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Dreizehntes Kapitel

Wie ein alter Herr ins Reden kommt und nicht mehr hören kann

Der Pfarrer achtete sich dessen nicht, sondern wie aus tiefem Sinnen erwachend, sprach er: «Wie mich doch das heimelet; so bin ich mit deinem Vater manchmal gesessen, und noch dazu gleichst du ihm immer mehr, und das gleiche Thema, welches jetzt zwischen uns liegt, lag auch so manchmal zwischen ihm und mir, und fast auf deine Weise verfocht er es, nur daß jede Zeit eine ungleiche Ausdrucksweise hat. Sein Verstand beherrschte fast unübersehbare Weiten, darum erkannte er seine Schranken nicht in allen seinen Ansichten, aber in allen seinen Verhältnissen herrschte das Gemüt vor, und beide wurden vermittelt durch einen Eifer, eine Berufstreue, die seine Lebenskraft früh verzehrten. Der gute Bruder! Wir waren beständig anderer Ansicht und doch nie uneinig; ein jeder bedauerte des andern Beschränktheit, und doch hatte einer den andern so lieb. Er bedauerte, daß ich außer Verstandesweite noch etwas annehmen müsse, das ich eben nicht mit dem Verstande zu erreichen vermöge; ich aber bedauerte ihn, daß er neben dem von ihm beherrschten Gebiete kein anderes anerkenne, so daß er mir vorkomme fast wie der Kaiser von China, der außer seinem allerdings großen Reichen ebenfalls keine andern Reiche anerkennen wolle.

Nun aber liegt zwischen dir und mir noch deine Zeit und meine Zeit, deine Jugend und mein Alter. Wie die neue Zeit die alte überragt in vielen Dingen, meint meist der Jüngling auch den Greis zu überragen, und es vergißt der Jüngling, daß er nur unreif und meist auch das Unreife seiner Zeit in sich trägt, daß in jedem Menschen sich abklären muß das, was er in sich aufgenommen, und des Alters Weisheit es gegeben ist, zu pflücken der Zeiten gesunde, reife Früchte. Es vergißt der Jüngling so gerne, daß auch der Greis ein Jüngling gewesen, er selbst aber auch ein Greis werden wird. Ich sage das nicht als Vorwurf, denn selbsten ging es mir so und deinem Vater ebenfalls. Ach, er wurde kein Greis; wär er es geworden, wie hätte wohl seine Anschauung der Dinge sich gestaltet?

Er ward in der Zeit gebildet, wo die Erkenntnis der Menschen Riesenschritte machte, der Verstand seine Grenzen unendlich erweiterte und darum in den Wahn verfiel, er hätte alle andern Gebiete verschlungen, wo der Mensch der Kräfte der Natur sich bemeisterte und sich einbildete, es gebe keine wirkenden Kräfte mehr als die, welche er in Ketten und Banden geschlagen, deren Wirkungen er erforscht und sie zu regeln imstande sei. Dem Menschen sei es gegeben, mit Zeit und Weil in seinem Wissen alles ihn Umgebende, Berührende zu umfassen, und was er noch nicht erfasset, das sei darum noch nicht erfaßt, nicht weil es nicht möglich sei, sondern weil die rechten Leute sich noch nicht damit abgegeben, die rechten Wege dazu noch nicht gefunden worden seien. Was er durch das Wissen erforscht meinte, hielt er für untrüglich, brachte es in ein System, und dieses System war sein Evangelium.

Und weil die Mediziner, welche sich ursprünglich hauptsächlich mit diesen Naturwissenschaften beschäftigten, dieses Evangelium, daß alles was sei, auch vom Menschen müsse erklärt werden können, erfunden, so hielt er sie für das Licht der Welt, die den Schlüssel zu allem in der Tasche trügen, und von diesem hohen Standpunkte aus lächelte er auf alle nieder, die unter ihm im Dunkeln tappten, das heißt noch Dinge glaubten, welche sie weder sehen noch zergliedern konnten. Und weil er auf diesem Standpunkte die Bestimmung des Menschen, seine Vollendung darein setzte, zu einem vollständigen Wissen zu gelangen und mit diesem Lichte des Wissens das ganze Gebiet des Glaubens und des Ahnens taghell zu machen, so haßte er recht eigentlich die Männer des Glaubens, die Dunkelmänner (das Wort Pfaff war damals noch nicht gebräuchlich), welche in den geheimnisvollen Schachten der Seele die höhern Kräfte hervorgruben, ein geheimnisvoll Auge entschleierten und, was dieses sah, frommen Glauben nannten.

Seiner Überzeugung nach waren sie nicht nur überflüssig, sondern auch gefährlich, sie hemmten den Menschen auf dem Wege zu seiner Vollendung, und wenn er Meister gewesen wäre, so hätte er allen den Abschied gegeben. Er teilte sie der Mehrzahl nach ein in Betrüger, welche von dem Irrtum alles dessen, was sie lernten, vollkommen überzeugt seien, aber entweder es ihrer Faulheit angemessen fänden, auf diese leichte Weise ihr Brot zu verdienen, oder aber es zu ihrem eigentlichen Handwerk machten, das Volk in der Verdummung zu behalten, weil es in jeglicher Beziehung im Zustande der Verdummung am leichtesten auszubeuten sei, und in Dumm- oder Schafsköpfe. Unter diesen verstund er alle die, welche noch glaubten, was sie lehrten, denn es schien ihm rein unmöglich, daß ein vernünftiger Mensch noch an Dinge glauben konnte, die außer dem Gebiete des Begreiflichen und Erklärbaren lägen. Er mahnte mich in dieser Beziehung an einen Menschen, welchem von Jugend auf der Geruchssinn fehlt, und der daher alle auslacht, welche von guten und bösen Gerüchen, die er ja weder sieht noch hört noch mit Händen fassen kann, ihm sprechen.

Keine fanden vor ihm Gnade als die, welche sein System annahmen, dem Wissen Himmel und Erde einräumten und mittelst dieses Schlüssels Himmel und Erde, Gott und Geist ganz natürlich und einfältig zu erklären wußten, daß es einem vorkam, sie kämen eben hinter dem Umhang hervor, hinter welchem ein Taschenspieler auf die natürlichste Weise die Künste bereitet, mit welchen er seine Zuschauer vor dem Umhang in Staunen und Verwundern setzt. Mit denen ließe sich noch auskommen, sagte er, indessen betrachtete er sie für sich selbst doch mit geheimer Schadenfreude als die, welche gegen ihr Gebein wüteten, ihr eigen Reich zerstörten, und wenn sie dann dieses ihr Werk getan hätten, selbst als überflüssig auf die Seite geworfen würden. Er verglich sie oft mit einer gewissen Wespenart, welche erst andere Wespen vertilget, um dann selbst von Raupen aufgezehrt zu werden.

Mit mir war er in seltsamer Verlegenheit. Für einen Betrüger hielt er mich nicht, dazu dachte er zu brüderlich und hatte mich zu lieb, und für einen Schafskopf mich zu nehmen, war noch manches ihm im Wege. Nicht weil ich im Disputieren ihm nicht nachgab, er mich nie überzeugen konnte, das, sagte er, seien eigentlich nur Zeichen von Einfältigkeit, denn je dümmer ein Mensch sei, desto schwerer fasse er die Wahrheit, das Einfache, das Klare, während man ihn umso leichter überreden könnte, schwarz sei weiß, weiß sei schwarz, und der Gugger sei eigentlich der Teufel, und wer sich nicht in acht nehme, den nehme er und fresse ihn ohne Sauce. Er erfuhr im gewöhnlichen Leben mich nicht als Schafskopf, sah, wie ich Verhältnisse durchschaute, Umstände benutzte und, was ihm am meisten auffiel, Bemerkungen machte bei mir bekannten Kranken, welche ihm Fingerzeige waren zu ihrer Heilung. Er sagte oft, es sei schade um mich, daß ich nicht Arzt geworden, und wie ich Geistlicher bleiben könne bei meiner Ehrlichkeit, begreife er nicht. Teils, meinte er, würden es Jugendeindrücke sein, welche unsere fromme Mutter, deren Liebling ich gewesen, mir eingepreßt, teils aber eine unbegreifliche Standesbeschränktheit, ein unwillkürliches Gefangennehmen des Gedankens und des Nachsinnens.

Natürlich ließ ich mir diesen vornehmen Vorwurf des Beschränktseins nicht gerne gefallen, sondern bin retour gefahren und habe gemeint, ich könnte ihm noch mit mehr Recht den Vorwurf des Beschränktseins machen, ihm, der nur ein Gebiet anerkenne, in welchem er mit seinen fünf Sinnen, geführt vom Verstande, herumfahre, wo er mich an einen Jäger mahne, der mit fünf Hunden jagen geht, aber sehr oft das Gewild nicht erjage, weil dasselbe in anderes Gebiet sich flüchte, und namentlich wenn es Fecken hätte, fliegen könne und vor den schweren, vierbeinigen Hunden in luftige Regionen sich zurückziehe.

Dann warf er mir wohl vor, wir seien allerdings weder Jäger, denn wir erjagten gar nichts, noch hätten wir Hunde, denn wir besäßen kein Gebiet, auf welchem Hunde laufen könnten. Wir mahnten ihn an Stangen, die im Nebel herum führen und in diesem trüben, öden Nichts nichts erguselten, als recht eigentliche Nebelstecher. Je mehr wir predigten, desto mehr verlören wir an Bedeutung, pflegte er zu sagen. Wenn unsere Predigt was wäre, so müßten wir bereits die Welt erobert haben; nun aber hätten wir uns um die Welt gepredigt, und lange gehe es nicht, so werde man uns allenthalben als überflüssig erklären. Es sei aber auch nichts natürlicher, denn all unsere Lehrsätze mahnten ihn an Rechenpfennige, sie glänzten wohl und klängen etwas, seien aber ohne Wert beim oberflächlichsten Beschauen. Unsere Verschreibungen aufs Himmelreich seien auch nicht gewichtiger und verlören alle Tage an Kredit, und die Menschen wandelten je länger je mehr geradeso, als ob sie nicht ins Himmelreich wollten. Zeit wäre es, wir redeten verständig zu den Leuten, wie sie dieses Leben zu betrachten und zu benutzen hätten, daß es ihnen zum Vorteil sei; dann wären wir doch zu etwas nütze, betrögen Gott nicht um die Zeit und die Obrigkeit nicht ums Geld.

So redete mein Bruder, es war die Stimme der Zeit, und Pfarrer gab es, die wirklich in seinem Sinn predigten und von der Kanzel lehrten, was mit sieben Brachfeldern zu machen sei, und was besser sei, Stallfütterung oder der Weidgang, und wie man Kälber wohlfeiler mit Heublümttee als mit Milch abtränke, sintemalen die Milch die Menschen selbst gut dünke, während Heublümttee kein Hund riechen möge.

Und doch war mein Bruder selig ein Christ, wollte es aber nie glauben, ein freundliches Kindeswort trieb ihm Tränen in die Augen, aber auch jede Schlechtigkeit ganze Fuder Blitze aus seinem Munde, die Armen waren seine Kinder, und sein Leben bot er alle Tage zum Opfer; aber dabei redete er, daß man ihn für einen versteinerten Selbstsüchtling hätte halten sollen. Während er so mit allem Bestimmten und Gegebenen, mit allem Positiven in der Religion verfuhr, war er dem Bestimmten und Festen im Doktern zugetan, er war ein medizinischer Dogmatiker.

Er war ein fleißiger, gelehrter Mann; was auf dem Gebiete der Medizin errungen war, das wußte er, er kannte die Krankheitsformen, ihre Ursachen, ihre Form und Entwicklung, den Gang derselben je in den verschiedenen Körperbildungen, den hagern, den fetten, den muskulösen und nervösen, und von allen die äußerlichen Kennzeichen, er kannte Stoffe und Kräfte der Natur und wußte eine jegliche Wirkung derselben auf den menschlichen Körper in gesundem oder krankem Zustande, und wo verschiedene krankhafte Zustände in einem Körper sich vorfanden, wußte er akkurat, mit welchen Kräften man dagegen fechten, und wieviel von jedem Stoffe man für diesen Zustand und wieviel von einem andern Stoffe man für einen andern Zustand bedürfe, und wie sie zu mischen, mit welchem Mittel zu binden seien, daß sie nicht auseinander strebten oder einander widerstrebten, sondern vereint, aber jeder auf einen besondern Zustand, auf den Körper wirkten. Und punktum erklärte er, warum dieser Stoff auf diese Form so wirke, auf eine andere anders.

Und was da erkannt war, das hielt er felsenfest, das war sein Evangelium. Das gab er zu, daß das Gebiet zu erweitern, Neues zu entdecken, der Bau höher aufzuführen sei, das Genie neue Agenzien und Kräfte entdecken, das Talent Art und Weise ihres Gebrauches vervielfältigen könne. Wie oft ich ihn auch aufmerksam machte, daß die Lehrsätze und Dogmen auf seinem Gebiete nicht haltbarer mir scheinen als ihm meine auf meinem Gebiete, daß er da eine Menge Voraussetzungen mache, die keinen Grund hätten, Dinge annehme, welche noch lange nicht bewiesen seien, und Wirkungen voraussage, die selten erfolgten, öffnete ich ihm die Augen doch nicht. Er sagte, darüber hätte ich kein Urteil und für solche Dinge keinen Verstand; ich müßte noch gar viel lernen, ehe ich in die Tiefe der Wissenschaft sehen, den Umfang derselben erfassen wollte, und blieb ein wunderbar gläubiger Mediziner, trotzdem daß sein Glaube so oft auf die Probe gestellt ward und sein System ihn im Stiche ließ. Aber dann hatte er hundert Gründe, seinen Glauben zu rechtfertigen vor sich und Andern. Es war gefehlt worden in der Anwendung der Mittel oder im Gebrauch von Speisen, oder aber es hatten ihm alte Frauen u sellige Züg ins Handwerk gepfuscht. Das haßte er furchtbarlich und hatte ein instinktmäßiges Mißtrauen gegen solche Einwirkungen. Sowie er in eine Krankenstube kam, sah er in alle Winkel hinein, ob nicht ein Gütterli oder ein Papierli liege, zog auf das sorgfältigste die Stubenluft in die Nase, um zu unterscheiden, ob dieselbe nicht mit verdächtigen Gerüchen geschwängert sei. Und wo er das Geringste merkte, sagte er ihre Schuld den Leuten auf den Kopf zu, daß sie das und das brauchten, so daß die guten Menschen oft glaubten, er könne hexen, indem sie doch, da sie seine Art kannten, alles Verdächtige auf die Seite geschafft, ja manchmal sogar die Stube gelüftet hatten. Wie fein die Nase meines Bruders war, davon machte man sich keine Vorstellung; es ist aber auch kommod für einen Arzt.

Daß die Leute aber deswegen das Zwischeneindökterlen unterlassen hätten, davon war keine Rede, und keine Frau, welche er, sie ertappend mit einem Gütterli oder einem Salbli unter der Scheube, alle Schande sagte, ließ sich abhalten, noch selbigen Tages an einen andern Ort hin das gleiche Mittelchen zu schmuggeln; ihrethalbe könne er wüst tun, soviel er wolle, sagte sie, der Gring heyg er doch no niemere abgschrisse.

Oder aber er gab den Apothekern schuld, welche den Teufel im Leibe hätten, schlechte Drogen für gute zu verkaufen, oder nicht Zeit hätten, die Sache gehörig zu kochen; oder sagte, es seien da noch unbekannte Agenzien, welche, wenn sie entdeckt wären, das Ganze aufklären und alle bisherigen Voraussetzungen rechtfertigen würden; aber auf das Unbekannte habe man nicht Rücksicht nehmen können, was zwar unglückliche, aber unverschuldete Folgen gehabt. So wußte mein Bruder immer sein System zu verteidigen, sich in immer festeren Glauben an dasselbe hineinzureden, und doch war gerade das seine Qual im Leben, an welcher er auch starb, das Mißverhältnis zwischen Wissen und Können.

Unbestritten war mein Bruder der wissenschaftlichste Arzt weit umher und auch ein glücklicher Arzt, seine Praxis war noch größer als die deine, mein lieber Növö, denn damals waren noch nicht so viele Ärzte als jetzt. Und die große Praxis stumpfte seine Teilnahme nicht ab, ein gefährlich Kranker lag ihm auf der Seele, und wenn ein Vater oder eine Mutter oder ein hoffnungsvolles Kind ihm starb, so sah man ihn wochenlang nie lachen, es war, als wäre ihm selbst das Liebste gestorben, und es konnte ihn quälen bis zum Tode, ob er wohl gehörig systematisch alle Kennzeichen zusammengestellt, alle nötigen Hülfstruppen in möglichster Macht aufgeboten hätte. Nun geschah ihm doch zuweilen, daß ein Kranker, den er allerdings heilungsfähig glaubte, an dem er alle seine Kunst umsonst versuchte, weiterging und von einem andern Arzte, der meinem Bruder nicht die Schuhriemen auftat in Beziehung auf das Wissen, oder gar von einem Quacksalber geheilet wurde oder wenigstens geheilet schien. Dann allerdings geschah manchmal, daß in Bälde etwas scheinbar anderes am Kranken ausbrach und ihn hinraffte, aber das scheinbar Andere war doch nur der zersetzte und in anderer Form erscheinende alte Krankheitsstoff. Das wußte freilich die Menge nicht, sie pries nur die Heilung, den spätern Tod vernahm sie nicht oder brachte ihn in keine Verbindung mit der frühern Krankheit. Solche Fälle quälten meinen Bruder unendlich. Er hatte alle seine Kunst erschöpft, seine Mittel mit der größten Sorgfalt und Umsicht zusammengesetzt, und es war alles umsonst, es war, als ob er die Tränke einem Steine einschütte, und nun kömmt ein Anderer und heilt den Menschen fast blindlings. Manchmal meinte er, die erfolgte Heilung doch seinen frühern Mitteln zuschreiben zu können, aber die meisten Male konnte er dieses nicht, er mußte den Erfolg dem Gegner zugestehen. Das aber wurmte ihn fürchterlich, er brachte die Sache nicht aus seinem Kopfe; er durchlief die ganze Geschichte immer wieder, und immer hatte er recht, so, wie er die Sache angesehen, so war sie auch, davon blieb er überzeugt, aber heilen konnte er sie nicht, das Können war einem Andern gegeben. An dieser Mauer stand er oft monatelang und stürmte wider sie, aber sie fiel nicht um, er blieb im Dunkeln, das Warum konnte er nicht erklären; der Zufall mußte ihm endlich helfen, wenn der Eindruck zu erlöschen, der Gegenstand zu erkalten begann.

Da geschah es, daß ein Nervenfieber über unsere Gegend kam, man wußte nicht wie, nicht woher. Wenn der Föhn über die Berge kömmt und die Pflanzen versengt, so weiß man wohl, er kömmt aus dem heißen Afrika, heißt aber dort Samum. Wenn aber ein Fieber einbricht in die Menschheit, mit Feuersglut, mit Höllenangst Leib und Seele füllet, wer weist es nach, ob dasselbe als giftiger Schein vom Himmel gefahren oder ausgebrochen sei als verpestender Dunst aus der Erde tiefunterstem Grunde, wo in ihrem verborgenen Schoße gebraut werden die Geheimnisse, die nie des Menschen Auge ergründen wird, oder ob es geschlichen kam unhörbar und leise der Schlange gleich durchs glatte Gras bis an der Hütten Rand, mit einem Sprunge den erfassend, der sorglos zuerst in seine Nähe tritt, von dessen Lager dann sich schleichend an jeden, der an des Unglücklichen Lager sich wagt?

Wo so ein Fieber eingebrochen ist in des Menschen sicher geglaubte Hütten, da gestaltet dasselbe sich entweder als Schlacht, die rollend in tausend Donnern dahinbrauset, niedermähend auf ihrer Bahn zu Tausenden alle, welche auf ihrem Wege sich finden; oder zum mörderischen Gefechte, wo hier einer fällt, dort einer, immer mehrere, wo aus jedem Busche die Kugel pfeift, von jedem Hügel der Stein rollt, dann lange Strecken sicher bleiben, dann wiederum der Felsblock rollt, die Kugel saust; wohl Viele entrinnen, aber oft die am wenigsten, die am meisten sich gesichert wähnen, während der unverletzt steht, der kühn an den gefährlichsten Örtern gestanden.

Aber wo eine Schlacht donnert, ein Gefecht daherprasselt, da zaubert der Donner den Mut hervor, es rauscht das Blut in den Adern, Einer reißt den Andern mit sich, die Massen erhitzen sich, das Bewußtsein geht unter, der Tod verliert seine Schrecken, Todestrotz wird zur höchsten Lust.

Wo aber das Fieber daherschleicht, tückisch, lautlos sich in den Körper wühlt, da erfaßt ein stilles Grausen den Menschen vor dem Feinde, den niemand sieht, niemand hört, der so plötzlich, so brennend auftaucht in des Menschen Gebein. Wo er einen niedergeworfen auf sein Lager, da weilet der Feind, man sieht ihn nicht, aber man weiß es doch, weiß, daß er einem elektrischen Funken gleich von einem zum andern springt, daß er in einen Atemzug sich kleidet und das Inwendige findet, daß gegen ihn weder Wehr noch Waffen helfen, der Starke gleich dem Schwachen ist, der Mutige gleich dem Feigen.

Und doch ists gerade da, wo der Gottesfunken in des Menschen Brust am hellsten leuchtet, wo still und ungesehen ein Heldenmut sich entfaltet, den man mit Orden und Titel nicht lohnet, den aber der Vater im Himmel sieht und nicht vergißt. Ungeheißen tritt das Kind ans Lager der Eltern, stellt dem Feinde sich preis, die Gattin verläßt den Gatten nicht, der Vater wacht über seinen Kindern, ihren Dienst verwaltet die treue Magd, solange ihre Kräfte sie tragen, und wenn eins nach dem andern fällt, vom tückischen Feinde giftig erfaßt, so tritt ein ander Glied des Hauses an seine Stelle, solange noch eines ist, dessen Kräfte nicht gebunden sind in des Fiebers Schauern, im Todeskampf. Selten sind hier die Feigen, und wenn auch in dieser, in jener Brust die Angst ihre Flügel regt, es kämpft der Mensch sie nieder im Bewußtsein seiner Pflicht, im Vertrauen auf den da oben, dessen Hand auch über diesen Fiebern mächtig ist, im Glauben, daß Feigheit vor dem Tode nicht schütze, daß gar oft den Feigen auf der Flucht der Tod erreicht, der Mutige inmitten von Leichen aufrecht bleibt.

In solchen Schlachten ist der Arzt dem Feldherrn gleich, doch mit dem Unterschiede, daß er nicht von sicherm Hügel aus den Feind observieren, die Geschütze dirigieren, mit den Seinen manövrieren kann. Von Anbeginn muß er zunächst dem Feinde stehen, muß persönlich ihm in die Augen sehen, wo er sich zeigt, muß persönlich die Angriffe leiten von Lager zu Lager, muß an jeglichem helfend und tröstend stehen, muß allgegenwärtig sich machen, muß auf den Flügeln des Eifers sich vervielfältigen, muß selbst über Müde und Mattigkeit siegen, und wenn Rat und Kraft, Mut und Trost allenthalben ausgehen wollen, muß er die Quelle sein, die Andere mit neuer Ausdauer tränket. Wie der Held seine Seele Gott befiehlt und nie denkt, daß eine Kugel seinen Leib treffen könne, muß der Arzt hervorragen über alle in klarer Unerschrockenheit den Helden gleich, von denen die Sage geht, daß sie hieb- und kugelfest gewesen durch übernatürliche Kunst. Fällt er dennoch, und Helden schont der Tod nicht, so stirbt er einen Heldentod dem größten Feldherrn gleich, und wenn sein Name schon nicht glänzt auf den Blättern der Geschichte, so steht er doch verzeichnet in dem goldenen Buche, wo alle Namen stehen, deren Träger für Andere in den Tod gegangen.

Ein solcher Held war mein seliger Bruder in jenen Tagen mitten im würgenden Tode, mit einer eigentlichen Begeisterung flog er von Lager zu Lager, seine Kraft schien unerschöpflich; wenn man glaubte, hier sei er, so war er schon Stunden weit. Was ich helfen konnte, tat ich auch, und vielleicht hier zum erstenmal so recht erkannte mein seliger Bruder, daß wir nicht nur leibliche Brüder seien, sondern daß wir auch als Arzt und Pfarrer in unserem Wirken Brüder sein könnten, sollten, Brüder sein müßten. Der Tod hatte keine Macht über ihn, das Fieber floh, aufrecht stand er auf dem Schlachtfelde, aber er hatte unglücklich gekämpft, die Beute, welche er dem Feinde entrissen, war gering, groß aber die Zahl, welche ihm erlegen. Viele Väter waren gestorben, ihnen nach die Mütter, und elternlose Kinder irrten klagend herum, auf den Gräbern ihrer Kinder kinderlos weinten Mütter, seufzten Väter, und jeder Seufzer war meinem Bruder ein Dorn ins Herz, jede Träne ein glühender Tropfen auf seine Seele, jedes verwaiste Kind ein Zeuge gegen ihn vor Gott. Denn nirgends hatte das Fieber gewütet wie in seinem Bereiche, keinem Arzte waren so Viele gestorben, und namentlich hatte einer, der einfältig schien und sonst nicht im besten Rufe stand, sehr viele gerettet.

Das wars, was meinen Bruder fürchterlich ergriff. Umsonst stellte ich ihm vor, wie solche Krankheiten nie an allen Orten gleich innerlich, gleich zerstörend seien, wie oft die Lage eines Ortes oder die Zusammensetzung der Luft, welche durch dasselbe ströme, die Gewalt einer Krankheit erhöhe oder mildere. Wie auch auf keinem Schlachtfelde die Toten gleich verteilt lägen, sondern in Haufen hier, einzelne zerstreut dort, so sei es auch in solchen Krankheiten: während oft ganze Dörfer verwüstet würden, blieben andere fast unberührt. Freilich wüßte man auf einem Schlachtfelde wohl, daß die Haufen niedergeworfen worden seien durch die Kugeln einer Batterie oder durch die Säbel der Kavallerie, in einer Krankheit lägen die Ursachen verborgener, und hie und da möge wohl ein Böswilliger die Ursache in einem Arzte suchen. Aber jedenfalls geschehe dieses von der Menge im allgemeinen nie, die Menge sage namentlich bei solchen Krankheiten sehr selten: ‹Der oder jener Doktor ist geschickt oder ungeschickt in Behandlung der Krankheiten gewesen›, sondern: ‹Der ist bsungerbar gfellig zu der Krankheit, jener aber bsungerbar ungfellig›; sie suchen also den Grund, daß einer mehr geheilt als der andere, weder in der größern Kunst noch im bessern Fleiß oder Willen, sondern höher, und dieser Fingerzeig der Menge nach etwas Höherem sollte den Ärzten ebenfalls ein Fingerzeig sein. Namentlich bei ihm werde kein Mensch die Ursache in Mangel an Wissen oder Willen suchen, sondern es werde bloß heißen, zu der Krankheit sei er bsungerbar ungfellig gsi.

Aber das war gerade der wunde Fleck, der in immer verzehrenderem Feuer brannte in seiner Seele. Kam es da auf das Gfell und Ungfell an, gelang blindem Tappen, was vollendetes Wissen nicht vermochte, stunden sie da als willenlose Werkzeuge einer Macht, welcher er längst alles Einwirken in menschliche Verhältnisse abgesprochen hatte? Sein Wissen war gleichsam sein Gott gewesen, seine Kunst seine Religion, mit welcher er seinem Gotte diente, und zwar in seltener Treue. War sein Gott ein Phantom, seine Kunst eine Täuschung? Sein Glaube war erschüttert, und mit seinem Glauben erlosch sein Lebensmut. Nicht gekränkte Eitelkeit war es, der Ärger, daß einer mehr geheilt als er, besonders vom Volke gepriesen ward, was den starken Mann zusammenbrechen ließ einem dürren Zweige der Eiche gleich; es war das Gefühl, welches den erfaßt, der sich von Gott verlassen glaubt für immer.

Mit der ganzen Innigkeit seines Wesens hatte er in seinem Wissen gelebt, ihm sein Leben geweiht, dessen Ausübung seine Lebenszeit, und dieses Wissen verriet ihn in seinem wichtigsten Lebensmoment, in welchem Männer zu Helden werden, und seine Kunst war eine machtlose, eitle! Er war einem Kinde gleich, das mit hölzernem Schwerte die Welt bezwingen will. Er versuchte alles, seinen Gott zu rechtfertigen; er vermochte es nicht. Er ging unzähligemal seine Heilungsweise durch, stellte ebenso oft alle Krankheitszeichen zusammen, er konnte keinen Irrtum finden, nach Regel und Kunst hatte er gehandelt. Er erforschte, was jener Arzt gegeben; das Sinnlose in dessen Mitteln konnte er nicht begreifen, und doch hatten sie geheilt. Da zerrann ihm sein Wissen einem Nebelbilde gleich, und vor der Ausübung seiner Kunst schauderte er zusammen, wie die ersten Christen geschaudert haben mögen vor den Opfermahlzeiten, an welchen sie kurz vorher noch teilgenommen, vor einem Götzenbilde, zu dessen Füßen sie erst noch gekniet.

Trostlos sank er in sich zusammen und richtete sich nicht mehr auf; vergebens versuchte ich, den Arzt zu machen. Ich stellte ihm vor, sein Übel sei ein körperliches, er wisse ja selbst am besten, daß der ungeheuren Anstrengung Abspannung folgen müsse, und mit der Müdigkeit des Körpers stelle sich ja immer eine gewisse Mutlosigkeit ein, und aus dem müden Körper schaue ein trübes Auge in die Welt hinaus und sehe alles trübe im hellsten Sonnenschein. Im Maße als er sich erhole, würde eine andere Anschauung sich ihm von selbst bilden, und wie in den Körper die Kraft wieder komme, werde auch in die Seele der Mut wiederkehren. Ich bat ihn, den Körper zu stärken, die Seele abzuziehen von den Trümmern seiner zerrütteten Welt, in die sie immerfort ihre Blicke heftete. Ich wollte mit ihm fortreisen, wohin er wollte; aber er wollte nicht, zu allem schüttelte er traurig das Haupt, und wenn ihm deine Mutter die Kinder brachte und ihn innigst bat, um ihretwillen sich doch zu erhalten, so wurde ihm wohl das Auge naß, aber in wehmütigem Lächeln schüttelte er das Haupt. ‹Ihr guten Leute›, sagte er, ‹plagt mich nicht, mir hilft nichts mehr, ums Herz bin ich krank.› So sank er sichtlich zusammen und war auf keine Weise aufzurichten. Leute von allen Seiten kamen, baten, rühmten, weinten bei dem geliebten Doktor, aber es half alles nicht, sie ermutigten ihn nicht, bitter lächelte er zu Lob und Preis. Eines Morgens lag er tot im Bette; auf seinem Herzen lagen seine Hände, als ob er hätte dessen Brechen fühlen wollen, aber auf seinem Gesichte weilte ein heiteres Lächeln, es war, als ob in seine Dunkelheit neues Licht gebrochen wäre.»

Die Erinnerung überwältigte den alten Herrn, es ging eine Weile, ehe er wieder fortfuhr, und niemand mahnte ihn, es war, als wenn alle lauschten, ob nicht ein Engel durch die Stube rausche.

«Das war das Leben und das Ende deines Vaters, lieber Rudi», sagte er endlich, «und darum tauchte beides so hell wieder auf, weil du dem Toten riefest in deiner geistigen und körperlichen Ähnlichkeit mit dem Vater, nur daß du noch in den Zweifeln der Jugend dich herumtreibst, daß du das Heil nicht in die bisherige Wissenschaft setzest, sondern in die, welche aus dir hervorgehen werde, wie du meinst. Du hältst wie er deinen Beruf für den höchsten, siehst auf die andern vornehm herab, wie ihr dann wiederum von den Juristen, den Usurpatoren des Staates, weidlich verachtet und kujoniert werdet; in der Ausübung deiner Kunst aber bist du nicht Dogmatiker wie er, du traust weit mehr dir selbst als dem System und näherst dich darin auffallend den Sektierern, welche das Heil auch nicht im Buchstaben suchen, sondern in dem ihnen, wie sie meinen, inwohnenden Geiste.»

«Aber Onkel, ist das nicht recht? Heißt es ja nicht, der Buchstabe töte, der Geist sei es, der lebendig mache? Ich kann nichts mehr hassen als diese Systeme aller Art, wo, was einer einmal gekaut hat, alle andern nachkauen sollen in alle Ewigkeit, sie mahnen mich an die Exerzierreglemente, wo, wenn der gestrenge Lieutenant befiehlt: ‹Schultert!› alle schultern, und wenn er sagt: ‹Setzt ab!› alle absetzen, wenn es sie schon dünkt, schießen wäre besser. Und warum sind wir gleich ausgerüstet wie unsere Voreltern auf die Welt gekommen, wenn wir nur brauchen sollen, was sie erfunden, nur trappen sollen, wie sie getrappet?»

«So seid ihr Jungen», sagte der Alte, «immer Kübel und Kind zusammen. Es ist kein Junger, der sich nicht freut, wenn er was erben kann, und ich habe noch von keinem gehört, der so stolz und hoffärtig gewesen sei, das Erbe seines Vaters wegzuwerfen, weil er es für eine Schande halte, Erworbenes von Andern anzunehmen, da jeder ja Kräfte zum eigenen Erwerb hätte; jeder erbt und zwar je mehr je lieber, und je mehr einer erbt, desto weniger geben die Meisten davon ab. Aber eine andere Erbschaft will die Jugend und namentlich die heutige verleugnen und kann sie doch bei keinem Schritt und Tritt entbehren. Auf den Erfahrungen und Erfindungen der frühern Geschlechter steht das gegenwärtige Geschlecht, so wie aus den Anschwemmungen vergangener Zeiten die jetzige Pflanzenwelt sich erhebt, und umso üppiger, je reicher die frühern Anschwemmungen waren.

Jede Bequemlichkeit im Leben haben wir den Alten zu verdanken, die Gabel, mit welcher wir essen, die Erdäpfelrösti, welche wir essen, und gar manches Genie, welches hochmütig alles verachtet, müßte mit Nebukadnezar Gras fressen, welches derselbe mit langen Nägeln ausraufte, wenn er nichts essen sollte, als was er selbst erfunden. Nun gibt es durch Gottes Ordnung immer Leute, welche mit dem, was ersonnen, erfunden worden, sich bekannt machen, dasselbe zusammenlesen, zusammenstellen und andern Menschen zum Gebrauch es anbieten, und viele, welche weder Zeit noch Kräfte zum Selbstsammeln haben, sind froh, so was fix und fertig zu finden; solche Zusammenstellungen nennt man im Gebiete der Wissenschaft System.

Wenn Genies Neues erfinden, so entstehen neue Systeme; das Neue besteht nur in einigen Geistesblitzen, und was die neu zeigen, ist meist so einfach und simpel, daß man gerade bei diesen Blitzen die Beschränktheit der Menschen nicht sattsam anstaunen kann, denn das Neue ist eben so simpel, daß man sich nicht sattsam wundern kann, daß daselbe nicht vor hundert Jahren jedem Stüdi eingefallen, und doch gehts wieder hundert Jahre, bis die Mehrzahl von der neuen Wahrheit was wissen, und noch die halben Ratsherren glauben nicht daran. Um dieses Neue bleibt aber das meiste Alte, nur daß man es anders ordnet, was oben war, muß nun unten stehen.

Siehe, das ist gerade so, wie wenn eine junge Frau bei einem Witwer einzieht und ein neues Möbel mitbringt. Das neue muß in den Salon, das alte wird anders rangiert, und einiges kömmt auf den Estrich. Hat man aber Geduld, es hundert Jahre droben zu lassen, so holt man es im Triumph wieder runter und hält es zehnmal teurer als das schönste Neue; so zum Beispiel: was gelten jetzt die alten Nachtstühle, welche zu Ludwig des Fünfzehnten Zeiten ins Grümpelgemach gestellt worden? Nun gibt es auch Frauen, die, wenn auch nichts Neues zum Alten kömmt, doch alle Jahre das Alte rumzügeln und immer am Rangieren sind, so daß man, wenn man zu ihnen kömmt, nie weiß, wo man ist; bei solchen tusigs Fägnesteten ist aber ein unheimlich Sein. Aber das Alte macht in den meisten Haushaltungen und Systemen immer die Hauptsache aus, wenns schon manchmal der Hausherr nicht meint, weil er neu firnisierte Sachen für nagelneu nimmt.

Aus diesen alten Schränken, den Systemen, stammt all dein Wissen her, dessen täusche dich nicht; aber keins dieser Systeme ist dein System, während hingegen Viele es gibt, die das System, welches sie in ihren Heften abgefaßt haben, behalten ihr Leben lang und nichts dazu-, davontun und sich nicht träumen lassen, daß jedes System einen Viertel Spreu und einen Viertel Staub enthält, daß die Zeit aus ihrem System Spreu und Staub beträchtlich ausgesiebt, mit dem alten Staub und Spreu doktern sie glücklich fort bis an ihr Ende. Über diesen beschränkten Orthodoxen stund dein Vater unendlich hoch, denn er baute fort an dem System, er hielt es wohl für fest begründet, aber in Weite und Höhe nicht für ausgebaut.

Du hast auch ein System, nämlich alles für gering und unbedeutend zu achten, was du erlernt hast, und für die Hauptsache dich, deinen Blick, deinen Witz, das heißt die glückliche Zusammenstellung, dein Urteil, dein Geschick, den Geist, aber deinen Geist. Du machst dich selbst zu deinem Gotte, aber auch dein Gott ist ein ohnmächtiger Gott, und in der höchsten Not wirst du ihn missen, und gebe Gott, daß es dir nicht wie deinem Vater geht, daß du an dir selbst verzweifeln mußt wie er an seinem Wissen, denn dein Weg ist noch viel der gefährlichere als sein Weg war.

Dir selbst traust du alles zu, deinem Geiste, deinem Blicke, deiner Hand, sie erkennen das Rechte, sie wählen das Rechte, führen es aus auf die rechte Weise; wenn du fehlst, so schreibst du die Schuld nicht dem Mittel zu, sondern dir, der du nicht das Rechte gewählt, es nicht recht angewendet, du hast gefehlt und nicht die Wissenschaft, nicht das Mittel. Jung und kräftig, wie du jetzt bist, scheint dir das ein Geringes; aber so geht es nicht immer, und eben auch wieder bei deiner Innigkeit werden Fälle kommen, wo es dir schwarz vor den Augen werden wird, wo du wünschen wirst, es öffnete sich die Erde und verschlänge dich.

Sieh, es handelt sich hier um Menschenleben; ist eines dahin, so ists nicht wiederzugeben. Sterben die Leute, wo es so recht übel geht, und du hörst, daß man sagt, du hättest unrecht sie behandelt, oder bei einem Sterbet bist du ungfellig, während ein Anderer Viele rettet, wessen ist die Schuld als die deine, der du fehlgegriffen, falsch gesehen? Da kannst du mit nichts dich trösten. Sieh, das wird dir zu Gemüte wachsen, deine Schuld, deine Beschränktheit wird dir sichtbarer werden alle Tage, und was dann als Arzt, als Mensch aus dir werden wird, weiß Gott. Denn es ist fürchterlich, wenn man sich einbildet, Leben und Tod habe man in der Hand, und während man Leben spenden will, kömmt der Tod heraus.

Und was du dir selbst sagst, das verschärfen dir noch die Menschen. Die Menschen ordinäri Schlages wissen natürlich nichts von Standpunkten und Systemen, aber in ihren Ausdrücken unterscheiden sie doch merkwürdig. Von den Einen sagen sie, er sei nicht gfellig zu diesem oder jenem, daneben meinte er es gut, und wenn er einem helfen könnte, so täte er es und vergönnte es einem nicht, wie es dere Schießhüng gäb. Von Andern sagen sie, er könnte es, wenn er wollte, er sage es ja selbst, aber er begehre einen nicht gesund zu machen, sondern einen desumezschleipfe, und je länger es gehe, dest astänger sei es ihm, von wegen dest mehr Züg könne er brauchen. Von dem aber, der nicht gfellig ist, und von dem, der es nicht gönnt, wenden sie sich gerne zu denen, die höher stehen als beide, deren Heilung weder in ihrem Gfell noch in ihrem Willen liegt, sondern in einer höhern Hand, unter welche doch am Ende der Mensch am meisten Zutrauen hat, am liebsten sich beugt, wie ja auch David lieber fallen wollte in Gottes Hand als in die Hände der Menschen, und je tiefer der Mensch in der Drangsal ist, desto dringlicher preßt sich ihm diese Ansicht auf, daß nur in einer Hand das Vollbringen liege, daß diese Hand ihre Werkzeuge wähle, und daß diese Werkzeuge allein Hingebung und vollen Glauben verdienten.»

«Aber Onkel», sagte der Doktor, «Ihr kömmt da auf ein Feld, auf dem ich Euch zu finden nie erwartet hatte; seid Ihr noch im Aberglauben befangen, und wollt Ihr uns zu Marktschreiern machen, sollen wir den Theophrastus Bombastus Paracelsus nachahmen?»

«Eben das meine ich nicht», sagte der Onkel, «aber den rechten Namen hast du mir genannt, an welchem ich dir begreiflich machen kann, was ich meine.

Dieser Paracelsus, möglicherweise ein Unterwaldner und geboren im Jahre 1493, machte gewaltiges Aufsehen in der Welt, und seinen Namen brannte er in die Geschichte ein. Er polterte gewaltig gegen alles bisherige Wissen, und sein Wissen bestund doch auch nur aus dem Wissen der damaligen Zeit, aber durchleuchtet mit einigen eigenen Geistesblitzen. Er dachte sich alle Heilmittel zusammengesetzt aus zweierlei, aus Stoff der Erde, und in dem Stoff eine Tugend, Kraft, Seele möchte man fast sagen, welche letztere nicht erschaffen, sondern von Gott ausgeflossen sei, mit der Pflanze zum Beispiel nicht zerfalle, sondern zu Gott zurückkehre, also mit den Sinnen nie wahrgenommen werden könne. Obgleich er diese Kräfte als von Gott ausgeflossen annahm, so konnte sich derselben doch bemächtigen, wer es verstund, und sie zu seinen Dienern machen nach seinem Willen, so daß wiederum Leben und Tod gleichsam von ihm abhing, die Brücke zwischen ihm und Gott abgebrochen war. Er, gleichsam Herr dieser Geister in den Elementen, möchte fast zu zählen sein zu den alten Zauberern, eine Art von heidnischen Priestern, obgleich diese weniger schwatzten, er rühmte sich auch eines Lebenselixiers, wahrscheinlich zusammengesetzt aus Schwefel, Salz und Quecksilber, starb aber eben diesem Elixier zu Trotz, ehe denn er fünfzig Jahre alt war. Sein Leben, stand also in einer andern Hand als in seiner Hand, so wie überhaupt kein Leben steht in eines Menschen Hand, weder in seinem Wissen noch in seiner Kunst. Der Arzt hat es mit seinem Walten nicht anders als der Landmann mit seiner Saat, der Hausvater mit seinem Haushalt, der Pfarrer mit seinem Wort; es ist alles, alles eitel, wenn Gott nicht Leben und Segen gibt.

Der Landmann säet seinen Samen aus, denkt aber gewöhnlich nicht daran, daß er seinen Samen von Gott hat, daß er mit aller Kunst und Macht, und wenn man ihm auch alle Stoffe der Erde zur Stelle schafft, kein einzig Samkörnlein, und wärs auch der geringsten eins, machen kann. Und wenn er auch eines zustande brächte, dem natürlichen täuschend ähnlich, eines fehlte immer, Leben hätte es nicht, wachsen täte es nicht. Aber zwischen dem verschiedenen Samen hat er die Auswahl, und nach dem Systeme, nach welchem er will, und nach dem eigenen Sinn, wenn er will, kann er den Acker pflügen, auf ihm hantieren, wenig oder viel säen, tief oder flüchtig eggen, alles nach System oder Gutdünken. Je nach seinem Geschick und Fleiß gerät es zuweilen, und der Fleißige erntet nach Fleiß und Geschick, und wenn dies einige Male geschieht in geregeltem Gange, so kömmt gerne der Übermut, und es stellt der Mann in seine Kräfte jeglichen Erfolg, macht von seinem Willen abhängig den Ertrag. Aber dann kömmts wieder anders, und was gut geraten war, will nicht mehr geraten, gewinnt kein Leben mehr, tot bleibt der Same, öde steht der Acker, die lebenspendende Hand bleibt geschlossen.

Da beginnt der Mensch wieder zu fühlen, wer das Gedeihen gibt; denn wie er auch nach dem Himmel sieht, es regt keine Wolke sich, es kömmt auf sein Geheiß weder ein Sonnenstrahl noch ein Regentropfen, in kein Samkorn tritt das Leben, er kann bschütten, mästen, kratzen, decken, es hilft ihm all, all nicht – er steht an den Märchen seines Vermögens. Da beginnen die Katholiken ihre Prozessionen, die nichts sind als eine öffentliche Demütigung vor dem Allmächtigen, als ein tatsächlich Bekenntnis, daß wir nichts wären ohne ihn, als eine gemeinsame Bitte, daß er doch öffnen möchte seine Hand, damit die Geschöpfe ihre Speise erhielten zu ihrer Zeit. Bei uns bittet der fromme Landmann in seinem Kämmerlein, daß der, welcher die jungen Raben am Bache speiset, seiner Kinder nicht vergessen möchte. Und wo das Gebet ein inniges ist, da kömmt ein still, fromm Warten über den Beter, wo er in Geduld und Demut des Herrn Tun gewärtigt, während der, der nicht zum Herrn sich zu wenden weiß, in solcher Drangsal sich gebärdet fast einem Pferde gleich, welches gebunden an einem Pfahle steht, während hinter ihm drein das Feuer braust.

Wie manchen Hausvater sieht man hasten und jagen früh und spät, und es gelingt ihm nichts, und was seine Hände berühren, ist als wäre es mit Fluch geschlagen, als wäre es ein Dolch, der seine Spitze immer gegen seinen Träger kehrt; sein Acker wird immer magerer, sein Stall verschlingt sein Geld, über den Seinen lastet Unfriede oder Krankheit, und je mehr er jammert, umso weniger nützt es, und je mehr er zuspricht, umso verstockter werden seine Leute. Kein Mensch kann erklären, deutlich machen, was da fehlt, wie da zu helfen wäre, denn es fehlet da das Unnennbare, Wunderbare, das nur einer kennt, nur einer gibt, es fehlet da der Segen von oben, das Gedeihen aus Gottes Hand.

Dem Säemann gleich, der irdischen Samen säet, ist der Säemann auf dem großen unsichtbaren Weltenacker, der zusammengesetzt ist aus den Herzen der Menschen, auf welchen geistiger Same gesäet werden soll, und auf welchem die Schätze wachsen sollen aus dem Samen empor, welcher hinaufreichen soll unverwelklich und unverweslich ins ewige Leben.

Sieh, auch wir machen den Samen nicht selbst, er kömmt auch uns aus Gottes Hand wie dem Landmann Korn oder Roggen oder der andern Körner eines. Wir haben die Äcker zu bebauen, die Körner nach der Äcker Beschaffenheit auszuwählen, aber Leben zu geben einem derselben in den Herzen der Menschen, ja eines derselben lebendig zu machen in dem eigenen Herzen, das vermögen wir wieder nicht, das muß Gott tun, der Geist des Herrn, der im Anfang über den Wassern schwebte, der durch den Acker fährt, der ists, der unsere Herzen befruchtet, unserer Schwachheit aufhilft, dem Worte Leben und Gedeihen gibt.

Oh, es gibt fürchterlich trockne Zeiten, wo kein Samkorn wachsen zu wollen scheint, Stürme und Regengüsse, die alle Mühe zu zernichten, den Säemann vom Acker zu treiben scheinen, wo er, wenn er bloß nach menschlichem Ermessen urteilen wollte, sein Amt für eitel halten, Mut und Glaube verlieren, an Gott und an sich irre werden müßte. Hundert- und aber hundertmal geht es ihm, wie es dem Herrn zu Corazin und Bethsaida ergangen: von seinem Worte sieht er keine Frucht. Und das fühlt er noch inniger und klarer, wenn er mit dem Worte des Heils zu kranken Seelen tritt, sie heilen will. Wie sorgsam man die Krankheit erforschen, die Stunde wählen, den Samen prüfen mag, nur die Aussaat hat man in seiner Hand; ob das Wort Leben gewinnen oder tot bleiben, heilen oder noch kränker machen wird, das wissen wir nicht; dem Vollbringen des Herrn müssen wir uns unterziehen, sein ist und bleibt das Gedeihen und die Art desselben. Denn da innen in uns ist es wunderbar, und des aufgeblasenen Menschen Wissen reicht nicht zur Quelle seines innern Lebens, und der Mensch, der Herr der Elemente, der das Feuer in Zügel faßt und die Gewässer bändigt, ist ohne die Gnade des Herrn ohnmächtig im eigenen Herzen.

Wie man aber von der Seele des Menschen nicht sagen kann: ‹Siehe, hier ist sie!› oder: ‹Siehe, da ist sie!› sondern wie sie allenthalben ist in ihrer kleinen Welt, dem Leibe, so verschwimmen geistliche und leibliche Zustände ineinander. Mit all deinem Wissen vermagst du mir die Marchen nicht zu ziehen zwischen beiden, nicht zu sagen: ‹Hier hören die einen auf, und bis hieher gehen die andern›, und du mit all deiner Kunst hast keine einzige Heilung in deiner Gewalt. Sieh, da drinnen ist es wunderbar, das fühlet deine Seele wohl. Du meinst, du glaubst, du hoffest, aber wie oft war deine Meinung irrig, dein Glaube eitel, dein Hoffen torrecht!

Geschah es dir nicht schon, daß du eine einfältige Wunde nicht zu heilen vermochtest, daß aus unbedeutend scheinendem Geschwür der Tod erwuchs, daß ein Mensch dir gerettet schien und sein Leben erlosch, du wußtest nicht wie und warum, oder daß du ein Leben aufgäbest als unrettbar, und es glomm wieder auf, und du konntest wiederum nicht sagen warum und wie, und wenn du auch Laien Gründe angäbest, du glaubtest doch selbst nicht daran? Da innen waltet auch dem Arzte gegenüber ein Höherer, ihm gehört das Vollbringen, er gibt dem Willen des Arztes den Segen und das Vollbringen, in des Arztes Kraft und Kunst liegt es nicht. Es ist Gott und nicht der Arzt der Herr des Lebens und des Todes. Kann doch ja auch der Arzt ebenso wenig als der Landmann ein Samenkörnlein machen, irgendeinen Stoff schaffen, den er zur Heilung braucht. Er kann entbinden und binden, zersetzen und zusammensetzen, läutern und verdichten, schwächen oder potenzieren, aber schaffen kann er nicht, schaffen kann nur Einer.

So stehen beide, der Arzt und der Pfarrer, als Hüter und Wärter an einem Heiligtume, in dessen Allerheiligstes ihre Augen nicht schauen, sie sind Verwalter der Geheimnisse Gottes, und die Geheimnisse ergründen sie doch nicht. Sie gleichen Webern, die weben mit fleißiger, sorgsamer Hand, sie müssen achtsam sein und rührig, müssen fest Faden an Faden schlagen, aber was sie weben, wissen sie mit Bestimmtheit nicht, das Eingericht hat eine höhere Hand gemacht.

Sieh nun, lieber Rudi, so ists, darum hast du mir den Paracelsus unrichtig angeführt; denn so, wie er es meint, meinte ich es nicht. Ich halte dafür, die Macht liege in Gottes Hand, er aber meinte, die Macht sei von Gott ausgeflossen in die Stoffe der Erde, und wer es verstehe, könne dieser Mächte sich bemächtigen, sie anwenden nach seinem Willen, könne ein Lebenselixier machen, einen Stein der Weisen und somit unabhängig von Gott Herr des Lebens und des Wissens werden. Du aber meinst es auch nicht wie Paracelsus, du machst es noch kürzer und meinst, die Macht und die Kraft liege in dir, und alles erhalte erst Bedeutung und Wirkung durch deine Kunst und Anwendung; das ists, was ich meinte, als ich sagte, du machest dich selbst zu Gott.»

«Ja, lieber Onkel», sagte der Doktor, «so seht ihr Herrn es an, und wenn ich auch zugebe, daß am Ende alles auf Gott hinausläuft, so sehe ich doch nicht ein, warum ich ihn in besondere Beziehung zu meinem Beruf setzen soll, und was dabei herauskäme; ich mache, was mir möglich, und damit Punktum!»

«Eben da ist kein Punktum, lieber Rudi, wenigstens für dich nicht. Ja, wärest du ein Lohndiener, dessen Sinn nicht übers tägliche Brot geht und die nötige Quantität Wein dazu, so könntest du gewissermaßen wenigstens in Beziehung auf dich Punktum sagen. Du würdest doktern, was das Zeug hielte, der Erfolg dir so ziemlich gleichgültig sein, und bei jedem Sterbefall würdest du dich trösten, einmal müsse es doch gestorben sein, und wenn niemand mehr sterben würde, so hätte man ja zuletzt keinen Platz mehr auf der Welt. Zudem würdest du nie schuld sein wollen an eines Menschen Tod. Du aber hast, wie gesagt, es anders. Die Teilnahme am Menschen selbst und das Leben in deiner Kunst werden dir ihre Grenzen immer fühlbarer machen, immer peinlicher, deine Selbstanklagen werden immer häufiger werden, Beruf und Leben dir immer mehr erleiden.

Beugst du dich aber demütig unter die höhere Macht, erkennst ihr Wirken über deinem, fassest so recht die Grenzen des menschlichen Wissens und Könnens, so fallen die Selbstpeinigungen über Dinge, welche nicht in deiner Gewalt standen, weg. Dann begreifst du so recht und kannst auf dich anwenden, was Paulus sagt: ‹Dafür halte uns jedermann, daß wir seien Haushalter über die Geheimnisse Gottes.›

Nun aber erfordert man nicht mehr an den Haushaltern, denn daß einer getreu erfunden werde. Mir aber ists ein gar Geringes, daß ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Tage. Auch richte ich mich Selbsten nicht. Ich bin mir zwar nichts bewußt; aber dadurch bin ich nicht gerecht gesprochen. Der Herr ists aber, der mich richtet. Es wird dir sein, als schiene immer die Sonne über deinem Leben. Bedenke, wie dunkel ein Leben wird, wenn der trübselige Mensch seine eigene Sonne sein will!

Dann möchte ich auf eines noch dich führen; bedenke es, du kannst es. Du bist so mitleidig mit deinen Kranken, verstehst so gut ihre Schmerzen, ja es ist oft, als wenn du sie teiltest, und siehst du nicht, wie das deinen Kranken so wohltut, wie sie an dir hängen? Um deswillen versuche noch eines, setze deine Seele am Platze von ihren Seelen und lausche dann, was in diesen Seelen vorgeht! Stelle dir vor, du wärest ein Vater, Kinder wollten von dir erzogen sein, eine Mutter, deren Herz in ihren Kindern schlägt, ein Mädchen, dem das Leben so freundlich lächelte, wenn es gesund wäre; aber krank wärest du, deine Kräfte schwänden, dein Körper fiele zusammen, und du zögest von Arzt zu Arzt, und einer sagte dir dies, ein anderer ein anderes, einer wollte dir über kurzem helfen, ein anderer über langem, ein jeder zuckte die Achsel über die andern, und bei jedem wiederholte sich die gleiche Täuschung, und bei jedem erführest du es deutlicher, daß des Menschen Wissen Stückwerk ist und seine Kunst ihre engen Schranken hat, während die Angst ums Leben wächst, weil in keines Menschen Hand deine Rettung liegt.

Sieh, da würde es dir gehen wie dem Landmann, dem Regen seine Saaten fault oder Trockenheit sie aufzehrt, deine Augen würden die Hand suchen, aus der die milden Gaben kommen, um sie würden bebend deine Lippen beten, es würde dir alles beifallen, was zwischen dir und Gott wäre, dein Leben würde vor dir sich aufrollen, sein Menschliches würde dich plagen, die Vergangenheit wie ein Alp dich drücken; sühnen möchtest du dich, versöhnen den beleidigten Gott, damit er deine Gebete erhöre, Heilung dir gewähre. Hier ists, wo der Seelsorger an der Seite des Arztes stehen, sorgen muß, daß die Angst der Seele nicht in die Leiden des Leibes hineinwächst, sie unheilbar macht, hier ists, wo dafür gesorgt werden muß durch den Arzt selbst, daß der Kranke die Hülfe Gottes durch Vermittlung des Arztes erwarten darf, sie nicht bei Quacksalbern suchen müsse, weil er dieselben Gott näher glaubt.

Im Glauben der Menschheit liegt es gegründet, daß Gott Mittler wähle zwischen sich und den Menschen, Männer Gottes, welche von Gott selbst empfingen Wissen und Kunst, den Geist zu dem, zu welchem Gott sie berufen und bestellt, die Kraft zum Vollbringen seines Willens. Zu solchen Männern wählte er die, welche unter den Menschen ihm am nächsten stunden, die Hochherzigsten, Hochgemutesten, Hochbegabtesten, Reinsten und Besten; denn sie waren Stellvertreter der Gottheit, in ihnen war dieselbe verehret.

Wie aus der Quelle das Wasser sprudelt, durch eigentümliche Kraft getrieben, so flössen aus ihnen die Gnadengaben Gottes in Worten und Werken, Heilungen des Leibes und der Seele. Wenn die Juden meinten, Jesus rede als einer, der die Kraft habe, und nicht als ein Schriftgelehrter, so meinten sie eben nur, seine Worte flössen aus göttlicher Quelle und seien nicht mühsam mit menschlichen Kräften zusammengelesen und ohne göttliche Salbung; wenn Paulus sagt, der Buchstabe töte, der Geist sei es, der lebendig mache, weiset er eben wieder darauf zurück, daß alles auf Erden tot sei, auch der Buchstabe, auch das Wort, wenn Gott es nicht lebendig mache durch seinen Geist.

Auf dieser Vorstellung beruht die ganze Heiligenverehrung der Katholiken, und auf der Annahme, daß auch der Teufel ähnliche Werkzeuge wählen, mit besondern Kräften sie ausstatten könne, der Glaube an Hexen und Hexenmeister. Wunderbar haben sich diese Vorstellungen untereinander gemischt; weil man ihren Ursprung nicht mehr kennt, so findet man die Bruchstücke auf die seltsamste Art nebeneinander. Aber eine Vorstellung ist geblieben, die nämlich, daß die Austeilung der höchsten Gaben von Gott käme, freilich durch Menschen vermittelt, aber durch die reinsten und frömmsten. Darum fordert das Volk von seinem Geistlichen mit Recht zwei Dinge: erstens einen reinen Wandel, zweitens die Worte unmittelbar aus dem Geiste und nicht vom Papier; darum erklären aber mit hohem Unrecht die Neutäufer zum Beispiel unsere Taufe, das Pfand der Versöhnung und das Zeichen der Reinigung, für ganz wirkungslos, weil der Geistliche Teilnehmer der Sünden des Volkes sei, das ohne Zucht zum Nachtmahl komme, also kein Vermittler, kein Rüstzeug Gottes sein könne; darum heben sie sich so hoch, weil sie nichts wüßten auf menschliche Weise, sondern alles durch den Geist.

Diese Vorstellungen beherrschen aber auch den Kranken mehr und mehr, je bänger ihm um sein Leben ist, je öfter er die Unzulänglichkeit menschlichen Wissens und menschlicher Kunst erfahren hat. Wenn der Arzt an seinem Bette sich selbst erhebt, leichtfertig redet, Späße treibt, so wird es dem Kranken ordentlich angst dabei, es ist ihm, als wehe der Arzt den Segen von seinem Bette weg, als stehe Gott unter solchen Reden nicht hülfreich bei. Und wenn der Arzt dazu roh ist oder sinnlich, es bekannt ist, daß er nur an sich oder sein Wissen glaubt, ja daß er mit diesem Glauben vielleicht noch prahlet, so bildet sich im Kranken nur zu leicht der Glaube, durch ein solches Werkzeug wirke Gott nicht, die Heilung könne durch einen solchen ihm nicht kommen, die müsse durch ein anderes, Gott näher stehendes Werkzeug verrichtet werden.

Solche Werkzeuge stehen nun in den Quacksalbern in Menge da und harren auf die, welche von euch weg fliehen, wie Adler auf das Aas. Alle oder wenigstens die meisten derselben nehmen bewußter oder unbewußter eine gewisse Unmittelbarkeit in Anspruch, stellen sich dar nicht als Schriftgelehrte, sondern als solche, welche die Kraft hätten. Die einen nehmen, freilich ohne daß sie es wissen, mehr etwas Hexenartiges an, während andere mehr mit dem Heiligenschein sich brüsten. Der Doktor im Emdtal bei Frutigen, welcher den Weibern die Hände auf die Brust legte, mit ihnen betete und mit der Fernröhre nach dem Glauben der Leute sich umschaute, spielte den Heiligen. Er fand auch den merkwürdigsten Glauben selbst unter der hochgebildeten Klasse. Weiber hochgestellter Beamteten, Zweispänner aus Zürich und Basel suchten bei ihm Hülfe.

Ja, wenn der Mensch hülfsbedürftig wird, wenn er den Wurm in sich fühlt, der am Leben nagt, dann wird er kleinmütig aller Bildung zum Trotz, dann steht er armselig da dem Ärmsten gleich und sucht mit der größten Ängstlichkeit am gleichen Orte Hülfe, wo der Ärmste. Jener aber, der den Geist in einer weißen Flasche um Rat fragt, der nähert sich mehr dem Zauberer, dem Hexentum, findet aber auch großen Zulauf und ebenfalls von Leuten, von welchen man es nicht glauben sollte.

Aber was ist der Mensch! Die einen operieren durch Mittel, welche keinen äußern Zusammenhang mit der Krankheit zu haben scheinen, aber eine geheime, wunderbare Sympathie oder Antipathie, andere durch wirkliche Arzneimittel, deren Zusammenhang mit der Krankheit sie aber auch nicht kennen, nicht erklären, aber sie erklären es für gut in diesem Fall oder für jenes; sie nehmen eine besondere Kraft und Tugend in ihm an, aber sie wüßten nicht zu sagen, worin sie besteht. Daher untersuchen sie die Kranken nicht näher, sie rüsten das Mittel nicht besonders, sie individualisieren nicht, Mittel ist ihnen Mittel, sie teilen es aus aus höherem Auftrage, und Gottes ist die Wirkung. Und wirkt es nicht, so hat Gott es nicht gewollt; der Quacksalber meinte es gut, und das Mittel war gut, aber dem Herrn war das Wirken vorbehalten. So ist es gegangen bis dahin, und so wird es immer ärger werden, wenn ihr die Gefahr nicht zur rechten Zeit bemerket, wenn ihr Ärzte nicht achtet die Fingerzeige Gottes.

Denn sieh, mit der Wissenschaft ist es ganz anders gegangen als man es sich gedacht hat, sie gerade ists, die ihre Spitzen den alten Aufklärern, welche wähnten, es bald so weit zu bringen, daß alles klar am Tage liege wie ein umgekehrter Bienenstock, entgegengekehrt hat. Die Wissenschaft ist bis an den dunkeln Schlund gelangt, in welcher keine Leuchte leuchten will, wo aber doch die Hauptsache liegt, oder mit andern Worten: sie ist da angelangt, wo der Weg aus der Sonnseite der Natur sich umbiegt und an die Schattseite führt, aus dem Erklärbaren, durch die Sinne Wahrnehmbaren in die Tiefen des Naturgeheimnisses.

Immer lebendiger drängt sich als Ergebnis aller Forschung das Bewußtsein auf, daß durch das Sichtbare ein geheimes Unsichtbares sich ziehe, ein wunderbares Band die Menschen unter sich verknüpfe, auf unerklärliche Weise mit der Natur nicht nur sie in Verbindung bringe, sondern auch mit einer höhern Welt, daß zwischen den Gestaltungen der Materie und den Äußerungen aller Kräfte gegenseitige Einflüsse und Wirkungen stattfinden, von denen die Sinne nichts wahrnehmen, die man weder unter das anatomische Messer bringen, noch in den Schmelztiegeln der Chemie zersetzen kann. Und daneben hat manches, das als alter Aberglaube galt, durch neue Erfahrung sich bestätigt, so manche alte Bauernregel, so manches Sprüchlein über den Einfluß des Mondes oder die Stellung der Erde zur Sonne.

Der Magnetismus ragt wie ein Zauberberg in eure Wissenschaft hinein, und um ihn reihen sich aufs neue Geistererscheinungen, Besessene und solche, welche das zweite Gesicht besitzen. Die Wahrsagerei wird wieder einträglich und die Menge gläubig; aus dem leichtfertig gewordenen Protestantismus flüchten die Menschen sich in die dunkeln Hallen katholischer Münster. Und wie schon gesagt, kommt ihr Ärzte immer mehr zum Bewußtsein, daß Wissen und Können nicht eins ist, daß ihr oft wisset und doch nichts könnt, und daß ihr manchmal könnt und doch nicht wißt wie und warum, und daß ihr euch, wenn ihr es schon nicht eingesteht, doch immer mehr nach solchen Mitteln, die man früher verachtete, umseht, welche den krankhaften Zustand günstig umstimmen auf bestimmte günstige Weise, deren Wirkung auf einem unmittelbaren Naturverhältnis zum kranken Körper beruht, welches aber nicht weiter erklärlich zu sein braucht.

So hat die Zeit sich gewendet und zum Teil auch ihr mit derselben, aber in der alten Stellung zum religiösen Glauben des Volkes steht ihr noch, darum glaubt es nicht an euch, sucht Heil und Heilung anderwärts. Begreifst du mich, Rudi?»

«Aber, lieber Onkel, sollen wir denn Kopfhänger werden, Heuchler oder gar katholisch werden, an den Betten der Kranken beten statt ihnen Mittel zu geben, kurzum, den Narren machen auf jegliche Weise?»

«Hast mich nicht begriffen», antwortete der Pfarrer, «oder hast mich begriffen, willst aber ausbeugen, um mir nicht recht zu geben. Das Beten könnt ihr denen überlassen, die dazu bestellt sind, wenn sie es gut finden. Man kann Glauben haben und zeigen, ohne Kopfhänger zu sein oder katholisch zu werden, bin ich ja doch weder das eine, noch will ich das andere werden. Aber das meine ich, daß man es euch ansehen soll am Krankenbette, daß ihr an eine höhere Macht glaubt, durch deren Willen euer Wirken bedingt ist, deren Verwalter ihr nur seid. Dann sei euer Wandel und Wesen so, daß der Kranke das Vertrauen fassen kann, Gott brauche euch zu Mittlern zwischen ihm und den Menschen, sei mit seinem Segen bei euerm Wirken! Das ist eine Art von Glauben, welche lange verachtet ward von den Weisen dieser Welt; es ist aber doch der einzige, den der Arzt fordern darf, der nicht irrig ist, den er aber auch suchen muß, wenn nach den Zeichen der Zeit die Kranken sich nicht mehr und mehr von ihm ab und den Wunderdoktoren zuwenden sollen, die allerdings eigentlich Lästerer und Betrüger sind, und zwar darum, weil sie das, was Gott in der Menschen eigene Kräfte gelegt, Wissen und Kunst, welche allerdings auch notwendig sind, nicht nur nicht haben, sondern auch nicht suchen, und nicht nur nicht suchen, sondern auch verlästern. Sie sind akkurat den Sektierern gleich, welche auch die Bibel, welche den Buchstaben enthält, verachten, und alles in den Geist setzen, den sie zu besitzen vorgeben. Begreifst du mich jetzt besser?»

«Papa, ich bitte euch», rief Sophie, «merket doch auf mein Winken und kommt zum Essen, dRübli sind schon ganz braun, und das Ghäck wird räukelig und bränntelet, und denket doch an den armen Vikari, der will was unter die Zähne, sonst kann er nicht schlafen, und vom Geiste lebt man nicht. Gehts aber zu lang, so tut ers uns doch zuleid, macht sich ins Bett, macht uns dann aber auch sieben Wochen lang ein Gesicht, daß man Wentelen damit vertreiben könnte, wenn man es am rechten Ort hätte.»

«Der Vikari liegt dir am Herzen», sagte der Doktor. «Ja, Vetter, das lyt er mr, und zwar bsunderbar. Oh, du glaubst nicht, wie artig er gegen mich ist, und wie lieb ich ihm bin.» «So», sagte der Doktor, «das habe ich nicht gewußt, es ist mir aber lieb, es zu vernehmen.» «Sophie, du bist doch auch immer die gleiche Kädere», rief die Mama, welcher es katzangst wurde, «du denkst gar an nichts, als dr Narre z'trybe, schäm di, u denkst nit dra, daß es Sache gibt, wo man nie dr Narren treiben soll.»

«Ja los, Sophie», sagte der Papa, «laß dich nicht etwa gelüsten, den Vikari mit Jowägers zu necken, auch mit solchen Dingen treibt man keinen Spaß, und du, Rudi, laß deinen Zorn ebenfalls nicht an ihm aus; ihr versteht einander so wenig, als ob ihr verschiedene Sprachen redetet, und ihr beide setzt euch gleich auf die hohen Rosse, daß es ein Graus ist, du, als ob du Karl der Große wärest, und er, als ob der Papst Gregor in ihm steckte und noch ein halb Dutzend andere Päpste. Hest ihm klopfet?» «Nei, Papa», sagte Sophie, «ih ha nit gwüßt, ob ihr zum Aufhören zu bringen seid oder nicht. Aber dä ist de grad da, wenn er öppis z'esse schmöckt, es syg de, daß ne ds Kupe öppe acho syg, wil es so lang gange ist; doch wenns zum Esse geyht, su kupet er neue selte. Aber chömet, ih schmöcke ds Ghäck scho!» «Wart, du Täschli!» sagte der Doktor, der mit Sophie hinter Onkel und Tante ins Eßzimmer ging, und wollte Sophie einen Kuß applizieren, kam aber damit nicht zustande; denn sobald Sophie das Manöver merkte, schrie es: «Herr Jeses, e Mus, e Mus!» Da schrie die Mama: «Herr Jeses, wo? wo? Wo ist dr Maudi? Rüfet dr Köchi! Herr Jeses, wo ist si, die uflätigi Mus?» «Da hinter dem Vetter düre ist si», sagte Sophie, «aber wo si jetz hi ist, weiß ih nit; viellicht het er se öppe im Sack, er het scho mängist Muselöcher i sym Naselumpe gha.» «Lue doch, Vetter, lue!» sagte die Mama in ihrer Angst. «Heyt nit Kummer, Tante, da ist si uf all Fäll nit, und was dBäsi Sophie gseh het, weiß ih nit, ih ha key Mus gseh.» «Eim so z'erschrecke», grollte die Mama, «wenns nüt gsi wär!» «Gwüß han ih öppis gseh», sagte Sophie, «und ih ha gemeint, es syg e Mus, aber verschwere wett ihs nit, viellicht ischs o numme dr Schatte vo ds Vetters Nase gsi, wo so wüst und grau dr Mur nah gloffe ist; aber für gwüß wott ihs o nit säge.» «Du bist doch e Ketzers Hex», sagte der Vetter halblaut, «aber wart, das treibe ich dir doch noch ein!» «Probier, mach, was d chast, es soll dr erlaubt sy; aber nimm di de o i acht, es chönnt de sy, ih reiseti dir de no dr Vikari a u nit nume dMama.»

Droben hatte der Vikar lange des Nachtessens geharrt und war böse geworden, daß es so lange ging; schon dachte er daran, wie es wäre, wenn er zu Bette ginge, um sie recht zu strafen, da klopfte es plötzlich unter seinen Füßen; nun erschrak er und hätte einen Batzen gegeben, er wäre unten gewesen und jetzt schon wieder oben. Er dachte wieder daran, ins Bett zu gehen, aber nun fürchtete er, sie könnten meinen, er dürfe nicht kommen, und das sollten sie nicht meinen; er machte sich also auf den Weg.

Aber unheimlich ist es schon, in eine Verwandtschaft hineinzusitzen, wo man weiß, es fragt einem niemand viel nach, man stört, und alles ist froh, wenn man wieder geht. Wenn dann noch etwas vorgefallen ist, von dem man weiß, daß sie es verhandelt und unserer dabei nicht zum besten gedacht, ja, vielleicht die Verhandlung erst bei unserem Eintritt abbrechen, und alle Augen sehen einem so sonderbar an, und alle Augenblicke hat man eine direkte oder indirekte Fortsetzung zu gewärtigen, so ist es einem sicher zu verzeihen, wenn es einem unheimlich zumute ist und man nicht recht weiß, was da für ein Gesicht zu machen ist.

Die meisten Menschen versuchen es, ihre Verlegenheit zu verbergen, denn man schämt sich ihrer; aber den wenigsten gelingt es einigermaßen. Die einen probieren eine gewisse Heiterkeit, welche aber selten gut steht. Die meisten verbergen sie hinter einer Donnerwolke, einem martialischen Gesicht, ab welchem es dem Teufel grusen soll. Wenn man das Ding sieht, so sollte man glauben, was da für eine Kraftkochete über dem Feuer sei, und ists doch nichts als ein schmerzliches Grännen des Herzens, das Bauchweh hat und gerne bas abe möchte.

Der Vikari, ursprünglich eine kreuzgute Haut und zu einem von den Ehemännern bestimmt, die expreß für den Pantoffel geschaffen, daneben aber knurrig und rumpelrurrig sind und darum meinen, sie führten das Regiment, und zwar ein scharfes, machte auch so ein Gesicht, daß man hätte glauben sollen, er sei ein Bombenkessel, der eben anfangen wolle zu schießen, und als Sophie ihm Suppe reichte, schnellte er das Merci ihr so zu, daß man es fast für eine Ohrfeige hätte ansehen können. Kömmt man nun mit einem solchen Gesicht einher, so macht man das Übel nur ärger, wenn man mit jungen, mutwilligen Leuten zu tun hat, während die Alten ein solches Gesicht ruhig lassen, nur hintendrein sich darüber beklagen und sagen: «Was het er doch aber für es Gsicht gmacht und hätt doch Ursach zu einem ganz andern!» Es gramselte Sophie in allen Fingerbeeren, mit dem Vikar anzubinden, aber anfangen durfte es nicht. Der Doktor, nachdenklich über des Onkels Reden, hatte sich anfangs des Vikari nicht geachtet, aber durch dessen Merci war er geweckt worden und begann ihm Blitze zuzuschießen, daß man wohl merkte, das Donnern werde auch wohl kommen.

Nun aber gibt es gute Weibchen, sie sind nie an einem Hof gewesen, nie im Weltschland, vielleicht nicht einmal in irgendeinem Leseabend, aber sie haben ein leises, scharfes Gefühl für alle Stimmungen, welche mit ihnen um einen Tisch sitzen, und einen Trieb, diese Stimmungen zu vermitteln, daß kein Mißton entstehe, und ein eigenes Geschick zumeist, welches diesem Trieb zu Hülfe kömmt. Gerade so eins war das gute Mamali; es war ihr, als ob sie das Knistern fühle in Sophiens Fingerspitzen, in des Doktors Augen, und hinter des Vikars Gesicht voller stummen Donners das Grollen und Bangen der Verlegenheit.

In solchen Augenblicken hatte sie zwei Manieren: entweder brachte sie jemand auf ein Lieblingsthema, oder aber sie erzählte selbst eine alte oder neue Geschichte und reisete so das Unwetter unschädlich vorüber. Diesmal brachte sie den Doktor auf die Universität, wohl wissend, daß ein alter Student, wenn er an die Universität gemahnt wird, an der Erinnerung hängen bleibt wie eine Fliege in einem Spinngewebe. Aber auf der Universität hatte der Doktor Duckmäuser erfahren mit scheinheiligen Gesichtern, die hatten ihn um Geld geprellt; diese nahm er jetzt übers Knie, steuerte immer mehr einer allgemeinen Walketen aller Duckmäuser zu, daß es dem Mamali katzangst wurde und es ihn mit einem Apropos absprengte von der Universität auf seine Praxis. Aber wie wurde ihr, als der Növö alsobald bei den Frömmlern war und auseinandersetzte, wie er da nichts machen könnte, so eine Betschwester in einer Stunde ihm verderbe, was er in einer Woche zwegdoktere! Sie versuchte, ihn umezwehre mit Fragen nach allerlei Persönlichkeiten, aber es ging ihr, wie es einem oft mit einer Katze geht, jagt man sie zu einem Loch aus, so ist sie schon unter einem andern, oder mit Spatzen, sie fliegen wohl von einem Aste weg, aber nur auf einen andern und bleiben auf dem gleichen Baume. Sie mochte fragen, nach was sie wollte, so steuerte der Doktor auf den Vikari los, und Sophie tat ihm Vorschub, wie sie nur konnte.

Da nahm sie mit einem Apropos, die bequemste Springstange im Reden, einen Sprung auf die Bäume und frug das Papali, ob er nach Aarau um Bäume geschrieben habe, es wäre Zeit. Schreibe man zu spät, so müsse man haben, was überbleibe, manchmal die elendesten Grieggeln. Der Doktor ging in den Gegenstand ein und frug den Onkel, ob er noch immer so große Freude an der Baumzucht hätte, erzählte dann, wie das sein Lieblingsgeschäft wäre, wenn er nur Zeit dazu hätte und nicht so ein unglücklicher Menschendoktor wäre. Die Bäume wären sein, und niemand als er legte Hand an sie, und wenn er an einem doktere, so pfusche ihm niemand hinein, und glücklicherweise hätten sie keine Beine, sonst, wer weiß, liefen sie auch von einem zum andern. Die Menschen aber machten einen wirbelsinnig; solange sie laufen könnten, liefen sie von einem Doktor zum andern, und könnten sie nicht mehr laufen, so liefen die Menschen ihnen zu wie Fliegen einem Aas, und wollten an ihm doktern unentgeltlich, und dann seien manchmal noch dere drunter –

Himmel, wie wurde dem Mamali angst! Jetzt war die Lunte auf dem Pulverfaß, jetzt gings los; da fiel ihr die Wasserflasche, mit der sie eben einschenkte, aus der Hand, splitterte, und das Wasser schoß über den Tisch weg. «E Mus, e Mus!» rief Sophie, das Täschli, welches später die Unverschämtheit hatte, zu behaupten, dMama hätte das expreß getan, um den Rudi nicht an den Vikari kommen zu lassen. «Aber Mama, was machst aber?» sagte der Pfarrer, als das Wasser selbst ihn bedrohte. Der Doktor mußte ebenfalls aufspringen, denn er fühlte die Strömung bereits auf seinen Beinen. Sophie eilte mit trockenen Zwechelen herbei, Mamali sagte, es sei ihr doch so leid, sie wisse gar nicht, wie es gegangen sei, der Vikari nahm sein Licht und wünschte allerseits eine ruhsame Nacht, und endlich sagte Sophie: «So, nun ists gut, und ds Wasser lauft nimme abe. Aber gell, Rudi, dMama cha guti Punktümer mache, aber nassi!»


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