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35.
Schluß


Käthchen erschrak allerdings, als Hans ihr Zimmer so plötzlich betrat, und wäre auch am liebsten böse darüber geworden, aber – es ging eben nicht. Hatte sie sich doch gerade nach ihm gesehnt, wie er nach ihr, und wie glücklich war sie in dem Gefühl, ihn jetzt ganz den Ihren zu nennen!

Aber sie hatte noch so viel zu thun – Hans durfte nur ganz kurze Zeit bleiben – und dann, wie ängstigte sie sich vor dem heutigen Abend, wie fürchtete sie den Empfang seiner Eltern, wenn er ihnen so unvorbereitet die Verstoßene als Tochter in das Haus zurückbrachte!

Hans kannte aber seine Eltern sowohl als seine Schwester. Der »gute Ton« hatte allerdings eine Art von Rinde um alle ihre Handlungen gezogen, aber ihre Herzen waren deshalb doch gut und weich geblieben, und er setzte gerade auf diese sein festes Vertrauen. Er beredete daher jetzt nur noch die genaue Zeit, wo er sein Bräutchen abholen würde, und bat sie, bis dahin auch bestimmt fertig zu sein, und als er ging, ließ er in ihren Händen noch das erste Geschenk zurück, das er ihr je gebracht – einen Schmuck für den heutigen Abend, aber so einfach wie er überhaupt wollte, daß sie seinen Eltern gegenüber treten sollte – nichts als eine Schnur von allerdings prachtvollen Korallen, die er für sie ausgesucht, und eine größere Freude, wie gerade durch die Wahl seines Geschenkes, hätte er seinem Käthchen gar nicht machen können.

Die Stimmung in Solberg's Hause war allerdings, wie gesagt, keine recht festliche und die ganze Einladung eigentlich mehr eine Demonstration gegen die öffentliche Meinung, daß sich die Familie durch jenen, jetzt dem Tode verfallenen Buben niedergedrückt und beschämt fühle, als aus freiem Willen hervorgerufen. Sie Alle, Hans vielleicht ausgenommen, hätten den Hochzeitstag des Solberg'schen Ehepaares viel lieber heute in der Stille gefeiert, oder, besser noch, verbrütet, denn welche Gedanken, welche zertrümmerte Hoffnungen knüpften sich nicht an ihn! Aber Hans hatte eben den richtigen Hebel getroffen, um die Eltern zu zwingen, sich solcher Schwermuth zu entreißen: man durfte vor der Welt nicht scheinen, was man war, und der alte Baron, einmal erst in dem Geleise, gab sich der Sache auch mit vollem Eifer hin – Hans selber behielt sich ja seine Ueberraschung noch außerdem vor.

Und doch lag gerade dem alten Baron noch ein lastendes Gewicht auf der Seele: die Andeutung, welche ihm Hans von seiner Verlobung gemacht. Vergebens zerbrach er sich den Kopf darüber, wen sein Sohn unter allen Mädchen, die er kannte, oder Hans kennen konnte, gewählt haben möchte, wo ihm doch eigentlich nur so kurze Zeit geblieben, eine Bekanntschaft zu machen, der er sein ganzes Leben weihen wollte.

Ein paar Mal drängte es ihn auch, mit seiner Frau darüber zu verhandeln und ihre Meinung zu hören, aber dann fürchtete er sich auch wieder davor, sie nur noch mehr aufzuregen. Hans hatte sich die Sache nun einmal eingebrockt und mochte sehen, wie er selber damit zu Stande kam. Welche Macht hatten sie auch über ihn? Er war selbstständig in seinem Vermögen wie in seinem Willen, und daß ihm an dem Urtheil der Gesellschaft nichts lag, hatte er leider nur zu oft schon bewiesen, um darüber noch einem Zweifel Raum zu geben.

So rückte die Stunde des Empfanges heran. Das ganze Solberg'sche Haus war brillant erleuchtet, Equipage nach Equipage fuhr vor, und lichtgekleidete Frauengestalten, in bauschigen Gewändern und blumengeschmückten Locken, huschten hinein. Es hatten fast alle Gäste die Einladung angenommen, denn gerade heute war man außerordentlich gespannt darauf, wie sich ihre freundlichen Wirthe unmittelbar nach einem so furchtbaren Familienereignisse benehmen würden.

Wenn sie aber erwartet hatten, Herrn und Frau von Solberg anders als je zu finden, so sahen sie sich darin getäuscht, denn sie gehörten zu sehr der Welt an, um sich vor dieser anders zu zeigen, als sie es verlangte: freudig und würdevoll. Was auch in ihrem Innern vorgehen mochte, die Außenwelt hatte keine Berechtigung daran; vor der Gesellschaft durfte es nicht zur Schau getragen werden, und nur für das stille, wieder geräumte Haus gehörte der Schmerz.

Einige der Gäste waren allerdings tactlos genug, bei ihrer ersten Begrüßung dem alten Herrn ihr Beileid über das Geschehene bezeigen zu wollen; das aber wies er alles rasch zurück. »Sieht dies aus wie ein Haus der Trauer?« sagte er lächelnd. »Eher könnte ich es ein Dankfest nennen, daß uns der Herr an dem heutigen Tage, zu unserem alten Hochzeitsfeste, vor einem so schweren Unglück bewahrt, und als solches möchte ich es auch aufgefaßt sehen.«

Nur Franziska sah bleicher aus als gewöhnlich; es war aber auch viel verlangt von dem armen Mädchen, sich heute schon, und kaum vierundzwanzig Stunden nach jener furchtbaren Entdeckung, wieder im vollen Staat und vor einer Gesellschaft von meist gleichgültigen Menschen zu zeigen. Dennoch hatte sie volle Gewalt über sich, und nur manchmal, wenn ihr rastlos umhersuchender Blick auf Augen traf, die sie mit stillem Mitleid betrachteten, dann blitzten die eigenen höher auf, und für kurze Zeit färbten sich ihre Wangen.

Hans hatte die Gäste mit empfangen, und zwar ganz in seiner gewöhnlichen offenen und heitern Weise. Mit Recht betrachtete er sich auch als den Schöpfer dieses Festes, denn ohne ihn hätten heute diese Räume öde und leer gelegen, und Thränen wären geflossen, wo jetzt Diamanten blitzten und noch schönere Augen in Lust und jugendlicher Freude funkelten.

Aber mit größter Ungeduld erwartete er den Zeitpunkt, wo es ihm angemessen schien, sich entfernen zu dürfen; vorher instruirte er noch die engagirte kleine Kapelle, nicht eher mit ihrer Musik zu beginnen, bis er selber ihnen dazu das Zeichen gäbe. Draußen hielt schon seines Vaters Equipage, und fort rollte der leichte Wagen in die Stadt hinein.

»Mein Käthchen!« rief er aber in Jubel aus, als er in des Mädchens kleines Zimmer trat und sie ihn mitten darin in ihrem vollen Ballstaat erwartete. Sie war so einfach gekleidet, vollkommen weiß, keinen Kopfschmuck als eine rothe Camelie im Haar und die Korallenschnur, welche ihr Hans heute gebracht, um den Hals – aber wie lieb und hold sah sie aus, wie mädchenhaft und scheu, als sie ihm da so gegenüber stand! »Mein liebes, liebes Käthchen! Oh, daß ich Dich jetzt mein nennen darf – wie glücklich, wie namenlos glücklich hast Du mich gemacht!«

»Ich – Ich?« sagte Käthchen leise und tief erröthend. »Mein guter, guter Hans, mein ganzes Leben gehört ja jetzt Dir, und was in meinen Kräften steht, will ich ja gewiß thun, daß Du den Schritt nie, nie bereuen sollst!«

»Und nun komm, Schatz,« rief der junge Mann, einen fast schüchternen Kuß auf ihre Lippen drückend – »komm, und heute Nacht schläfst Du zum letzten Mal in dieser ärmlichen Kammer, denn mit Herrn Semmlein unten habe ich schon ausgemacht, daß er Dich morgen in seine eigene Wohnung nimmt …«

»Aber, Hans …«

»Du darfst nicht mehr allein wohnen, Herz, und nicht in einer Dachkammer,« rief der junge Mann. »Du bist jetzt mein Bräutchen, das ich die Zeit, bis wir uns ganz angehören können, auch noch jeden Tag besuchen und mit dem ich Stunden lang plaudern will, und das ginge nicht, wenn Du hier allein Dein Quartier hättest, schon den liebenswürdigen Damen Klingenbruch gegenüber. Ueberlaß nur das alles mir, Schatz, ich sorge schon für Dich, daß es Dir an nichts fehlt, und nun, mein süßes Käthchen, komm, um die Eltern zu begrüßen.«

»Ach, ich habe rechte Angst, Hans!«

»Hast Du?« lächelte der junge Mann. »Dann vorwärts, mit einem Sprung in den Wagen! Oder fürchtest Du Dich, wenn ich bei Dir bin?«

»Nein, Hans,« sagte sie treuherzig, »Dir habe ich mein ganzes Leben anvertraut und darf Dir auch getrost die Führung dieser, vielleicht schweren Stunden überlassen. Mit Gott! Ich kann den Deinen treu und ehrlich in die Augen sehen, und ganz vergessen werden sie mich doch wohl nicht haben.«

Hans hatte sein Bräutchen selig am Arm und stieg mit ihr die ziemlich steile und oben vollkommen dunkle Treppe nieder. Nur in der ersten Etage brannte an der Treppe eine Gasflamme, und eben als sie dort vorüberschritten, öffnete sich die Thür, und Oberstlieutenant von Klingenbruch, der sich etwas verspätet hatte, trat heraus. Flora, die ihm die Thür geöffnet, bemerkte aber auf der Treppe den Glanz des weißen Kleides und blieb natürlich stehen, um zu sehen, wer da in solchem Staat von oben herunter käme, denn aus der zweiten Etage konnte es doch Niemand sein.

»Holla, Oberstlieutenant,« rief ihm Hans schon entgegen, wie er ihn nur erkannte. »Sie können mit uns fahren, ich habe meinen Wagen unten vor der Thür!«

»Mein lieber Herr von Solberg,« sagte der kleine Mann, aber doch selber etwas frappirt, als er den Baron in Begleitung einer ballfähigen Dame entdeckte, die aus der obern Etage zu ihm herunterstieg. »Sie sind unendlich liebenswürdig!«

»Und Sie,« rief Hans, »sollen denn auch der Erste sein, dem ich hier mein kleines Bräutchen vorstelle. – Ah, mein gnädiges Fräulein, auch Sie, ja, jetzt kann es und soll es auch kein Geheimniß mehr bleiben – mein lieber Oberstlieutenant, Fräulein Katharina Peters, meine Braut. Die Herrschaften kennst Du ja doch, Schatz – Herr Oberstlieutenant von Klingenbruch und Fräulein Tochter.«

»Sehr angenehm!« rief Flora und schlug die Thür zu, daß die Vorsaalfenster klirrten.

Klingenbruch warf einen verlegenen Blick zurück, denn die Ungezogenheit seiner Tochter gab ihm einen ordentlichen Stich durch's Herz, aber seine eigene Gutmüthigkeit gewann rasch die Oberhand.

»Mein lieber Solberg,« sagte er herzlich, »wenn ich wirklich der Erste bin, dem Sie Ihr liebes Bräutchen vorstellen, so kann ich nur für Sie hoffen, daß alle Glückwünsche, die Ihnen heute noch gebracht werden, auch so ehrlich und treu gemeint sein mögen, wie der ist, den ich Ihnen als ersten Gruß entgegenbringe. Gott segne Sie und Ihr liebes Bräutchen, und wo Sie auch sein mögen, glauben Sie, daß der alte Klingenbruch herzlichen Antheil an Ihnen nimmt.«

»Ich weiß es, mein lieber Oberstlieutenant,« sagte Hans, wirklich ergriffen von den einfachen Worten, indem er dem kleinen Manne herzlich die Hand schüttelte; »aber nun auch fort! Wir haben hier schon zu viel Zeit versäumt, und drüben bei uns werden sie gar nicht wissen, wo ich geblieben bin. – Vamonos, und Sie, mein alter, lieber Freund, sollen der Brautführer sein!«

Wenige Minuten später rasselte die Equipage wieder über das Pflaster der Stadt. – Oben bei Klingenbruchs lagen drei Damen in den geöffneten Fenstern und sahen dem Wagen nach, so lange sie ihm mit den Augen folgen konnten. Aber die Glücklichen darinnen achteten nicht darauf, und als der leichte Wagen bald nachher vor dem hell erleuchteten Solberg'schen Hause wieder hielt und die Diener vorsprangen, um den Schlag zu öffnen und die Herrschaften zu empfangen, half Hans seinem jungen Bräutchen heraus, und Käthchen am Arm, von dem Oberstlieutenant escortirt, betraten sie gleich darauf den menschengefüllten Saal.

Käthchen zitterte freilich an allen Gliedern. Es waren die nämlichen Räume, die sie als Kind bewohnt, und dann hatte meiden müssen, ohne Hoffnung, sie je wieder zu betreten, und jetzt, als Tochter vom Hause, sollte sie da hinein zurückkehren. Das helle Lichtmeer blendete sie dabei; sie fühlte, wie sie ihre Kräfte verließen, und klammerte sich fest an des Geliebten Arm.

»Muth, mein Herz,« flüsterte dieser, »Du brauchst den Blick vor Niemandem zu Boden zu schlagen. Muth – da steht der Vater! Komm, ich führe Dich zu ihm.«

Die Gäste achteten kaum auf das Paar. Sie sahen wohl, daß Hans von Solberg eine Dame in den Saal führte, aber das konnte auch eben so gut eine Fremde sein, die er nur geleitete. Viele von diesen hatten allerdings Käthchen hier schon früher im Hause gesehen, aber wer von Allen dachte jetzt an das arme Mädchen, das die Familie – wie man recht gut wußte, aber sich nicht weiter darum kümmerte – fortgeschickt hatte? Die jetzige Erscheinung glich auch dem Käthchen von früher nicht mehr. Es war eine schlanke, bleiche, ätherische Gestalt, und wie sie jetzt an des jungen Solberg Arm durch den Saal schwebte, schien sie den Boden kaum zu berühren.

Der alte Baron entdeckte sie zuerst. Wie nur Hans den Saal verlassen, ahnte er, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, in dem sich das Räthsel lösen müsse, und in peinlicher Unruhe verbrachte er die Viertelstunde, die es dauerte, bis der Sohn zurückkehrte. Jetzt trat er in den Saal, die junge Dame, die er am Arm führte, war seine Braut, von jetzt an seine eigene Tochter, und mit zitternden Schritten ging er ihm entgegen. Schwamm es ihm doch so vor den Augen, daß er nicht einmal gleich die Züge der Fremden erkennen konnte.

»Vater,« rief Hans, indem er auf ihn zu flog und ihn umschlang, »Deinen Segen, Vater! Kennst Du Dein kleines Käthchen nicht mehr?«

»Käthchen?« rief der alte Herr, und stand, beide Arme halb erhoben, dem schüchtern zu ihm aufschauenden jungen Mädchen gegenüber, »Käthchen, bist Du das, Kind? Bist Du das?«

»Mein lieber, lieber Vater!« rief Käthchen, auch nicht mehr im Stande, sich länger zu halten. Was kümmerten sie die fremden geputzten Menschen, die sie rings umgaben; sie sah, sie hörte nichts weiter, als die alte, liebe, so lange nicht gehörte Stimme, die ihren Namen rief, und laut schluchzend warf sie sich an des Vaters Brust, der sie aber auch jetzt fest umschlang und wieder und wieder ihre Stirn küßte.

Hans aber hatte die Mutter erspäht. »Mutter,« rief er, sie umfassend und zum Vater hinüber führend, »ich bringe Dir Deine Tochter wieder, meine liebe Braut. Sei gut mit ihr, Mutter, denn sie hat Deines Sohnes Glück begründet.«

»Hans,« rief die Mutter halb erschreckt und hielt mitten in ihrem Gang inne, aber Franziska kam ihr zuvor. Das Unglück, das sie selber betroffen, hatte sie weich gestimmt, und gerade das, was sie der früheren Pflegeschwester entfremdet, hatte ja jetzt nur zu rasch seine furchtbare Bestätigung erhalten. Mit flüchtigen Schritten eilte sie auf Käthchen zu und schlang ihren Arm um sie, und als sich jetzt auch, Thränen in den Augen, die Mutter näherte, da warf Hans in ausbrechendem Jubel seinen Arm empor – das Zeichen für die schon lange dessen harrende Musici – und ein schmetternder Tusch füllte in dem nämlichen Moment den weiten Saal.

Hans aber, sein Bräutchen jetzt selbst der Mutter entziehend, hob sie fast mehr, als daß er sie führte, mitten in den Saal hinein, und wie nur die rauschenden Fanfaren geendet, rief er mit lauter, jubelnder Stimme: »Meine Herrschaften und lieben Gäste und Freunde! Nicht die Trauer hat in diesen Räumen ihren Wohnsitz aufgeschlagen, wo sie gestern freilich einzog, heute muß sie dem Glück den Kampfplatz überlassen. Was jener Bube, der sich mit falschem Namen und Rang in unsere Herzen eine Zeit lang einnistete, getrennt, das führe ich heute den Eltern wieder zu: mein Pflegeschwesterchen, meine Braut!«

Und jetzt setzte die Musik ohne sein Zeichen zu einem neuen Tusche ein, bei dem das liebliche Mädchen wie mit Purpur übergossen stand. Aber lange wurde ihr keine Zeit gelassen, denn alles drängte herzu, um sie zu beglückwünschen, und wenn das auch manchen der jungen Damen vielleicht nicht so recht von Herzen ging, an freundlichen Worten fehlte es keiner. Aber alles das schwamm auch nur für die Glücklichen in einen Moment von Seligkeit zusammen, und wie jetzt die kleine Kapelle zu einem lustigen Galopp einsetzte, da umschlang Hans sein Bräutchen und flog mit ihr jubelnd durch den Saal dahin.

Damit war auch die Bahn gebrochen und zugleich noch eine Art von drückendem Gefühl gehoben, das bis jetzt, trotz Allem, auf der Gesellschaft gelegen. Man wußte ja, was vorgefallen war, und konnte sich dem Gedanken nicht ganz verschließen, daß hier die laute Fröhlichkeit doch nur Schmerz und Enttäuschung übertäuben solle. Jetzt aber, mit dem glücklichen Brautpaar voraus, mit der Freudenthräne, die in den Augen des alten Barons von Solberg blinkte, denn er hatte das Käthchen ja immer lieb gehabt wie ein eigenes Kind, schien das Ganze doch eine Wendung zum entschiedenen Guten erhalten zu haben. Es war kein gemachtes Fest mehr, es war ein wirkliches geworden, und rasch genug theilte sich das Gefühl der ganzen Gesellschaft mit.

Während einer Pause, in der jetzt Franziska mit Käthchen, um die sie den Arm geschlungen, im Saale auf und ab ging, stand der alte Solberg mit Hans an dem einen Fenster. Hans folgte mit den Blicken seinem holden Bräutchen, und auch des Vaters Auge hing eine Zeit lang an dem Schwesterpaar, das sich da durch des Sohnes Hülfe wiedergefunden. Aber er seufzte trotzdem recht aus tiefster Brust, so daß Hans selber darauf aufmerksam wurde.

»Was hast Du, Vater? Welche Sorge drückt Dich noch?«

»Eine Sorge gerade nicht, mein lieber Sohn,« sagte der alte Herr, »aber doch ein recht trauriges, niederdrückendes Gefühl.«

»An dem heutigen Abend?«

»Allerdings, weil es mir gerade der heutige Abend wieder nur zu sehr bestätigt und andere, schon frühere Beweise frisch in's Gedächtniß zurückruft. Es geht mit dem Adel bergab, Hans, die gute alte Zeit ist vorbei und geschwunden, demokratische Ideen breiten sich mehr und mehr, und leider selbst in unseren Kreisen aus, und die Stelle des ehrwürdigen Ranges nimmt ein gemeines Metall ein – das Gold.«

»Es wird zu den edlen Metallen gezählt, Papa,« lächelte Hans.

»Ja,« nickte der alte Herr, als das Wort edel noch eine andere Bedeutung hatte; aber auch darin ist es gesunken, denn ein Stück erbärmlichen Papiers zählt jetzt oft mehr als Haufen Goldes. Nein, das Gold ringt jetzt mit dem Adel um die Herrschaft, und leider läßt es sich nicht leugnen, daß der letztere mit jedem Tage an Boden verliert.«

»Und hältst Du das für ein Unglück, Vater? Ist es nicht der praktische Geist der Zeit, der nicht mehr nach eingebildeten oder gedachten Verdiensten, sondern nach wirklichen Zahlen rechnen will?«

»Du hast kein Urtheil darin, Hans,« sagte Herr von Solberg ruhig, »denn Du gehörst schon vollkommen der neuen Richtung an, was Du mir eben wieder durch Deine Mesalliance bewiesen hast.«

»Mesalliance, Vater?« sagte Hans kopfschüttelnd; »unter Mesalliance verstehe ich eine unglückliche Ehe, in der Mann und Frau nicht in Frieden bei einander wohnen können, weiter nichts.«

»Ich verstehe aber etwas Anderes darunter und sehe eben zu meinem Leidwesen, daß sie aller Orten überhand nehmen.«

»Und bist Du böse, daß ich mir Käthchen zu meinem lieben Weibe nehmen will?«

Der Baron schwieg. – »Lieber wäre es mir,« sagte er endlich, »wenn Du Dich in einer uns ebenbürtigen Familie nach einer Gattin umgesehen; aber da es gerade das Käthchen ist, das Du Dir gewählt, so will ich Dir deshalb nicht zürnen. Hat es mir doch schon die ganze Zeit auf der Seele gebrannt, daß wir sie damals von uns stießen. Uebrigens ist Deine Mesalliance nicht die einzige, sondern die ganze Stadt scheint sich darin zu überbieten. Der arme Hauptmann von Dürrbeck wollte die Sängerin heirathen, Fräulein von Schaller hat sich mit Doctor Potter verlobt, und Fräulein Henriette von Klingenbruch hat uns gestern Abend ebenfalls ihre Verlobung mit dem reichen Banquier Meyer angezeigt.«

»Fräulein von Klingenbruch?« rief Hans rasch und erstaunt. »Wann hat sie die Karte geschickt?«

»Gestern Abend. Aber am gestrigen Tage wie heute Morgen war natürlich Niemand von uns in der Stimmung, derartige Anzeigen zu beachten, und da wir uns außerdem nicht veranlaßt fühlten, ihren Bräutigam ebenfalls einzuladen, sind die Damen wahrscheinlich ausgeblieben.«

»Nun, dann weiß ich auch,« lachte Hans, »weshalb mich Henriette von Klingenbruch heute so beleidigt über die Achsel behandelt hat, als ich dort war, denn ich habe kein Wort von ihrer Verlobung erwähnt, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ich kein Wort davon wußte. Also hat sie die Erbschaft im Stich und der Mission gelassen?«

»Man sagt, daß die Herren von der Mission bei der Heirath selber die Hand mit im Spiel gehabt haben,« nickte der Vater, »und wahrscheinlich werden sie auch der jüngeren Tochter einen reichen Mann verschaffen.«

»Glück auf!« lachte Hans – »aber die Musik beginnt wieder, Papa; diesen Tanz habe ich wieder mit Käthchen.« Und fort flog er seinem Glück entgegen.


Rhodenburg kam in dieser Zeit gar nicht aus der Aufregung heraus, denn immer wieder gab es Neues und Interessantes zu besprechen, das aber in den meisten Fällen noch immer mit dem früheren Wirken des falschen Grafen Rauten im Zusammenhang stand, der sich jedenfalls, was er auch sonst gethan, um die Unterhaltung der Stadt ein großes Verdienst erworben.

Rauten war jetzt allerdings todt und begraben und konnte zu keiner Strafe mehr gezogen werden, aber der Thatbestand der verschiedenen Anklagen mußte trotzdem, so weit als möglich, ermittelt werden, um zu erfahren, inwieweit vielleicht noch andere Personen mit dabei compromittirt sein konnten. Dadurch stellte sich dann allerdings heraus, daß jener Herr von Tröben mit dem späteren Grafen Rauten augenscheinlich eine und dieselbe Person gewesen. Auch der Mord und Raub an dem Müller, den der Sterbende angegeben, hatte stattgefunden, und der Thäter war damals nie ermittelt worden. Ebenso ließ sich das Gericht in Rhodenburg die Acten über den damals verurtheilten Karl Handorf aus Rhodenburg einschicken, um dadurch womöglich zu einem Resultate zu kommen. Wie viele Monate, oder möglicher Weise auch Jahre aber darüber hingehen würden, war schwer abzusehen, und die Volksstimme nahm dafür die Sache selber in die Hand.

Daß Karl Handorf, der Sohn des wackern Tischlermeisters und stets ein ruhiger, rechtlicher Mensch, seine Strafe ungerecht erlitten habe, daran zweifelte jetzt, und nach dem Geständniß des wirklichen Mörders, das sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Stadt verbreitete, kein Mensch mehr; aber die Frage blieb nur: wie konnte man dem Unglücklichen die Ehre so wiedergeben, daß kein Zweifel mehr darüber bestand? Eine Erklärung der Gerichte, wenn diese selbst jetzt schon zu erlangen gewesen wäre, hätte nur wenig genützt, und wäre vielleicht gelesen und für kurze Zeit besprochen, dann aber auch wieder vergessen worden.

Da nahm Hofapotheker Semmlein die Sache in die Hand, schon aus Freundschaft für den alten Handorf selber, der sich ja abgrämte, daß sein einziger Sohn nach Amerika wollte, und doch auch wieder die Gründe billigen mußte, die ihn dahin trieben. Er lud die sämmtlichen Handorf'schen Gesellen mit den beiden Lehrjungen zu sich in die Hofapotheke und hatte dort eine lange und geheime Unterredung mit ihnen, die aber zu allseitiger Zufriedenheit zu enden schien. Semmlein holte wenigstens nach Beendigung derselben eine Flasche von seinem besten Doppelkümmel, den er selber fabricirte, und einen Teller voll gebrannter Mandeln und regalirte die Leute mit diesen außergewöhnlichen Genüssen.

An dem Tage saß der alte Tischlermeister wieder recht traurig und niedergeschlagen bei seiner Familie am Tisch allein – nur Hummel war mit da – und der Alte hatte dem Sohne noch einmal abgeredet, ihn zu verlassen, aber ohne Erfolg.

»Du siehst, Vater,« sagte Karl ruhig, »daß trotz der Aussage des wirklichen Mörders die Leute sich noch immer scheu von mir zurückhalten. Das Gericht fällt vielleicht später eine Entscheidung, die mich frei spricht; aber Du weißt selber, daß darüber vielleicht noch Jahre hingehen können, und soll ich das hier ruhig und mit Nichtsthun abwarten? Aber wir haben das alles ja schon wieder und wieder besprochen; es soll nun einmal so sein, Vater, denn gegen ein einmal gefaßtes Vorurtheil anzukämpfen, ist entsetzlich schwer.«

Draußen an der Thür klopfte es herzhaft an, und Meister Handorf hob erstaunt den Kopf.

» Walk in!« rief Hummel, und da öffnete sich die Thür, und herein, aber in seiner Werkeltagskleidung, die blaue Schürze vor, die Aermel aufgestreift, wie er aus der Werkstätte kam, trat der Altgeselle und hinter ihm die fünf anderen Gesellen, während die beiden Lehrjungen den Schluß bildeten und der eine in Ermangelung eines Taschentuches immer mit dem bloßen Arme die Nase strich – aus blanker Verlegenheit.

»Hallo, Ihr Leute!« sagte der alte Handorf erstaunt und richtete sich aus seinem Stuhle empor. Ein unbehagliches Gefühl zuckte ihm dabei durch's Herz, denn er fühlte, etwas Außergewöhnliches mußte im Werke sein, und er hatte in der letzten Zeit daran gezweifelt, je wieder etwas Gutes zu hören.

Da trat der Altgeselle, sein Käppchen, das er gewöhnlich trug, in der harten, schwieligen Hand haltend, vor und sagte: »Nichts für ungut, Meister und Frau Meisterin, aber wir Gesellen sind in etwas übereingekommen, das ich Euch vortragen möchte.«

»Und was ist das, Wolters?« sagte der alte Mann und sah dem Sprecher fest in's Auge.

Wolters aber begegnete ruhig dem Blicke und fuhr fort: »Wir wissen, wie es hier im Hause steht. Der Meister ist alt geworden und möchte sich gern zur Ruhe setzen, und der Sohn, der Karl, will nach Amerika, weil sie ihn hier schlecht behandelt und ihm seinen ehrlichen Namen genommen haben …«

»Wolters!« rief der alte Mann, aber der Geselle ließ sich nicht unterbrechen.

»Der Karl will aber nur nach Amerika, weil ihn die Stadt bis jetzt für einen schlechten Menschen gehalten hat, der einen Andern, Geldes wegen, todtgeschlagen. Wir wissen aber jetzt, daß das nicht wahr ist, wenn er auch dafür im Zuchthause gesessen und die Gerichte jetzt nicht gern eingestehen mögen, daß sie sich an einem Unschuldigen vergriffen. Meister, wir Gesellen hier sind alle ehrenwerthe, brave Leute, wenn auch nur arme Arbeiter, aber das Handwerk kennt uns. Wir kommen jetzt alle zusammen hierher, um den Karl zu bitten, daß er nicht nach Amerika geht, sondern hier bleibt und die Werkstätte übernimmt. Wir alle wollen treu und rechtschaffen bei ihm aushalten und ihn für unsern guten und braven Meister ansehen, und Gott verdamm' mich, wenn einer noch ein unrechtes Wort über ihn sagt, dem schlagen wir alle Knochen im Leibe entzwei!«

»Wolters,« rief der alte Handorf, und die Thränen stürzten ihm aus den Augen, während er die in der Drohung geballte Faust des Altgesellen ergriff und mit beiden zitternden Händen schüttelte – »Wolters, ist das Euer Ernst?«

»Unser Ernst ist's – nicht wahr, Ihr Leute?«

»Ja, so ist's recht, so soll's sein!« riefen die sämmtlichen Gesellen und Lehrjungen, und der eine, der schon wohl über ein Jahr bei Handorf arbeitete, setzte hinzu: »wenn uns der Karl keinen Groll nachträgt, daß wir bisher nichts mit ihm wollten zu thun haben. Aber Ihr wißt's selber, Meister, ein ehrlicher Handwerker hält auch auf ehrliche Gesellschaft, und wir konnten ja doch nicht wissen, daß er unschuldig war.«

Karl stand erschüttert vor den Leuten und hatte sein Gesicht in den Händen geborgen, daß ihm die großen Thränen dazwischen herausliefen, jetzt aber richtete er sich empor, und mit vor Rührung fast erstickter Stimme rief er aus: »Groll sollte ich gegen Euch haben? Hätte ich denn nicht an Eurer Stelle ebenso gehandelt? Nein, bei Gott, keinen Groll, und wenn ich wieder mit ehrlichen, braven Menschen zusammen arbeiten darf und nicht mehr wie ein Aussätziger allein stehe, dann brauch' ich ja auch die Heimath nicht zu verlassen, nicht den Vater in seinem Alter! Dank, Dank, tausend, tausend Dank, Ihr guten Menschen, für die freundlichen Worte, und daß ich Euch ein treuer Kamerad sein werde, darauf dürft Ihr Euch verlassen!«

Jetzt ging es an ein Händeschütteln rings herum, und auch die Lehrjungen mußten daran; aber glücklichere Menschen als in der Wohnung des Tischlermeisters Handorf heute gab es wohl kaum in der ganzen Stadt, selbst Hans und Käthchen nicht einmal ausgenommen.

Der Ausgelassenste von allen war aber Hummel, denn in dem gemeinsamen Auftreten der Gesellen lag etwas Republikanisches, das ihm ungemein imponirte. Er schwur, sie verdienten alle miteinander Amerikaner zu sein. Wenn sie ihm aber auch einen abtrünnig gemacht hätten, so müßten sie doch heut Abend alle seine Gäste sein, und der Meister und die Meisterin und das Gretchen und der Karl und die Lehrjungen, und daß der Karl ein braver, ehrlicher Kerl sei, dafür wolle er seine Haut zum Pfande setzen.

Und mitten in den Lärm und Jubel hinein trat der Hofapotheker Semmlein. »Na,« sagte er, als er ungehört von den Uebrigen die Thür öffnete, »hier geht's ja meinswegen ganz fidel her!«

»Und der Hofapotheker kommt auch mit,« schrie Hummel, »und der Hofapotheker soll leben, hip, hip, hip Hurrah!« – und die Gesellen, die den Ruf darauf bezogen, daß eigentlich der kleine Mann sie zu dem Schritte gebracht, der ihnen schon selber »zwischen Fell und Fleisch« gelegen, stimmten auf einmal so kräftig in den Ruf ein, daß das ganze Zimmer dröhnte und die Leute verwundert draußen auf der Straße stehen blieben.

»Jemine, was für eine vergnügte Gesellschaft!« lachte Semmlein – »und das ist alles vor der Reise nach Amerika?«

»Der Karl bleibt hier, Herr Hofapotheker,« rief in überströmendem Glück die Mutter, »er übernimmt die Werkstatt des Vaters, und es ist ja jetzt alles, alles gut!«

»Na, meinswegen soll da der Deubel die Traurigkeit holen!« rief Herr Semmlein und schlug in die Hände, daß es wie ein Pistolenschuß durch den Raum schallte. »Und was hab' ich immer gesagt – die Ehrlichkeit kommt doch zuletzt immer obenauf und die Lumperei in den Keller! Vater Handorf, hier ist meine Hand, und Glück und Segen zu dem neuen Leben!« –

Es bleibt nicht mehr viel zu erzählen. Käthchen war von der Familie Solberg, die wohl fühlte, daß sie ein Unrecht an ihr gut zu machen hatte, wieder mit der alten Liebe aufgenommen worden, und der Glücklichste fast von allen darüber war der alte Claus. Vierzehn Tage später aber und unmittelbar danach, als das junge Paar verbunden worden, reiste Hans mit seiner jungen Gattin auf einige Monate nach Italien, mehr Käthchens wegen, um sie einmal gründlich in ein neues Leben einzuführen und aus den alten Verhältnissen heraus zu reißen. Vorher hatte Hans aber jede Anstalt getroffen und dem Notar Püster dafür die reichlichsten Mittel gelassen, damit sein Halbbruder Mux in aller Ruhe seinen Studien obliegen konnte, und als er später wieder, auf einige Jahre noch, nach Peru mußte und dann für immer mit Käthchen – und einer kleinen Familie – in die Heimath zurückkehrte, fand er in ihm einen tüchtigen Advocaten wieder, der sich mit Püster associirt und schon einen wackern Ruf in der Stadt gewonnen hatte.

Frau von Schaller war damals, bald nach ihres Gatten Flucht und da sie Kathinka nicht bewegen konnte, sie zu begleiten, allein abgereist. Wohin? wußte Niemand; jedenfalls nach einem schon früher mit ihrem Gatten verabredeten Rendezvous, von dem aus das würdige Ehepaar seine Operationen von neuem beginnen konnte. Schaller hatte aber Unglück – er griff zuletzt in aller Verzweiflung zu einem sehr gefährlichen Mittel, sich Geld zu verschaffen: er fälschte Wechsel, wurde aber dabei erwischt und kam in's Zuchthaus! Was aus seiner Gattin wurde, hat man nie erfahren.

 

Ende.


A. Seydel & Cie., G.m.b.H., Berlin S.W.

 



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