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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Der Tod erscheint

Zum ganzen Sommer überhaupt machten die beiden jungen Herren trübe Gesichter, gäb wie die Andern sich Mühe gaben, dieselben anders zu machen, beide trugen schwer in sich, und je mehr die Bürde wuchs, desto sorgfältiger suchten sie selbige zu verbergen. Der Herbst kam und mit ihm viele Krankheiten: Ruhr, Nervenfieber, Entzündungen. Es war, als ob der Doktor neues Leben erhielte, fast einem matten Pferde gleich, das die Trompete hört, welche zur Schlacht ruft. Die alte Kraft und Tätigkeit schien neu aufzuflammen, unermüdlich, Tag und Nacht, war er auf den Beinen, schien sich zu vervielfältigen; kaum war er hier gewesen, sah man ihn schon auf entgegengesetzter Seite. Je mehr der Doktor betätigt war, dest trüber schlich der Vikar umher, es fiel allen auf, und die gute Frau Pfarrerin sagte ihm oft: «Herr Vikari, seid Ihr nicht wohl? Ih bitten Ech, sägets doch, mir wey Ech ja gern gä und helfe, was wir können.»

Aber er sagte immer, ihm fehle nichts; er konnte nicht sagen, wie innig es ihn betrübte, daß niemand ihn zu einem Kranken rief, daß er Sophie nicht zeigen konnte, er fürchte die Ansteckung so wenig mehr als der Doktor, daß er der Gemeinde nicht zeigen konnte, er wäre jetzt auch imstande, mit Kranken zu reden, ohne daß sie verrückt würden. Und wie hart ists nicht, so innerlich zu etwas Besserm gerüstet zu sein, niemand gibt uns Gelegenheit, es zu zeigen, alle trauen uns die alten Schwachheiten zu, und eine tiefe, tiefe Beschämung bindet unsere Zunge, wir dürfen nicht um Gelegenheit zur Bewährung bitten, dürfen sie nicht suchen, müssen in Geduld sie von Gott erwarten, müssen sehen, wie ein Anderer sich bewährt, uns niemand ruft – es ist eine strenge Buße, es ist mehr als ein Kleid von Kamelhaaren auf der bloßen Haut, es ist ein Stachelgürtel ums blutende Herz.

Wechselnd ward das Wetter, heiß bald, kalt wieder, Schneegeflotsch und eisige Winde, es war ungesundes Wetter. Nie wöhler sei ihm gewesen, sagte der Doktor, wenn ihm die Tante zusprach, er solle sich doch schonen, es dünke ihn manchmal, er hätte Fecken und möchte fliegen über Bäume und Berge. Sophie sagte nichts, aber wenn es ihn mit feuchten Augen betrachtete, und der Doktor sah es, so wards ihm zu eng im Hause; wenn er nur konnte, ging er weiter.

Jowägers Meyeli hatte ein Kind erhalten, einen munteren Buben, der Doktor das Säugen verboten, und Meyeli blühte allmählig auf wie ein weißes Röschen, das sich wieder in ein rotes verwandeln möchte. Jakobli hatte gesagt: «Wenn ih wüßt, er hätts nit ungern, ih nähmt dr Dokter zum Götti; sövli gut, als ers mit is meint, meints doch niemere.» Meyeli hatte darauf der Wand sich zugekehrt, aber nichts gesagt. Am folgenden Morgen sagte es und ganz leise, aber wunderlieblich blühte das rote Röschen auf seinen Backen auf: «Du, ih ha denkt: und wenn mr ds Herre Söphi nehmte? Öppe süst ists nit dr Bruuch, aber dr Herr het o viel an is ta, und es wird ne doch hürate. Ih ha hinecht dr Sach nahgsinnet, wo dr Bub so handlige gsi ist, und so hets mi duecht, dörfte mrs viellicht wohl probiere, oder was meinst?»

Es wär ihm schon recht, sagte Jakobli, der seinem Meyeli immer recht gab; aber is Pfarrhus z'gah, zGevatter bitte, schüch er si, hingege dr Dokter, hätt er däicht, miechs dem Meyeli nüt, selber z'frage, er syg geng so fründlich mit ihm, daß das ihm nüt miech, er schüch si neue geng im Pfarrhus, un es syg ihm nüt uf dr Welt so zwider scho an ihm selber, als zGevatter bete. «Was», sagte Meyeli, «ih hätt sölle zGevatter bete u no dr Dokter? Nit um alles i dr Welt, ghörst, tät ihs; viel lieber wett ih ds Herre Söphi dörfe frage, wenns mi scho mängist so kurios aluegt, daß ih nit wüßt, wies gemeint wär, wes nit nache dest fründliger wär. Aber du weißt, er het mr vrbote no, zChilche z'gah, u so mußt dus wäger selber mache.»

Als Jakobli unter Zittern und Zagen mit seiner Bitte herausrückte, hatte ds Herre Söphi wiederum ganz kuriose Augen gemacht, war ganz rot geworden, dann gleich wieder bsunderbar freundlich und hatte seither seinen kleinen Götti so liebgehabt, daß ein eigen Kind ihm nicht lieber hätte sein können und Meyeli manchmal sagte, es werd fast schalus. Wenn dGotte chömm, so duech es eim, er merk se vo wytem, dä Lecker.

Im Spätherbst aber, als es so strub ward und flotschig, kam Sophie weniger hinauf; die Mama hatte es ungern, wenn es so durch struben Weg und Wetter ging. Aber wenn es im November so trüb und finster ist, die Luft geschwängert von nassem Nebel, das Licht verdrängt durch schweres, niederhangendes Gewölke, Felder und Wiesen gelb wie ein verdorret Gesicht und schwarz die Wälder, ungeheuern Totenbäumen gleich, da wird einem so gerne dumpfig im Gemüte, schwarz, als ob man bereits im Totenbaume läge. Wie es einem geht am Rande von Wasserfällen, daß es einem wird, als zögen die Wasser einen nieder, als locke süß und wild des Stromes Nymphe, als müsse man sich stürzen an ihren schäumenden Busen, so wird es einem in den schwarzen, kurzen Nebeltagen, als müsse man sich legen in die schwarzen Totenbäume, als müsse man das Leben wegwerfen, das eigene Gesicht gleichmachen den Gesichtern der Felder und Wiesen.

Ganz so ward es freilich Sophie nicht, aber doch bang und düster im Gemüte, es war ihm, als hange ein unendlich Unglück über ihns hinein, als sinke dasselbe langsam näher und immer näher, als presse es eng seine Brust bereits zusammen, wenn es gleich seine Augen noch nicht erblickten. Es war ihm, als müßte es im Freien seine Brust lüften, und wäre es auch bei nassem Nebel. Als eines Tages sie vom Mittagessen aufgestanden waren, sagte Sophie der Mama, wenn es die Stube in die Ordnung gebracht, so gelüste es ihns, zu Jowägers hinaufzugehen, es sei lange nicht dort gewesen. «Und Weg und Wetter, was denkst, Sophie?» sagte die Mama.

«Ich glaube», sagte Sophie, «der Nebel werde heute etwas aufgehen, und der Weg sei gut, hat die Frau gesagt, welche Eier gebracht, es sei ein wenig gefroren.» «He nu, i Gottsname», sagte die Mama, «aber zum zAbe bist wieder da, ih denke, dr Növö könnte heute kommen, er ist lange nicht da gewesen.» «Allweg», sagte Sophie, «heyt nit Kummer.»

Es war Freude bei Jowägers, als Sophie kam, der Götti war gewachsen, hatte gemuntert, konnte schon allerlei Künste, war ein Kind, wie sie keines noch gesehen, so ein listiges, es werde der Gotte nachschlagen usw.

Am besten dran waren sie mit Reden und Spaßen, als Meyeli sagte: «Luegit doch, wer chunnt dert so cho z'laufe?» Sie sahen alle durchs Fenster hin. «Herr Jeses, das ist üses Grit!» sagte Sophie, «was hets ächt gä?» Somit lief es zur Türe aus, Grit vors Haus entgegen; die Andern blieben, damit es nicht den Schein habe, als wollten sie hören, was sie vielleicht nichts angehe, in der Stube zurück. Aber Sophie kam nicht wieder, sie sahen es, Grit weit voraus, dem Dorfe zu springen. Was es gegeben, wußten sie nicht, ein großes Unglück mußte es sein. Sami, der auf der Bühne Heu rüstete, hatte etwas vom Sterben und «Herr Jeses, Herr Jeses!» gehört. Sie konnten nichts anders glauben, als der alte Herr oder die Frau hätten einen Schlagfluß bekommen, so alten Leuten gebe es öppis ungsinnet; aber sei es das Eine oder das Andere, so sei es ihnen grusam leid, öppe besser alt Lüt gebe es nicht, und wenns dr Herr syg, so gange es viel z'übel, es gäb e neue Pfarrer, und was für eine, wüß me nit, si syge o bi witem nit all glych, und a dä hätte si si gwahnet gha, und sövli e aständige werde si öppe nimme übercho. Nie e Mönsch heyge si öppe für öppis plaget, und dagege syge si gut gege all Lüt gsi, und wenn sie am ene Mönsch heyge chönne behülflich sy, so sygs nie nei gsi.

So sprachen sie hin und her mit betrübtem Herzen; immer peinlicher wurde ihnen die Ungewißheit, bis sie rätig wurden, öpper müsse ga Salz reiche zwische Tag und Nacht, und de chönn de das grad dr Jumpfere ihre Shawl mitnehmen, den sie hier vergessen, de werd mes scho vrnäh, was es gä heyg.

Etwas, an das sie nicht gedacht, hatte es gegeben. Ins Pfarrhaus war der Bericht gekommen, wenn sie den Doktor noch lebendig sehen wollten, so sollten sie auf der Stelle kommen, er habe sein Bauchweh wieder, und Aufkommen sei keins. Diesmal begleitete Sophie die Eltern; wenns ans Sterben geht, hören die Rücksichten auf. Sie fanden den Doktor matt zum Tode, doch in einer ruhigen Pause, sich vollkommen bewußt seines Zustandes. Sie nahmen sich alle gewaltig zusammen, und wenn Sophie auch die Tränen stromweise die Backen abschossen, sie jammerte nicht, und wenn es ihm auch zum Ersticken war, es schluchzte doch nicht; die eine Hand lag auf des Doktors Stirne weich und leise, die andere drückte es stark, krampfhaft ans pochende Herz.

Sie kannten einander, hatten nicht nötig, viel zu reden, um sich zu verständigen; nur während Mama mit Käthi für Leinzeug sorgte, Papa Boten fertigte nach befreundeten Ärzten, sagte der Doktor leise zu Sophie: «Leb wohl, dankeigist, daß de cho bist; wenn ih di gseh ha, su ists mr geng gsi, als ob si e fründligi, schöni Wahrheit vor mi histellti. Briegg nit, es geyht dr gut, daß ih stirbe, es heiters Lebe wartet dr jetz, wie d eys vrdienst.» «O Rudi, Rudi!» sagte Sophie. «Sophie, es ist mir Ernst, ich hätte dich unglücklich gemacht. Wie es in mir aussah, weiß du nicht, und wenn mir jetzt mein Leben auch vorkömmt wie ein großer Irrtum, drum so trüb und stürmisch, wer weiß, ob dieser Irrtum nicht hineinragen würde in mein ganzes Leben wie ein schwarzer Schatten, und jetzt ists so hell vor mir, nur noch ein schwarzer Streif, so ists überstanden, dr Irrtum, dSchmerze, ds Lebe, und was Gott ist, weiß ich jetzt.»

«O Rudi», sagte Sophie, «meinst, ich habe es nicht gewußt? O wie ein herrlich Leben hätten wir führen wollen, wos taget het i dr!» Leise schüttelte Rudi das Haupt, und schmerzliches Zucken riß wieder durch seine Züge, er nahm das Gespräch nicht mehr auf, aber zuweilen sah er Sophie zärtlich, innig an, fast als ob er in dessen Gesicht lesen wollte, ob sie wohl zusammen den freudigen Trost gefunden hätten, der das Leben bald erklärt, bald verklärt. Und Sophie verstund ihn wohl; aber was sollte es sagen, wo das Leben ohne Hoffnung am Verrinnen war?

Ärztliche Kunst verlängerte des Doktors Leben, aber auch seine Leiden, zu retten vermochte sie es nicht; er wußte es, er bat, daß man von vergeblichen Versuchen ablassen, lieber seinen Tod beschleunigen als seine Schmerzen verlängern möchte. Er wußte, daß er umsonst bat; seine Freunde wußten, daß sie umsonst dokterten, sie konnten seine Bitten nicht erhören, sie konnten ihre Kunst nicht steigern, konnten weder die Schranken ihrer Pflicht erweitern noch die ihrer Kräfte. Sie standen an den Schranken, welche dem Menschen gesetzt sind, an den Schranken, die glühende Ketten wären, fürchterlicher als Sklavenketten, wenn es nicht die Schranken wären, welche Vaterhand dem schwachen Kinde gezogen hätte. Umfangen hielt sie ihre Ohnmacht, die ein glühender Fluch wäre, wenn die Wahrheit sie nicht verklärte, daß der Vater es also will, die Ohnmacht uns zur Demut bringt, die Demut zur Gnade in der Erkenntnis, daß der Vater auf dem schwersten Wege seine liebsten Kinder führt und oft im Tode noch, wenn am Ende der Bahn sie stehen, ihnen das Verständnis gibt und das Sehnen des Kindes nach dem Vater.

Er litt schwer, und Sophie über alle Worte. Wenn er mit bittenden Augen in den tiefsten Schmerzen das Mädchen ansah, in den Augen das Bekenntnis grenzenloser Ohnmacht lag, das innigste Sehnen nach Erlösung, dann war es Sophie so voll und weh ums Herz; Leben, so viele es auch besessen, hätte es weggeworfen, den Retter so vieler Leben zu retten, aber für dieses eine Leben besaß es kein Opfer, hatte nichts als das leise Auflegen der weichen Hand auf die naßkalte Stirne, als einen innigen Blick der Verständnis, als ein leises Deuten nach oben, wo die Kraft zu jeglicher Erlösung ist.

Endlich löste die Hand, in welcher jegliche Macht liegt, die Bande, und aus dem gemarterten Leibe ward die matte Seele erlöset, tot und feucht lag die Hülle da, welcher eine edle Seele entflohen. Sophiens Spannung löste sich, seine Kräfte brachen, fast bewußtlos fuhr es der Vater nach Hause. Der ehrwürdige Mann weinte auf dem Heimwege rücksichtslos, es war ihm als sei sein Bruder erst jetzt gestorben, es zuckte in ihm, mit Gott zu hadern, daß er nicht sein altes Leben genommen, das junge den Menschen gelassen, oder, wenns doch ein junges habe sein müssen, warum nicht das seines Vikars statt das seines Neffen? Aber, wie gesagt, das zuckte nur so in ihm als Zeichen, daß der alte Mensch nicht gestorben sei, daß in schweren Fällen auch ein alter Pfarrer, der seinen Gott im Geist und in der Wahrheit anzubeten weiß, durch frevle Fragen erschüttert wird.

Die Kunde von des Doktors Tode lief wie ein Lauffeuer rund herum, wirkte fast allenthalben wie ein elektrischer Schlag, ging jedoch nicht so schnell vorüber. Nur einige Taugenichtse, welche es allenthalben gibt, freuten sich seines Todes, die einen verblümt, die andern unverblümt. Die einen seufzten andächtig und sagten: ja, ja, Gott sei immer Gott, und wenn man am wenigsten daran denke, so tue er ein Zeichen. Es sei ihnen leid, daß der Doktor gestorben sei, so jung; wie geschickt er gewesen, wüßten sie so gut als irgendwer. Aber daß er keinen Glauben gehabt, wisse jedermann, nun werde er es wohl erfahren haben, ob ein Gott sei oder nicht.

Andere dagegen sagten, he nu, eine mehr oder eine minger, darauf chömms nit a. Wenns eine heyg sölle gä, so sei es ihnen recht, daß es den getroffen. Nit, als Doktor reu er si, aber wenn Einer wolle besser sein als die Andern und tue fast wie ein Engel vom Himmel, so geschehe ihm recht, wenn ihm was auf die Nase werd, er wüßte dann, daß er sie untern haben sollte, und jetzt sei sie ihm untern, daß er sie nicht so bald mehr heben werde. Es sollte allen so gehen, die was anders wollten als andere Leute.

Doch so redeten Wenige; jetzt, da der Doktor tot war, regte sich fast allenthalben das herzlichste Bedauern. So gäbe es keinen mehr, sagten alt und jung, und wenige Haushaltungen waren weit und breit, in denen nicht eins sagen konnte: wenn dä nit gsi wär, en Angere no vorbhalte, es wär längst unger em Herd. Allenthalben war die Rede davon, ob man es nicht zeigen könnte, wie wert er gewesen, und wie viele noch daran sinneten. Von Denkmälern wußte man nichts, und möglich wärs gewesen, daß, wenngleich er in so vielen Herzen wohnte, doch nicht viele Kreuzer dafür zusammengebracht worden wären. Herz und Kreuzer sind halt nicht im gleichen Sack, und die verschiedenen Säcke haben verschiedene Münze, das Herz zahlt mit Tränen, der Kreuzersack mit Kreuzern, mit Rappen noch lieber. Ihm zLycht zu gehen, begann man allenthalben zu wünschen, damit von Kind zu Kindeskind noch erzählt werde, eine Leiche wie die vom Doktor Rudi hätte man nie erlebt, so weit man hintern sinnen möge.

Am tiefsten vielleicht hatte die traurige Nachricht in Jowägers Hause eingeschlagen. Jakobli war es gewesen, der Salz geholt, die Nachricht im Pfarrhause vernommen hatte, er trug so schwer daran heim, wie er noch nie getragen hatte, und als er heimkam und sie ablud, da fiel sie allen schwer aufs Herz, selbst Anne Bäbi sagte, das werd öppe nit sy, dä reutis. Nur Mädi sagte, es sei doch dr wert, eso z'mache, es werd öppe e Mönsch sy wien e angere, und wegem Dokter seis eso wie mit de Pinte, wo eine eingehe, gebe es zwei neue, da wäre es sich doch nit dr wert, so z'pläre.

Meyeli war bsonderbar tief ergriffen; sagen konnte es nicht viel, aber weinen tat es desto mehr, und wie Jakobli tröstete, es wollte nicht bessern. Er solle doch recht nicht zürnen, sagte Meyeli zu ihrem Manne, aber es könne wäger nit anders. In seiner Jugend hätte sich seiner niemand geachtet, und es hätte möge gruchze u berze, wies welle hätt, es hätts ume ke Mönsch gmerkt, und wenn mes scho gmerkt hätt, su hätt ume niemere nebeume gluegt, und wenns gstorbe wär, su hätt ke Mönsch pläret, mi hätt öppe gseit: «He nu so de, es ist ihm wohl gange u ging no Mängem wohl, wenn es o so sterbe chönnt.» Das hätt ihm o manchmal so wehgetan, es könne es nicht sagen, und manchmal sei ihm das Wasser in die Augen geschossen, es hätte fast selbst nicht gewußt für was. Und daß jetzt so ein Herr sich seiner geachtet und an ihns gesinnet, wo es dä Weg zweg gsi syg, das heygs duecht, es chönn nit säge wie, und das heyg es ihm nit chönne vrgesse, und wenn es ne agluegt heyg, su heygs geng duecht, das syg nit e Mönsch wien e angere, und heyg neue ganz angeri Gedanke als anger Lüt, es hätts mengist fast duecht, es sötts mache, wie mes zSolothurn mach vor dene Bildere i dr Chile, es sött dHäng zämeha u bete.

Und mängisch heyg es däycht, dä chönn gwüß nit lang lebe, u de heyg es ihm ds Herz fast welle vrsprenge. Und jetz, wo es gekommen, wie es es manchmal gedacht, könne es sich doch fast nit dry schicke, und es wüß nit, wie das dann gehen sollte; es hätte ihm neue ke Krankheit meh Angst gmacht, wenn es scho dra gsinnet heyg, es chönnt das oder äys gä, es heyg de däycht: «He nu i Gotts Name, wenn öppis z'mache ist, su wird der Dokter scho helfe». Wenn es ihn nur noch einmal gesehen hätte in der letzten Zeit, es duech ihns, es könnte sich viel besser trösten. Wenn es ihm nur zLycht könnte, daß es wüßte, wo man ihn begrabe, und daß es sein Lebtag daran sinnen könnte, es sei auch dabeigewesen und hätte gesehen, wie man ihn ins kühle Grab getan. He, das sei ihm recht, sagte Jakobli, es hätte ihn auch hart, und wenn me ume wüßt, ob sies gern oder ungern hätte, wenn man so weit ihm zLycht komme; er hätte gehört, es gingen noch viele Leute, das werde wohl zu vernehmen sein.

Meyeli den Gefallen zu erweisen und sichern Bericht einzuziehen, ob man gehen könne oder nicht, bot Jakobli allem auf. Er ging ins Dorf, dort war gleiches Gerede, aber niemand wußte Näheres. Am besten wärs, es ginge jemand gerade ins Pfarrhaus und früge, ward man rätig, der Pfarrer sei bestimmt daheim und dJumpfere wahrscheinlich auch. Gesehen habe sie zwar noch niemand, aber gestern abend sei Licht in ihrem Stübli gewesen. Zu gleicher Zeit könnte man vernehmen, wann die Begräbnis sei. Der Sigrist bot sich an, das zu erfahren; er wüßte nicht, sagte er, warum man nicht gehen und selligs fragen dürfe, es sei ja nichts Schlechtes, und mit ne sygs de öppe no z'rede. Und im Gefühl seiner Courage ging er dem Pfarrhause zu und klopfte mit Doppelschlag herzhaft an die Türe.

Grit kam alsbald und hielt, wie üblich, ehe es der Anfrage Folge gab, erst eine lange Privatunterredung mit dem Sigrist vor der Türe, worin Grit eröffnete: dJumpfere sei nicht herunter gekommen und habe heute noch nichts gegessen, es heyg se grusam hert, es sei aber auch nicht z'vrwundern, er hätt se im Sinn gha z'hürate, wie sie heyg möge gmerke, und e sellige überchäm si nit grad wieder, vo wege si syge nit dick. Si chönnt dr Vikari o ha, wie si heyg möge gmerke, aber dä möcht Grit selber nit, wes ne scho chönnt ha, nei, bim Schinder nicht; was man auch mit einem anfangen solle, der meine, man setze das Korn, und nit wüsse, daß man es säe! Wenn eine selligs nit wüß, so wüß ke Hung, was er alles nit wüß, und was me für e Müh müßt ha, bis me ne über alles recht brichtet hätt.

DJumpfere dörf es nit wohl ga frage, es wells bim Herr probiere, es wüß zwar nit, wies dert achömm, dä schryb, es glaube emel, er mach e Predig. Aber es wolle doch gehen und ihn fragen, öppe sövli werds nit mache, öppe e Hässige syg er nit. Aber am Vikari gings für kes Geld i dStube, wenn es merki, daß er a dr Predig syg, es syg einist gange am ene Samste am Morge u heyg neue welle Flecke ufrybe, er heygs bim Hung aglueget un agschnauzt, dr böst Burehung chönnts nit so.

Der alte Herr ließ den Sigrist hinaufkommen, weil er aus Grits Reden nicht recht klug werden konnte, was die Leute wollten. Als er die eigentliche Absicht vernahm, verklärte sich des Herrn Gesicht. «Sag nur den Leuten», antwortete er, «ich wüßte nicht, wer was dagegen haben wollte; im Gegenteil, es freut mich sehr und würde den Gestorbenen auch freuen, wenn er es noch sehen könnte. Hätte er das früher gewußt, es hätte ihm manche trübe Stunde erspart, und wer weiß –.» Der Pfarrer sprach den Satz nicht aus, er entließ den Sigrist; mit dem Strome der Gedanken, der in ihm wogte, wollte er alleine sein.

Der Begräbnistag war ein trüber, finsterer Nebeltag, so recht ein Tag, wo der Nebel alles Licht verschluckt und es einem wird, als sei die Sonne selbst am Sterben, als gehe man ihr selbsten zGräbt, und dann sei es wieder öd und leer wie ehedem. Der Boden war gefroren, darum wollte Meyeli sich nicht führen lassen; es sei gut zu gehen, sagte es, und dabei könne es sich erwärmen.

Viele Leute wanderten auf den in dieser Jahreszeit sonst einsamen Wegen. Trotz den vielen wäre dem, der ihnen begegnet wäre, ein Weib aufgefallen, schlank, fast groß, schwarz angezogen, aber ohne Seide bis ans Halstuch, welches das weiße Hemd bedeckte, mit feinen Zügen, dunkelblauen Augen im blassen Gesichte. Das Schnellkräftige fehlte seinem Gang, aber schwerfällig war es auch nicht, es wanderte unter den Andern geräuschlos, man hörte den Tritt nicht, es weinte nicht, redete aber auch nichts, es wanderte unter den Andern fast wie ein Wesen, das vom Schmutz der Erde noch nicht berührt worden, das eigens gekommen, die Masse der Menschen zu verklären, die einmal von reinem Gefühle getrieben die Wege wanderte, wo man sonst nur wandert, von tierischen Trieben getrieben, dem Brote nach oder der Lust. Es wanderte wie ein Engel unter den Menschen, der niedergestiegen zur Sühne der sündigen Wege, aufzuschreiben die Gespräche der Menschen, entquollen reinen, dankbaren Gefühlen, da sonst die Wege Märit- und Chilchenleuten zumeist unnütze Worte entlocken, Lasterreden und Afterreden.

Das Weib hörte es, wie rundum der Verblichene gepriesen ward, nicht ein einzig Wörtlein seinen Schatten entweihte. Sie waren verwundert, die Gutmütiger, als ihr Zug bei jedem zusammenlaufenden Wege sich mehrte, daß nicht ihnen alleine das Ehrenbegleit des Toten in Sinn gekommen, sie hatten noch nicht erfahren, daß, wie einer Quelle die gleichen Wasser entquellen, einer Liebe die gleichen Gedanken entsteigen.

Als sie an den Ort der Begräbnis kamen, war er bereits angefüllt mit solchen, welche der gleiche Sinn gebracht; die Jüngern stunden auf der Straße, die Ältern saßen auf den Kellergewölben, den Treppentritten, den Abweissteinen. Allüberall war vom Doktor die Rede, und allen hatte er das Teuerste gerettet, bald sie selbst, bald Andere. «Und was hat er mir gefordert?» sagte der Eine, «ein Bettlergeld!» «Mir nichts», sagte der Andere; «und mir hat er diese Hose gegeben, und das Hemd, das ich trage, war auch sein», «und mir hat er Speise gegeben und Wein», und jeder wußte ein neues Lob, und manch alten Ätti sah man auf einem Steine sitzen, den langen Dornstock zwischen den Knien, mit seinem roten Nastüchlein fuhr er von Zeit zu Zeit über die Augen, und leise bewegten sich seine Lippen; ob er betete, ob er leise sagte, was er dem Doktor selbst noch hätte sagen mögen, erriet man nicht. Es war der ganze Ort ein lebendig Zeugnis, daß edle Hingebung noch immerdar gute Stätte findet, einen Boden, auf welchem sie hundertfältige Früchte trägt.

Endlich begannen die Glocken ihren Ruf, es gehorchten ihm die Menschen, langsam bewegte das Leichengeleite, den Sarg voran, sich die Straße herauf. An innerer oder äußerer Bewegung, an Tränen, an blassen Gesichtern waren die Verwandten nicht zu erkennen; alle waren dem Gestorbenen gleich verwandt in Liebe und Trauer, eine so allgemeine Bewegung ward selten noch gesehen unter so Vielen. Die Menge floß ohne Geheiß zu einer Gasse auseinander, und wie der Sarg vorüber war, floß sie wieder zusammen, ward zum Geleite, das der Kirchhof nicht faßte. Aber als die harte, gefrorne Erde rasselte weit hörbar auf den versenkten Sarg, da ertönte wie aus einem Munde ein lautes Schluchzen in der Glocken Klang hinein, es war die Totenklage um den geliebten Doktor, der innigste Totengesang.

Die Menge füllte die Kirche, ein Greis mit freundlichem Gesicht, von weißen Haaren beschattet, stand auf der Kanzel; schwer ward ihm die Rede, die innere Bewegung wollte ihm emporwachsen, wollte überschatten seine Rede. Aber er ward seiner mächtig und sprach mit kräftiger Stimme, wie er nicht geglaubt, den heutigen Tag zu erleben, er, der alte Mann, seines kräftigen Neffen Todestag. Als er seinen Bruder begraben, da sei in Trauer sein Herz fast gebrochen, er habe gezweifelt, des Bruders Auftrag, das zarte Kind zu erziehen, erfüllen zu können, er habe geglaubt, bald dem Bruder nachfolgen zu müssen, ja in sündigem Weh hätte er fast gewünscht, ihm bald nachfolgen zu können.

Nun habe Gott es anders gewendet, in vollem Mannesalter sei der Tod des Kindes erfolgt, und er habe ihn erlebt. Ob er das Kind als Vater erzogen, den Auftrag seines Bruders treu erfüllt, das werde Gott ermessen, das werde ihm bald sein Bruder Selbsten sagen. Er wolle es aufrichtig bekennen, er hoffe ein gutes Lob; so wie sein Neffe sei wohl selten ein Mensch begraben worden, so Viele hätten selten in Tränen einem Menschen nachgesehen, so viele herzliche Worte seien selten jemand ins Grab gefolgt. Wenn auch er nicht den Ruhm sich beimesse, die Ehre dem gebühre, der seinen Segen zu jedem Gedeihen geben müsse, so solle man ihm die Freude des Gärtners erlauben, unter dessen Sorge eine Blume erwachsen sei, welche vor andern in voller Pracht erglänze, mit ihrem Wohlgeruche Viele erquicke.

Als er seinen Bruder begraben, habe er das Wehen des Todes im eigenen Herzen zu spüren vermeint, heute fühle er es nicht, und doch werde der Tag nahe sein, wo auf seinen Sarg die schwarze, kalte Erde praßle. Sein Tag werde kein solcher Ehrentag sein, wie dieser für das Andenken seines Neffen sei, er verdiene ihn auch nicht, er habe sein Gutes im Leben genossen, solche Opfer und Entbehrungen habe ihm Gott nicht auferlegt, solche Gelegenheiten zu augenscheinlichem Wirken ihm nicht gegeben, habe ihn nicht zum Opfer seines Berufes werden lassen.

Daß sie dieses Opfer so innig anerkennen, das freue ihn hoch, es stärke seinen Glauben an die Menschen; aber ein freundlich, ernst Wort möchte er ihnen sagen in wahren Treuen, sie sollten des Doktors Tun und Treue auch im Leben lohnen und anerkennen, nicht in dessen Tode erst. Tausend Ärzte seien Opfer ihres Berufes geworden; aber im Leben sei ihnen das verdiente Los nicht geworden, Bosheit und Unverstand hätten es ihnen verkümmert, sie hätten nicht bloß den Stachel der Mißkennung, den Glauben, daß die Menschen sie nicht würdigten, ins Grab getragen, sondern dieser Stachel und die Pein, mit Leben und Beruf so mühselig ringen zu müssen, sei schuld an ihrem Tod gewesen, und wenn sie gestorben, wer hätte den größten Verlust gemacht?

Nicht die, welche gestorben, die werde der Herr als die Getreuen über Vieles setzen, sondern sie, welche den Getreuen verloren, welche nun für immer dessen Fleiß und Kunst entbehren müßten. Bei Leben sollten sie dieselben in Ehren erhalten, damit sie ihnen am Leben blieben. Sie sollten es ihm glauben, er rede ja nicht aus Eigennutz, er habe ja keinen Bruder mehr der Doktor sei, keinen Neffen mehr, keinen Sohn, dem diese Rede fruchten könnte, sie seien hingegangen, wohin er bald selbst hingehen werde. Darum sollten sie seiner Worte gedenken, sie seien an des Grabes Rand gesprochen, und der letzten Worte eines Menschen pflege man zu gedenken, und dieses werde wohl auch sein letztes Wort an eine versammelte Gemeinde sein. Und sei er einmal heimgegangen, so wolle er den Vater bitten, daß er ihnen allen den Geist der Wahrheit gebe, den rechten Tröster, der sie in alle Wahrheit leite, sie scheiden lehre Wahrheit und Trug, sie unterscheiden lehre wohlberedte Betrüger von treuen Wohltätern, und daß er diese aufrecht erhalten möge, wenn Menschen sie vergessen, ihr Beruf sie erdrücken wolle.

So sprach der alte Mann, und je länger er sprach, um so mehr erhob er sich über die eigenen Gefühle, um so klarer tönte seine Rede.

Als er geschlossen, strömte die Menge zu der geöffneten Türe fort, verlor sich in Wirtshäuser oder zu wohltätigen Menschen, wo ein Tropfen Suppe ohne Batzen zu haben war.

Am noch halb geöffneten Grabe aber stund ein junges Weib und weinte schmerzlich. Als der Sarg versenkt ward, war es am äußersten Rande des Ringes gestanden, hatte das Grab nicht gesehen, bloß das Rasseln der Erde gehört. Als es am Grabe gestanden war in stillem Weinen, entfernte es sich, hielt nirgends sich auf, verließ den Ort.

Es war Meyeli gewesen. In trübem Nebel, trübem Sinnen wanderte es der Heimat zu. Es war ihm nicht, als ob ein Mensch ihm gestorben, sondern als ob ein Licht ihm untergegangen, und als ob es jetzt mit Jakobli und den Kindern in dunkeln Ängsten wandern müßte seinen Lebensweg. So ging es lange fort, achtete sich nicht Steg noch Weg, und niemand störte es in seinem Sinnen, es war, als wanderte es in einer ausgestorbenen Welt.

Da war es ihm, als hörte es etwas über sich, rasche ängstliche Töne. Es sah auf. Vor ihm stand das Pfarrhaus zu Gutmütigen, und noch einmal erklangen die Töne. Da sah es am trüben Fenster Sophie stehen, sah Sophie winken mit dem Finger. Meyeli erschrak fast, wandte sich aber sogleich der Türe zu. Sophie öffnete sie, Meyeli bot die Hand, laut schluchzten beide, Meyeli trat ein, hinter ihm schloß sich die Türe. Als es Abend ward, die Lichter angezündet wurden, viele Leute heimgekehrt waren, kam Jakobli ins Dorf und fragte Meyeli nach. Heimgekehrt war es nicht, und niemand wollte es gesehen haben.


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