Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12.
Am andern Morgen


Der nächste Morgen brachte einen richtigen Apriltag. Der Wind war nach Nordwesten umgeschlagen, und so warm die Luft auch bisher gewesen, jetzt zog sie mit Eiseskälte über das Land, und es schien fast, als ob der schon besiegt geglaubte Winter noch einmal dem anrückenden Frühling die Stirn biete und all' seine Kräfte gegen ihn in's Feld führe. Im Osten ballten sich finstere Wolkenmassen zusammen, und etwa um vier Uhr begann ein so wildes, noch mit kaltem Reif gemischtes Schneegestöber, daß mit Sonnenaufgang die Bewohner von Rhodenburg durch eine vollständige Winterlandschaft überrascht wurden und schon weggepackte Pelzwaaren wieder vorgesucht werden mußten, um dieser bösartigen Temperatur zu begegnen. Das Thermometer zeigte nämlich zwei Grad unter Null und nach den letzten warmen Tagen fühlte man die Kälte nur um so empfindlicher.

Gegen Mittag fing es allerdings in den Straßen wieder an zu thauen, und der reine Schnee verwandelte sich in einen mit Schnee gemischten Regen; aber das Wetter wurde dadurch um nichts gebessert, und wo man in einigen Häusern schon aufgehört hatte zu heizen, mußte wieder von frischem angefangen werden.

Rhodenburg hatte einen Fehler: es war eine ziemlich große Stadt, aber keine Großstadt, und eine Masse von Dingen, die an anderen Orten zu den unentbehrlichen Alltäglichkeiten gehörten, galten hier noch als Seltenheit und wurden als solche sparsam benutzt, zum Beispiel Droschken. Es gab deren allerdings ein paar Dutzend, aber sie standen, einer albernen Einrichtung zufolge, gerade an den Stellen, wo sie fast gar nicht gebraucht wurden, auf zwei dicht neben einander liegenden Plätzen, noch nicht einmal inmitten der Stadt, und wenn man bis dahin gekommen war, ging man auch ohne sie weiter. Dadurch fanden sich die Bewohner denn auch in das Unvermeidliche, zogen Gummischuhe an, spannten ihren Regenschirm auf und tappten eben durch; man sah deshalb auch heute fast nur Privat-Equipagen in den Straßen.

Hans von Solberg hatte ebenfalls seiner Eltern Equipage benutzt, um in Gesellschaft seines künftigen Schwagers die unvermeidlichen Besuche nach dem Balle zu machen und sich bei verschiedenen Tänzerinnen zu erkundigen, wie sie geschlafen hätten, oder vielmehr, wie ihnen der gestrige Abend bekommen wäre – eine sehr unnöthige Frage, denn die stereotype Antwort darauf ist und bleibt: Vorzüglich!

Rauten schien indessen heute nicht besonderer Laune, und seinem Begleiter konnte das natürlich nicht entgehen.

»Was hast Du nur, Leopold?« sagte er. »Du siehst heute so finster aus, und das ist man doch sonst nicht an Dir gewohnt.«

»Eigentlich nichts Besonderes,« erwiderte der junge Graf, »und dann auch doch wieder – Unangenehme Nachrichten von meinen Gütern.«

»Ist etwas vorgefallen?«

»Mein Administrator ist mit dem Pferd gestürzt und für die nächste Zeit – und jetzt gerade im Frühjahr – untauglich zu allen Geschäften, während der andere Verwalter, ein noch blutjunger Mann, der Sache natürlich nicht vorstehen kann und jedenfalls Dummheiten macht.«

»Hm – aber was läßt sich dabei thun?«

»Es ließe sich schon etwas thun,« sagte Rauten mit finster zusammengezogenen Brauen, »wenn Deine Mama nicht so hartnäckig darauf bestände, die Trauung mit Deiner Schwester bis zu ihrem eigenen Hochzeitstag hinaus zu schieben.«

»Du lieber Gott,« sagte Hans, »es ist das auch eine verzeihliche Schwäche, die Vorliebe für einen für sie jedenfalls wichtigen Tag!«

»Gegen die ich ja auch nicht das Geringste einzuwenden hätte oder gehabt habe,« sagte der junge Graf, »so lange eben nichts Besonderes vorlag. Daß ich den Tag und die Zeit herbeisehnte, wo ich meine junge Frau in mein eigens Besitzthum führen könnte, magst Du Dir denken, nur Deiner Mutter zu Liebe ließ ich mir aber gern die sonst durch nichts gerechtfertigte Zögerung gefallen. Jetzt aber, wie die Verhältnisse zu Hause bei mir stehen, wird meine Gegenwart da gebieterisch verlangt, und die Reise ist zu weit, um dort hinzugehen und wieder zurückzukehren.«

»Hast Du mit Mama gesprochen?«

»Ja, heute Morgen; es ist eine liebe, seelensgute Frau, aber in einigen Sachen von einer Sensibilität, die – ungerechtfertigt scheint.«

»Was sagt sie?«

»Ich kann es Dir selber nicht genau wiedergeben; sie sprach mir von der Bedeutsamkeit des Tages, von glücklichen Vorbedeutungen, Ahnungen und allen möglichen solchen Dingen. Dein Vater schien nicht abgeneigt, auf meinen Wunsch einzugehen, denn er weiß eher was davon abhängt, wenn ein so bedeutendes Gut in dieser Zeit gerade vernachlässigt wird oder in unerfahrenen Händen ist. Deine gute Mama hat aber keine Idee vom wirklich praktischen Leben. Ich glaube fast, sie denkt, das Korn wächst doch im Frühjahr, ob es nun gesäet ist oder nicht, und ihre Nerven sind so zart, daß sie von der geringsten, etwas lebhaft geführten Unterredung gleich angegriffen wird. Wir mußten abbrechen und kamen zu keiner Verständigung.«

»Der Eltern Hochzeitstag ist Ende Mai.«

»Ja, aber mir brennt der Boden indessen hier unter den Füßen, und jeder Tag wird mir zu einer Ewigkeit werden!«

»Hm,« sagte Hans, »Mutter wird schwer von dem einmal bestimmten Tage abzubringen sein; ich kenne sie darin noch von früher her. Ihr Hochzeitstag ist auch zugleich der Hochzeitstag ihrer Eltern, und wenn ich nicht irre, der Großeltern ebenfalls. Sie hat es uns oft erzählt und dann immer gemeint, ihre Kinder dürften sich auch an keinem andern Tage trauen lassen. Der Vater war also nicht dagegen?«

»Nein; er sprach wenigstens zu meinen Gunsten.«

»Nun, dann bewegen wir doch vielleicht noch Mama, von dem einmal bestimmten Tage abzusehen; ich will selber heut Abend mit ihr sprechen.«

»Du würdest mir dadurch einen großen Dienst erweisen, Hans,« sagte Graf Rauten, »und in drei Tagen könnte dann alles geordnet sein.«

»Nun gut, wir wollen sehen – aber der Wagen hält, und nun unsere Frohnvisiten erst erledigt.«

Daran gingen sie denn auch jetzt mit allen Kräften, fanden aber auch überall fast schon Gesellschaft vor und bei Klingenbruchs besonders ein ganzes Nest von Lieutenants, die von Schaller, da es an Tänzern fehlte, beim halben Dutzend eingeladen hatte.

Zuletzt von Allen suchten sie Schallers selber auf, da sie dort nicht so früh stören wollten; denn es ist keine Kleinigkeit, eine Privatwohnung nach einer solchen Umwälzung wieder in Ordnung zu bringen. Frau von Schaller selber hatte sich darum freilich nicht im Geringsten bekümmert, aber Kathinka dafür mit Hülfe ihres Vaters und der Dienstboten das alles mit einer Schnelligkeit und Fertigkeit besorgt, daß um zehn Uhr Morgens schon keine Spur von der gestrigen Unordnung mehr zu bemerken war.

Als sie vor Schallers Thür hielten, verließ gerade Doctor Potter das Haus. Er sah sehr ernst aus und warf auch den Blick nicht einmal nach der Equipage hinüber, sondern verfolgte ruhig seinen Weg die Straße hinab.

Hans sah ihm nach.

»Kennst Du den Doctor näher?« fragte er Rauten, als sie zusammen in das Haus traten.

»Den Doctor Potter? Gewiß,« nickte dieser; »er ist bei Klingenbruchs und Schallers Hausarzt. Dort habe ich ihn wenigstens einige Male getroffen. Es ist ein sehr ruhiger, anspruchsloser Mensch, soll aber ein ganz tüchtiger Arzt sein – doch ein armer Teufel. Schaller erzählte neulich von ihm, daß er sein ganzes kleines Vermögen daran gewandt habe, um zu studiren, und noch jetzt soll er die Nacht über den Büchern hocken.«

»Er ist nicht verheirathet?«

»Bewahre, er hat zu thun, daß er sich am Leben erhält. Weshalb fragst Du aber?«

»Oh, weil er eben vorüber ging, fiel er mir gerade ein; er war ja gestern ebenfalls oben.«

Das Gespräch war hier abgebrochen, denn Rauten hatte schon geklingelt; die Herren traten ein, und der Baron empfing sie selber mit seinem alten Humor und einem kräftigen Händedruck. »Nun, meine jungen Herren, schon wieder frisch auf den Füßen? Rauten, Sie habe ich gestern Abend wahrhaftig bewundert!«

»Mich, lieber Baron? Weshalb mich im Besondern?«

»Hat eine Braut,« lachte von Schaller, »und flattert dabei um alle Blumen herum wie ein frevelhafter Schmetterling – oh, Sie Duckmäuser, Sie!«

»Aber, bester Baron,« lachte Rauten, der seine alte gute Laune wiedergewonnen hatte, »Sie rechnen mich doch nicht zu jenen langweiligen Petern, die, einmal verlobt, nur einzig und allein ihre Auserwählte den ganzen Abend anschmachten und dabei für alle anderen Menschen ungenießbar sind?«

»Nein, Graf,« schüttelte von Schaller mit dem Kopfe, »kenne Sie besser; war aber famos, wie? Sind noch bis sechs Uhr heute Morgen zusammengeblieben, wie Sie schon fort waren. Die jungen Leute werden mir überhaupt in jetziger Zeit viel zu solide und, wenn ich so sagen kann, blasirt – sie tanzen nicht mehr. Drei oder vier davon haben sich den ganzen Abend im Rauchzimmer herumgetrieben; ich hätte sie umbringen können; wenn man sich nicht einen Zug junger Officiere engagirt, hat man nicht einmal Tänzer genug für die Damen.«

»Und wo sind Ihre Damen?« sagte Hans.

»Meine Frau,« lachte Schaller, »ist erst vor einer Stunde aufgestanden und hat die Zeit gebraucht, um Toilette zu machen. Kathinka aber war schon früh bei der Hand, und wir Beide haben indeß das ganze Haus in Ordnung gebracht – Heidenconfusion natürlich – Kathinka wird aber gleich erscheinen. Bis jetzt habe ich hier gesessen und die jungen Herren enttäuscht, die heute Morgen kamen, um ihre Visite zu machen. Waren Sie schon bei Klingenbruchs?«

»Wir kommen eben daher.«

»Der Oberstlieutenant war göttlich,« lachte Schaller, »wie ihm die Fußbank unter den Füßen losging – capitaler alter Bursche, aber eine Seele von einem Menschen!«

Hans lachte. »Und er war ganz unschuldig daran,« sagte er – »ich brachte das Instrument in Gang.«

»Hahahahaha,« schrie Schaller hinaus, »das ist capital. Damit haben Sie wenigstens der Vorlesung ein Ende gemacht!«

»Nehmen Sie mir das nicht übel, lieber Baron,« sagte jetzt auch Rauten, »aber Ihr Hofrath ist wirklich ein entsetzlicher Mensch, und wenn ich einen Namen für ihn brauchte, so würde ich ihn Gesellschaftstiger nennen.«

»Und paßt ausgezeichnet!« lachte Schaller. »Wo Sie ihn sehen, hat er eine angeschwollene Brusttasche, immer mit einem Manuskript darin, und die böse Welt sagt, daß er, in Ermangelung eines Besseren, Morgens seiner alten Haushälterin seine Gedichte vorliest.«

»Aber weshalb laden Sie einen solchen Menschen ein?«

Schaller zuckte die Achseln, »Das ist der Kunstsinn, der in unserer Zeit regiert. Wenn sich die Leute nicht bei einem Kunstgenusse langweilen, war es nicht classisch, nicht anständig. So machen sie's in den Concerten, wo sie bei langweiligen Symphonien nur manchmal durch einen rettenden Trompetenstoß aufgeweckt werden und innerlich Gott danken, wenn es vorüber ist, äußerlich aber entzückt und enthusiasmirt sind. So machen sie's bei Vorlesungen, in denen sie sich zu Tode langweilen, sie aber anhören zu müssen glauben, wenn sie nicht für ungebildete Menschen gelten wollen. Der Hofrath ist eine wahre Strafruthe in der Stadt, aber er wird überall eingeladen, und meine Frau hätte sich ihre Locken ausgerauft, wenn er gestern Abend bei uns gefehlt hätte. – Keine Rose ohne Dornen, meine Herren,« setzte er lachend hinzu, »und Hofrath Märzen wird deshalb überall als Dorn engagirt. Aber da kommen die Damen,« sagte er, während die jungen Leute von ihren Stühlen emporsprangen – »meine liebe Frau hat ihre Toilette wirklich schon beendet.«

Er hatte Recht. Mit einer unnachahmlichen Grazie schwebte Frau von Schaller herein, die langen Locken umflatterten ihre mageren Wangen, im Haar oben trug sie schon Morgens früh einen kleinen Vergißmeinnichtkranz, und jede Bewegung war dabei überschwänglich und affectirt.

»Oh, das ist ja sehr liebenswürdig, daß Sie uns so früh, ich möchte sagen mit der Morgendämmerung aufsuchen,« lächelte sie (es hatte, beiläufig gesagt, schon halb Eins geschlagen, und der Handwerker rechnete es Nachmittag), »mein lieber Graf Rauten, mein lieber Herr von Solberg – aber bitte, behalten Sie Platz – Sie werden sich nach der gestrigen Anstrengung kaum genügend ausgeruht haben.«

»Gnädige Frau,« sagte Graf Rauten, »ich fühle mich glücklich, Sie so wohl anzutreffen – Sie blühen wie eine Rose …«

»Oh Sie Schmeichler!« sagte die alte Schachtel verschämt, indem sie den Kopf wie ein junges Mädchen von vierzehn Jahren auf die Seite neigte.

»Mein gnädiges Fräulein,« hatte Hans indessen Kathinka begrüßt, »wir wollten uns persönlich überzeugen, wie Ihnen der gestrige Abend bekommen ist.«

»Sie sind sehr freundlich, Herr Baron,« lächelte das junge Mädchen – »Sie sehen vollkommen gut.«

Sie sah ihn mit Ihren großen, dunkeln Augen treuherzig an, und wie sie da vor ihm stand, die schlanke, edle Gestalt in einem schlichten Hauskleide, das volle kastanienbraune Haar hinten zu einfachen Zöpfen zusammen gewunden, mußte sich Hans wirklich gestehen, lange kein so wahrhaft schönes Mädchen gesehen zu haben. Er hielt auch ihre Hand länger als er eigentlich gesollt in der seinen, und erst als er fühlte, daß sie suche sich von ihm frei zu machen, ließ er sie erschreckt los.

Die kleine Gesellschaft setzte sich jetzt, Hans nicht ohne einen mißtrauischen Blick auf den ihm nächsten Stuhl, und Schaller, als er es bemerkte, lachte laut auf.

»Nein,« rief er. »Sie haben nichts zu fürchten, Solberg! Dort drüben in der Ecke steht der Missethäter!«

»Und wenn er mein wäre, hätte ich ihn lange in's Feuer gesteckt,« sagte Frau von Schaller; »aber lauter solche verrückte Ideen hat der schreckliche Mann im Kopfe!«

»Das war eine der besten, die ich in meinem ganzen Leben gehabt habe,« rief von Schaller lachend, »denn ich gebe Ihnen mein Wort, in die steifste Gesellschaft kommt Bewegung, sowie der Stuhl seinen Marsch beginnt – und hat uns nicht gestern erst die Fußbank erlöst?«

»Du bist unausstehlich,« sagte seine Gattin; »es war so tactlos als möglich von dem guten Oberstlieutenant.«

Schaller warf einen verschmitzten Blick nach Hans hinüber, verrieth ihn aber nicht, und dieser achtete kaum auf das Gesagte, denn er befand sich schon mit Kathinka in eifrigem Gespräch.

»Haben Sie heute Morgen schon viel Besuch gehabt?«

»Ich sehe da die Karten von verschiedenen Herren; da wir aber so viel zu thun hatten, um das Haus wieder in Ordnung zu bringen, hat sie Vater empfangen.«

»Wir begegneten gerade dem Doctor Potter, als wir das Haus betraten,« sagte Hans, und sein Blick beobachtete dabei scharf die Züge des jungen Mädchens; aber Kathinka blieb so ruhig als vorher.

»Es ist möglich,« sagte sie, »ich habe noch Niemand gesehen – die Herren sollten bedenken, daß man nach einem solchen Wirrwarr, wie eine derartige Gesellschaft doch stets verursacht, immer einiger Zeit bedarf, um alles wieder an seinen Platz zu bringen.«

»Wir sind deshalb auch zu Ihnen zuletzt gekommen,« sagte Hans, der sich jetzt fest davon überzeugt fühlte, daß ein in ihm aufgestiegener leiser Verdacht vollkommen unbegründet sei. Für Kathinka war Doctor Potter ein gleichgültiger Mensch.

»Es war recht freundlich von Ihnen,« sagte das junge Mädchen lächelnd; »aber weshalb verließen Sie uns gestern so früh?«

»Früh war es allerdings,« lachte Hans, »denn es ging gegen Morgen; aber meine Mutter kann das späte Aufsitzen nicht vertragen, und Fränzchen fühlte sich auch etwas angegriffen.«

»Sie hat viel getanzt.«

»Ihr alter Fehler – aber ich hoffe, daß wir das Versäumte in nächster Zeit in unserem Hause nachholen sollen. Vater sprach heute Morgen davon, und da das Wetter wieder so winterlich geworden ist, so können wir uns noch immer ein wenig in den Winter hineinträumen.«

Es war, als ob Kathinka etwas darauf erwidern wolle – aber sie schwieg, und da Graf Rauten jetzt das Zeichen zum Aufbruch gab – denn solche Besuche dürfen nicht zu lange ausgedehnt werden –, erhob sich auch Hans.

»Apropos, Solberg,« rief Herr von Schaller, »sind Sie Jäger?«

»Allerdings sehr aus der Uebung gekommen,« sagte dieser, »denn in Peru giebt es nichts zu schießen, wenigstens nicht um Lima herum.«

»Wollen Sie morgen mit auf den Entenfall? Ich habe heute Nachricht bekommen – die Strich-Enten finden sich schon in Masse ein.«

»Ich habe nicht einmal ein Gewehr.«

»Ich borge Ihnen eine famose Zündnadel – kommen Sie mit. Wir bleiben aber über Nacht weg und setzen uns Abends und Morgens an, wenn mir nicht gemeldet wird, daß sie Auerhähne verhört haben.«

»Das wäre allerdings famos!«

»Also topp – morgen Nachmittag um vier Uhr holen Sie mich ab. Wir fahren in einer Stunde hinaus, und all' Ihr Jagdzeug sollen Sie bei mir bereit finden.«

»Angenommen!« rief Hans. »Auf eine ächt deutsche Jagd habe ich mich schon lange gefreut!«

»Wie ist es mit Ihnen, Rauten? Haben Sie Lust, mitzufahren?«

»Ich danke sehr,« lächelte dieser; »ich bin ein sehr leidenschaftlicher Jäger, wenn ich es bequem haben kann, aber von Ihrer Auerhahnbalz bitte ich Sie doch, mich zu dispensiren. Morgens um halb zwei Uhr aufstehen und im Dunkeln einen hohen, nassen Berg hinaufklettern, nur der Möglichkeit wegen, einen dieser plumpen Vögel von seinem Aste herunter zu schießen, ist nicht meine Sache. Wenn ich auf meiner Jagd Auerhähne hätte, würde ich diesen Genuß meinem Jäger überlassen.«

»Dann sind Sie auch kein ordentlicher Jäger,« rief Schaller, »oder Sie machten sich wahrhaftig aus den Strapazen nichts! Dann gehen wir allein, Solberg, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie zum Schuß kommen!«

»Und bei dem Wetter!« sagte Frau von Schaller.

»Bah,« rief ihr Gatte, »der Wind hat sich seit etwa einer Stunde gedreht, und wir haben morgen klaren Himmel!«

Als sich Hans wieder rasch Kathinka zuwandte, sah er, wie ihr Blick fest, aber auch ernst auf ihn gerichtet war, aber sie wandte das Antlitz ruhig von ihm ab, und nur erst, als er sich bei ihr verabschiedete, grüßte sie ihn wieder freundlich wie vorher.


Während Hans von Solberg und Graf Rauten ihre Besuche beendet hatten und wieder heimwärts fuhren – Beide dem Glück im Schooß und, wie es schien, von keiner Sorge bedrängt –, saß drüben in der Wohnung des Meisters Handorf der kranke Sohn am Fenster in des Vaters Lehnstuhl und schaute, das bleiche Antlitz in die Hand und den Ellbogen auf die Lehne des Stuhles gestützt, hinter dem mit Gaze verhangenen Fenster in trübem Sinnen auf die Straße hinaus.

Er sah noch recht elend aus. Der sonst so kräftige, gesunde Mensch war nicht allein von einem Fieber ergriffen gewesen, sondern sein Geist, seine Gedanken, die in ihm arbeiteten und ihn marterten, hatten auch noch dabei mit geholfen, ihn vollständig nieder zu drücken. Das braune, volle, etwas gelockte Haar hing ihm in dichten Büscheln über die bleiche Stirn, die Augen lagen ihm in den von einem recht häßlichen schwarzen Rand umgebenen Höhlen, und die Hand selber sah so weiß und durchsichtig aus, als ob sie nie geschafft und sich das Leben mit harter Arbeit und saurem Schweiß erkämpft habe.

An dem heutigen Tage hatte er zum ersten Mal sein Lager wieder verlassen, um in dem Wohnzimmer eine andere Luft zu athmen; aber das Wetter draußen konnte nicht dazu dienen, ihn aufzuheitern, es war so trübe wie sein eigenes Herz, und wenn er auch keine Thräne mehr hatte für den überstandenen Jammer, so kam auch kein Lächeln mehr auf die bleichen Lippen. Es stürmte nicht mehr in ihm, wie da draußen der scharfe Nordwest, der den Schnee und gefrorenen Regen gegen die Fenster peitschte; aber seine Seele glich einem Aehrenfelde, das, vom Hagel niedergemäht und ausgedroschen, in geknickten Halmen den Boden deckt. Es war vorbei mit ihm; seine Jugend gebrochen, sein Leben zerstört, und er dankte dem Arzte nicht für die Sorgfalt, die er auf ihn verwandt. Wäre ihm nicht besser gewesen, wenn er jetzt da drunten in seinem kalten Grabe läge!

Margarethe war leise in's Zimmer getreten; sie brachte dem Bruder die erste Fleischbrühe wieder, die er essen durfte, und als sie den Teller auf den Tisch gesetzt, wo schon eine Serviette für ihn ausgebreitet lag, trat sie zu ihm, schlang ihren Arm um seine Schulter und sagte mit ihrer weichen, liebevollen Stimme: »Wie geht es Dir jetzt Karl? Fühlst Du Dich etwas besser?«

»Meine Margareth,« sagte der junge Mann, ohne das Auge zu ihr zu erheben, nur seinen Kopf lehnte er langsam auf ihren Arm – »meine treue Pflegerin, wie soll ich Dir danken?«

»Aber, Karl, rede doch nicht so!« bat das junge Mädchen. »Wenn ich krank wäre, würdest Du mich doch ebenso pflegen.«

»Du meinst es auch gut mit mir; Du hältst mich nicht für schuldig …«

»Aber, Karl, die Eltern doch auch nicht!«

»Die Mutter vielleicht nicht,« sagte der Kranke leise, »aber des Vaters Blick ruht manchmal so in Angst und Zweifel auf mir, daß es mir das Herz zerreißen möchte.«

»Nein, Karl, nein,« rief Margarethe angstbedrückt, »Dein Mißtrauen allein, das Du gegen alle Menschen fassen mußtest, täuscht Dich da und macht Dich ungerecht gegen ihn! Er mußte Dir ja glauben und that es so gern! Gieb Dich nur jetzt nicht solch' trüben und schmerzlichen Gedanken hin, Du kannst ja sonst nicht gesund werden! Hat es Dir der Arzt nicht auch streng verboten? Und Du weißt doch, wie gut er es mit Dir meint!«

»Ja,« nickte Karl leise vor sich hin, »das ist ein braver Mann, der mich noch nie hat fühlen lassen, daß ich im Zuchthause war …«

»Karl!« bat die Schwester mit thränenden Augen.

»Laß es gut sein, Gretchen,« sagte der Bruder; »seit der Vater neulich beim Notar war und mir die letzte Hoffnung genommen hat, je wieder meine Unschuld zu beweisen und vor den Augen der Welt kein Verbrecher mehr zu sein, seitdem habe ich die Lust am Leben verloren. Wohin soll ich auch? Und zöge ich auch in die fernsten, wildesten Länder Amerikas, von jedem Menschen würde ich fürchten, daß er meine Schande kenne. Ich werde niemals im Stande sein, je wieder einem andern frei in's Auge zu sehen, würde nicht wagen, mich nur mit anderen ehrlichen Leuten an einen Tisch zu setzen.«

»Karl, Karl, Du marterst Dich und mich!« bat das junge Mädchen. »Oh, rede nicht so! Spricht Dich doch Dein eigenes Gewissen frei, und wenn wir uns vor Gott nicht zu fürchten brauchen, können wir der Zukunft froh und getrost in's Auge sehen!«

»Froh und getrost,« seufzte der junge Mann leise vor sich hin. Dann schüttelte er langsam mit dem Kopf und sagte leise: »Nein, Gretchen, Du meinst es gut, aber so wird es nie und nimmer mehr. Mich hat Gott verlassen und seine Hand von mir abgezogen, oder er hätte sonst nicht geduldet, daß ich so Furchtbares ertragen mußte. Es ist vorbei; aber ich will auch nicht mehr klagen und Dir, mein armes Kind, das Herz nur schwer machen. Du hast es wahrlich nicht um mich verdient. Bin ich wieder gesund, dann ziehe ich fort von hier – weit fort. Die Leute sollen dann nicht mehr mit den Fingern auf dieses Haus zeigen und sagen: Da drinnen wohnt jetzt der Mensch, der den Juden todtgeschlagen und beraubt und nachher sechs Jahre im Zuchthause gesessen hat.«

»Was hast Du mir versprochen, Karl?« bat die Schwester.

Der Kranke barg sein Gesicht in beiden Händen, aber er erwiderte kein Wort weiter und blieb so still und schweigend eine ganze Weile sitzen. Er war ruhig geworden, und als ihn die Schwester endlich bat, aufzustehen und seine Suppe zu essen, ließ er sich willig von ihr führen und folgte ihr jetzt wie ein Kind.

»Wo ist der Vater, Gretchen?«

»Er hat heute nothwendige Arbeit außer dem Hause; wir essen auch deshalb später als gewöhnlich.«

»Und die Mutter?«

»Draußen in der Küche; ich sollte ihr eigentlich helfen, ich mochte Dich aber nicht so lange allein lassen. Der Doctor muß auch gleich kommen, denn das ist seine gewöhnliche Zeit, wenn ihn das furchtbare Wetter nicht zurückgehalten hat. Das tobt ja da draußen, als ob es die Schornsteine aus den Dächern herausreißen wollte!«

»Ja,« sagte der Kranke und schaute hinaus auf die Straße, »und doch, Gretchen, so sonderbar das klingen mag, möchte ich jetzt da draußen stehen und mir Regen und Schnee in's Gesicht peitschen lassen.«

»Aber warum denn das, Karl? Du könntest den Tod davon haben.«

»Denke Dir nur, Gretchen,« sagte der Bruder leise, »ich habe seit sieben Jahren keinen Regentropfen im Gesicht gefühlt.«

Es war gut, daß er die Schwester nicht dabei ansah, denn ihr quollen die hellen Thränen aus den Augen nieder; aber sie wandte sich ab, zog die Schieblade heraus, in der ihre Messer und Gabeln lagen, und rasselte zwischen denen herum.

»Wenn der Doctor nur käme,« sagte Karl nach einer längeren Pause, in der er jetzt die ihm gebrachte Suppe gegessen hatte; »er ist immer so gut und freundlich, und es thut mir so wohl, wenn er bei mir ist! Unser Doctor da draußen war immer so rauh und grob mit den Leuten.«

»Ich glaube, da kommt er schon,« sagte Margarethe rasch, »das war sein Schirm, der da eben am Fenster vorüber ging.«

Sie hatte recht gesehen; draußen klang die Hausthür, nach wenigen Minuten pochte es an die Thür, und Doctor Potter, der den Kranken behandelte, trat in's Zimmer. Er kannte das traurige Schicksal des jungen Mannes, der einem unseligen Verhängniß zum Opfer gefallen und dadurch elend geworden war, und hatte ihn immer mit schonender Sorgfalt behandelt.

Doctor Potter war ein noch junger Arzt von vielleicht acht- oder neunundzwanzig Jahren. Er hatte sich seit etwa drei Jahren hier in Rhodenburg niedergelassen und schon eine sehr bedeutende Praxis bekommen. Man sah ihn überall gern, und doch hielt er sich zurück, nur nicht von seinen Kranken, deren Pflege er oft mit der größten Aufopferung oblag. Er mußte auch sein gutes Auskommen haben, aber trotzdem schien er immer still und niedergedrückt, und wie gern man ihn auch in die verschiedenen Familien gezogen hätte, er war nur selten zu bewegen, andere als ärztliche Besuche abzustatten. Ja, es ging sogar das Gerücht, daß er beabsichtige, Rhodenburg zu verlassen, obgleich dafür auch nicht der geringste Grund vorlag. Es ist ja das Schwierigste für einen Arzt, sich erst in einer fremden Stadt Bahn zu brechen und eine bestimmte Praxis zu erlangen; hat er die aber erst einmal, dann kann er auch seine Existenz für gesichert halten.

Doctor Potter fand den Kranken heut weit besser, als gestern; er war vielleicht noch nicht ganz fieberfrei, aber sein Puls ging doch ruhiger, und nur davor warnte er ihn, sich nicht unnöthiger Weise aufzuregen. Hatten ihm doch die gerötheten Augen der Schwester schon verrathen, daß wieder etwas Derartiges müsse vorgefallen sein.

Karl versprach alles, und nur danach fragte er, wann der Doctor wohl glaube, daß er seine Reise antreten könne. Er fühle, daß er fort müsse, und draußen in einer fremden Welt würde er sich vielleicht nicht so gedrückt fühlen.

»Ja, lieber Freund,« sagte der Arzt, »das kommt ganz darauf an, wie Sie sich jetzt hier halten. Schütteln Sie die alten Gedanken ab und beschäftigen Sie sich nur mit Ihrer bevorstehenden Reise; lesen Sie viel. Es giebt ja so viele Schilderungen und Reisebeschreibungen, die sich auf jene fernen Länder beziehen; das wird Sie auf der einen Seite belehren, auf der andern aber auch zerstreuen, und ich kann Ihnen dann versprechen, daß Sie vielleicht schon in vier Wochen im Stande sein werden, Ihre Wanderung anzutreten.«

»Meine Wanderung – « sagte der junge Mann wehmüthig.

»Draußen auf der blauen See werden Sie sich dann bald wieder vollständig erholen und kräftigen – ach ich wollte, ich könnte mit Ihnen ziehen!« setzte er mit einem kaum unterdrückten Seufzer hinzu; »war es doch auch immer meine Sehnsucht, einmal das blaue, endlose Meer zu sehen.«

»Ja, ich glaube auch, daß mir dort wieder wohl wird,« nickte Karl – »aber auf keinem deutschen Schiffe gehe ich fort von hier!« setzte er rasch hinzu.

»Ich habe Ihnen schon gesagt, lieber Handorf,« erwiderte freundlich der Doctor, »daß ich Ihnen einen Brief an einen Arzt in Southampton mitgeben werde. Dort schiffen Sie sich ein und finden da fast jeden Tag Gelegenheit. Machen Sie sich deshalb keine Sorge.«

»Und dort sind keine Deutschen?«

»Deutsche wohl,« sagte Potter gutmüthig, »aber Sie könnten ein Jahr dort bleiben, ehe Sie einen Mann aus Rhodenburg, und zehn Jahre, ehe Sie einen Bekannten träfen.«

Der junge Mann nickte nur langsam mit dem Kopfe; er fühlte sich doch noch recht schwach. Das Reden hatte ihn auch vielleicht angestrengt, und der Arzt, der dem Mädchen nur noch einige Verhaltungsregeln zuflüsterte, zog sich dann leise zurück, um ihn nicht zu stören.

Karl saß still und in sich zusammengesunken in seinem Stuhl. »Oh, wenn ich doch sterben könnte!« stöhnte er lautlos vor sich hin und fiel dann in einen leichten, aber unruhigen Schlaf.



 << zurück weiter >>