüngte sich; seit sie wieder mit jemanden tagelang schelten und keifen konnte, stärkte sie sich an Lunge, Leber, Herz, schien ein Fisch zu sein, der vom Trocknen wieder ins Wasser gekommen. Freilich mochte Speise und Trank, das behagliche Sein überhaupt auch etwas an ihrer Zunahme beitragen, was sie indessen nie eingestanden hätte, denn sie schimpfte von der Morgen- bis zur Abenddämmerung an einem Faden über das jetzige Leben, welches sie keinem Hunde gönnen möchte, und rühmte, wie froh und glücklich sie früher gelebt. Wenn dann zu solchen Reden die beiden Hunde bedenklich ihre grauen Häupter schüttelten, so bezog das Frau Grimhilde auf sich, bedachte nicht, daß die guten Hunde den ganzen Tag wackelten mit ihren Häuptern, und bedauerlich war es anzusehen, wie die alte Frau die alten Hunde mit der Peitsche züchtigte, daß sie laut heulend aus der Halle wackelten. Der alte Herr von Önz sandte viel nach Koppigen, aber wer es in Empfang nahm und damit hantierte, das kümmerte ihn nicht, und was ihm Agnes klagen wollte, wies er die Tochter an den Mann und sagte, er mische sich nicht gerne in fremde Hauswesen, er habe daheim einstweilen an der Brigitte genug; übrigens solle sie es machen wie er, damit komme sie am besten fort, die Sache nicht gemütlich nehmen, denken, es sei eine Krankheit, und gute Miene zum bösen Spiele machen, tun, als habe sie weder Augen noch Ohren, dabei brauchen, was ihr wohltue, nicht mehr machen, als sie möge, ein besseres Leben gebe es ja nicht auf der Welt. Dieser väterliche Balsam war eben auch nicht heilsam für eine junge Frau, ihr wundes Herz wollte nicht heilen, und es würden wohl wenig junge Weiber auf der Welt zu finden gewesen sein, welche in den ersten Jahren der Ehe eine solche Schwiegermutter und solchen Trost dazu zu verwinden imstande gewesen wären.


 << zurück weiter >>