Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

18.
Besuche


Rhodenburg war eigentlich eine ziemlich stille Stadt, wenn sich der Hof nicht dort für die kurze Zeit aufhielt, wonach dann, wie die Rhodenburger sagten, die Butter theurer wurde. Sonst schien das aber auch keinen besondern Einfluß auf die Stadt zu haben, denn die Herrschaften residirten dann auf dem Jagdschlosse draußen, und nur ihre zahlreichen Begleiter wie eine Anzahl von Gästen wurden in der Stadt einquartiert; auch fanden einzelne Paraden statt, und die höheren Beamten durften sich einer gelegentlichen Einladung im »Schloß« versehen.

Aber diese Zeit war noch nicht herangerückt; im Monat Mai ruht die Jagd, und bei den jetzt prachtvollen Tagen und Abenden strömte halb Rhodenburg hinaus vor die Thore, um dort draußen der dicken Luft der Stadt enthoben zu sein und dünnen Kaffee mit ledernem Kuchen zu verzehren. Die Leute nannten das eine »Landpartie« und kehrten dann abends, über und über bestaubt, in hellen Schwärmen in die engen Straßen der Stadt zurück.

Die beiden Hochzeitstage, Dürrbeck's sowohl als der in der Solberg'schen Familie, rückten mit jedem Tage näher, denn Frau von Solberg hatte Rauten's Bitten, die Trauung zu beschleunigen, nicht nachgegeben. Die gnädige Frau schien sich nun einmal in den Kopf gesetzt zu haben, daß die Ehe ihrer Tochter keine glückliche sein könne, wenn sie nicht an dem bestimmten Tage gefeiert würde, und gegen solche Vorurtheile kann man natürlich nicht mit Vernunftgründen ankämpfen. Der Glaube, in welcher Weise er auch auftritt, – denn wer überhaupt ist im Stande, über Glauben und Aberglauben zu entscheiden? – wird unantastbar und bildet sich immer seine eigene Welt.

Fröhliche Tage verlebte in dieser Zeit Hauptmann von Dürrbeck in der Gewißheit seines nahen Glückes. Die Sache mit dem Director war in der That arrangirt worden. Dürrbeck, der ein ziemlich bedeutendes Vermögen besaß, hatte die tausend Thaler für Director Sußmeyer deponirt, die ihm dann an dem nämlichen Tage, wo Fräulein Blendheim aus ihrem Contract trat, ausgezahlt werden sollten, und Constanze Blendheim sich bei ihrem Bräutigam nur ausbedungen, noch einmal außer ihrem Engagement, und zwar zum Besten der in ihrer Gage sehr schlecht gestellten Choristen, aufzutreten und damit Abschied von dem Publikum zu nehmen. Ob dabei nicht eine kleine Künstlereitelkeit mit im Spiele war, wer kann es sagen – denn der Director, in einer kleinlichen Rancune, daß sie überhaupt die Bühne verließ, hatte sie in der letzten Woche absichtlich entsetzlich wenig beschäftigt. Diese Vorstellung aber, die den ganzen Chor betraf und noch außerdem an einem Abend stattfinden sollte, an welchem sonst nicht gespielt wurde, konnte er ihr nicht weigern, er hätte sonst nicht allein das ganze Personal, sondern auch die ganze Stadt gegen sich gehabt, und er war klug genug, das zu vermeiden.

Dürrbeck hatte indessen auch seinen Freund Hans von Solberg bei seiner Braut eingeführt und dieser, mit keinem der albernen Vorurtheile seines Standes, ihm von Herzen Glück zu einer solchen Verbindung gewünscht. Sie waren eben wieder bei ihr oben gewesen, denn Dürrbeck, der sich ein reizendes Quartier in der Stadt gemiethet, hatte natürlich noch so Manches mit seiner Braut zu besprechen, und Hans, eine äußerst praktische Natur, konnte ihm dabei vortreffliche Rathschläge geben. Die beiden jungen Leute schritten jetzt Arm in Arm wieder die Straße hinab, und jeder von ihnen war eine Weile mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, bis Hans endlich das Schweigen brach.

»Ich kann Dir nicht sagen, Bernhard, wie sehr ich Dein Glück fühle; Du hast da eine Perle gefunden und – gewonnen, und ich bin überzeugt, daß Du glücklich mit Deiner Constanze leben wirst.«

»Und hast Du je daran gezweifelt, Hans?« rief Dürrbeck mit leuchtenden Augen. »Giebt es ein reizenderes, geistvolleres Wesen auf der Welt? Und dann solltest Du sie näher kennen lernen, wie wirthschaftlich sie ist, wie sie sich sorgt und müht, und der Geschmack dabei, den sie im Arrangiren zeigt! Sie ist eine Perle, und wenn Du meinem Rathe folgst, so suchst Du Dir bald ein Gegenstück dazu.«

»Hm,« sagte Hans, »möchte aber vielleicht nicht so bald zu finden sein. Ich weiß nicht, was ich bis jetzt hier von Brautpaaren gesehen habe, reizt mich auch gerade nicht besonders, meine Freiheit mit diesen »Rosenketten« zu vertauschen. Du allein könntest mich wieder schwankend machen …«

»Du bist oft bei Schallers,« sagte Dürrbeck und sah den Freund von der Seite an – »Kathinka ist wirklich ein prächtiges Mädchen.«

»Ja,« nickte Hans, »das ist sie in der That, aber ich werde nicht aus ihr klug, und so herzlich sie manchmal sein kann, daß es Einem das Blut rascher durch die Adern jagt, so kalt und abstoßend ist sie dann wieder – und ihre Eltern – apropos, Bernhard, was hältst Du von Schaller selber?«

Dürrbeck zuckte mit den Achseln. »Wenn mich irgend Jemand in der Stadt danach fragen wollte, so würde ich ihm jedenfalls eine ausweichende Antwort geben; Dir aber gegenüber, Hans möchte ich nicht mit meiner Meinung zurückhalten, und die ist dem Schaller'schen Ehepaare gerade nicht besonders günstig.«

»Aber in welcher Weise?«

»Soll ich aufrichtig sein, so kann ich Dir einen eigentlichen Grund dafür nicht angeben. Ich weiß wenigstens nicht das geringste Nachtheilige über sie, aber auch nicht das geringste Gute. Er ist jedenfalls ein sehr kluger Geselle, der sich durch alle Lebensverhältnisse geschickt durchzuwinden weiß.«

»Und glaubst Du, daß er das nöthig hat?«

Dürrbeck schwieg eine Weile. – »Ich wiederhole nicht gern, was in der Stadt gesprochen wird, aber seit etwa acht Tagen bin ich hier und da nach Schallers gefragt worden, ob ich etwas Näheres über ihre Lebensverhältnisse wisse und ob sie »reich« wären.«

»Junge Leute fragten danach?« lächelte Hans.

»Doch nicht so ganz, wie Du meinst,« sagte Dürrbeck, »und dennoch macht mich wieder die Tochter irre. Ich weiß aus sehr guter Quelle, daß sich vor wenigen Tagen ein sehr wohlhabender und anständiger Herr aus guter Familie um ihre Hand beworben und einen Korb bekommen hat.«

»Aus guter Familie?«

»Aus sehr guter Familie und noch in den besten Jahren. Schaller selbst soll außer sich darüber gewesen sein und eine heftige Scene mit seiner Tochter gehabt haben.«

Hans hatte anfangs an seine tausend Thaler gedacht, die ihm Schaller allerdings noch nicht zurückgezahlt; die letzten Worte des Freundes lenkten seine Aufmerksamkeit aber wieder auf einen andern Punkt.

»Es ist in der That ein merkwürdiges Wesen,« sagte er, »und ihren beiden Eltern so unähnlich wie nur irgend möglich. Uebrigens muß ich gestehen, daß ich sie seit einiger Zeit gar nicht gesehen habe, und eigentlich hatte ich die Absicht, heute Morgen einmal dort vorzusprechen. Hast Du nichts Besonderes vor, Bernhard, so können wir ja einmal zusammen hinaufgehen.«

»Gern, wir sind überhaupt hier in der Nähe; nur verhüte Gott, daß wir der Frau von Schaller allein in den Weg laufen, denn die kann wirklich fürchterlich sein.«

»Sie ist überspannt …«

»Ja, sie ist fast mehr als das, und ich glaube auch fest, ihr höchster Wunsch schon deshalb, Kathinka bald aus dem Hause zu bekommen, damit sie nicht mehr als Mutter einer erwachsenen Tochter dasteht und wieder einmal als »junge Frau« glänzen kann. Sie leistet darin Außerordentliches.«

»Lieber Gott,« lachte Hans, »jeder Mensch hat eigentlich seine kleine Schwäche, und ich will gern zugestehen, daß sie davon eine etwas größere Portion besitzt als manche andere Leute, sonst aber scheint sie mir auch wieder seelensgut, und ich habe noch nie ein unfreundliches Wort von ihr gehört – aber da sind wir!«

Die beiden jungen Leute stiegen die Treppe hinauf und wurden oben ohne Weiteres eingelassen. Das Mädchen erklärte ihnen aber, daß die »gnädigen Herrschaften« nicht zu Hause seien. Der gnädige Herr wäre schon früh weggegangen und die gnädige Frau erst vor einer halben Stunde, sie käme auch vielleicht bald wieder, aber das gnädige Fräulein wäre »drinnen.«

»Und wollen Sie anfragen, ob uns das gnädige Fräulein empfangen will? Von Solberg und Hauptmann von Dürrbeck.«

Das Mädchen kam nach wenigen Minuten wieder heraus und bat die Herren, nur gefälligst einzutreten, das gnädige Fräulein würde gleich erscheinen. Dabei öffnete sie die Thür des Salons, und die beiden Herren fanden sich gleich darauf in dem jetzt gewissermaßen verödeten Raume, denn die Möbel waren von weißen Ueberzügen verdeckt und die Rouleaux noch nicht einmal emporgezogen. Das Mädchen ging übrigens augenblicklich daran, wenigstens den letztern Uebelstand zu verbessern, und Dürrbeck betrachtete sich indessen die beiden Portraits der Familie Schaller, die in großen Rahmen an der Wand hingen.

Frau von Schaller mußte in der That einmal hübsch gewesen sein, obgleich die Zeit schon ziemlich fern lag. Wenn auch nicht in ihrem Angesicht, das die darüber hingegangenen Jahre nicht Lügen strafte, so hatte sie sich aber jedenfalls in ihrer Toilette außerordentlich conservirt, denn sie ging heute noch genau so gekleidet und trug genau so ihre Haare, wie als junge, damals vielleicht achtzehn- oder neunzehnjährige Frau, ja, hatte sogar noch das etwas kindlich affectirte Wesen, das sich auch deutlich in diesem sonst vortrefflich gemalten Bilde ausprägte.

Kathinka von Schaller gab ihnen aber nicht lange Zeit, sich in dem Saal allein zu beschäftigen.

»Mein gnädiges Fräulein,« rief Hans, sie begrüßend, »wir wollten uns das Vergnügen nicht versagen, Sie wieder einmal heimzusuchen, um uns persönlich zu überzeugen, wie es Ihnen und Ihren Eltern geht.«

»Sie sind sehr freundlich,« sagte Kathinka, aber doch mit einem forschenden Blick auf Hans, als ob sie noch etwas Anderes hinter seinen Worten suche; »doch wollen die Herren nicht hier in das Wohnzimmer treten? Zu einem freundschaftlichen Besuche brauchen wir ja keine Form, und es ist drüben viel gemüthlicher.«

»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen,« sagte Hans herzlich; »denn ich muß Ihnen aufrichtig gestehen, ich persönlich mag diese Empfangssäle auch nicht leiden. Sie kommen mir immer vor wie ein Wartesalon erster Klasse auf einer Eisenbahnstation. Sie sind stets leer und kalt und dabei so ungeheuer ordentlich gehalten.«

»In einem Wohnzimmer ist es auch mir immer gemüthlicher,« versicherte Dürrbeck, indem sie zusammen hinüberschritten, das Mädchen ihnen etwas verdutzt nachsah und dann mit einem: »Na, meinswegen lasse ich sie wieder 'runter!« die eben aufgezogenen Rouleaux wieder niederließ. – »Es darf nicht zu ordentlich aussehen, es muß wenigstens eine Arbeit, ein offenes Buch oder sonst etwas da liegen, daß man sieht, es wird von Menschen benutzt. Ihre Eltern sind ausgegangen?«

»Ja, der Vater schon heute in aller Frühe; die Mutter wird aber gewiß bald zurückkommen. Aber, Herr von Dürrbeck,« setzte sie leise erröthend hinzu, »ich glaube, man darf Ihnen ja jetzt Glück wünschen, denn wie ich höre, ist der Tag Ihrer Verbindung fest angesetzt und wird noch in diesem Monate liegen.«

Ich hoffe ja und danke Ihnen herzlich für Ihren freundlichen Wunsch.«

»Und wollen Sie uns nicht einmal Ihre Braut zuführen? Wir sind so nahe Nachbarn.«

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte Dürrbeck, und seine Augen leuchteten dabei, »ich kann ihr nichts Besseres wünschen, als gerade Ihre Bekanntschaft zu machen, und wenn ich darf, sollen Sie nicht lange darauf zu warten haben.«

»Wir könnten so hübsch zusammen musiciren.«

»Und wie gern würde Constanze einer solchen Einladung folgen!«

Das Gespräch wurde jetzt allgemein und wandte sich zuerst auf das Theater, dann nach anderer Richtung zu; Hans von Solberg konnte aber nicht umhin, zu fühlen, daß sich Kathinka vorzugsweise nur dabei an den Hauptmann wandte und auf einzelne Bemerkungen, die er machte, entweder gar nicht einging oder doch nur flüchtig darüber hinwegglitt. So kalt hatte sie sich ihm eigentlich noch nie gezeigt, und zwar so auffällig kalt, daß es selbst Dürrbeck bemerkte und sich später darüber gegen den Freund äußerte.

Noch während sie zusammen sprachen, entstand ein Tumult auf der Straße, und alle Drei traten an die Fenster, um zu sehen, was es da draußen gäbe. Es ließ sich aber von hier aus nichts weiter erkennen, als daß die Leute von rechts so rasch sie konnten, den Brink hinab liefen, wo sich eine Menschenmenge gesammelt zu haben schien.

Hans hatte das Fenster geöffnet, sah hinaus und bemerkte jetzt, wie auch Herr Hofapotheker Semmlein, in voller Flucht und ein paar Flaschen in der Hand, dem Schauplatz zueilte. Da er schräg über die Straße rannte, bemerkte ihn Kathinka ebenfalls und sagte scheu:

»Oh, um Gottes willen, da ist gewiß wieder ein Unglück geschehen! Die armen Menschen, die das betroffen hat!«

Drüben an den Fenstern sammelten sich ebenfalls die Bewohner. Constanze Blendheim sah heraus und grüßte freundlich, als sie den Hauptmann sich gegenüber bemerkte. Auch Director Sußmeyer stand, jetzt ohne Rüstung, wieder in seinem rothseidenen Schlafrocke und den Kopf voll Papilloten, am offenen Fenster und zog sich zurück, als ihn die Straßenjungen bemerkten und Interesse an ihm nahmen.

»Kiek emal den Kerl an mit de witten Locken!« Einer der Jungen hatte auch unglücklicher Weise ein kleines, kurzes Blasrohr und Thonkugeln und sandte eine davon so geschickt nach dem geweihten Haupte, daß sie den Director gerade oben auf die Nasenwurzel traf. Wie er sich erschreckt mit der Hand dahin fuhr, brachen die Jungen in ein wahres indianisches Jubelgeheul aus, hatten aber keine Zeit, sich länger mit ihm aufzuhalten. Sie mußten wissen, was dort vorging, während Director Sußmeyer nicht mehr neugierig zu sein schien, denn er verschwand spurlos von seinem Fenster.

»Ich glaube, es sind Pferde durchgegangen,« sagte Hans; »ich sehe da wenigstens einen Wagen führen, von dem man die Pferde abgespannt hat.«

»Die Menschen sind auch so unvorsichtig, und besonders mit Pferden. Sie, Herr von Solberg, ritten auch neulich ein so wildes Thier hier vorüber, daß ich in Todesangst war, es könne ein Unglück geschehen.«

»Der Rappe ist etwas wild,« lachte Solberg. »Sonderbar, daß die schwarzen Pferde, und mehr fast noch die Füchse, einen harten, die letzteren sogar häufig einen boshaften Charakter haben, wahrend weiße und braune Thiere fast immer gutmütiger Art sind. Ja, man will sogar behaupten, daß sich selbst mit den Menschen der Charakter im Haar auspräge oder ihn wenigstens andeute. Das aber würde nur für Europa maßgebend sein, denn alle anderen Völker tragen allein schwarzes Haar, und darunter doch die verschiedensten Charaktere, die sich denken lassen.«

»So lassen Sie uns einmal unsere Bekannten durchgehen,« lachte Dürrbeck, der, als sich Constanze drüben vom Fenster zurückgezogen, ebenfalls seinen Platz wieder eingenommen hatte, »Sie, mein gnädiges Fräulein, haben sehr schönes kastanienbraunes Haar, also einen milden Charakter – das würde stimmen. Deine Schwester, Hans, hat schwarzes Haar, aber es ist wahr, auch, wenn ich nicht irre, einen etwas härteren Character; ich glaube, sie wird ihrem Manne einmal zu schaffen machen.«

»Und Rauten ist blond,« sagte Hans.

»Ja,« meinte Dürrbeck, »ich weiß nur nicht, ob wir blonde Haare da hineinziehen dürfen, denn diese sind besonders eine Eigenschaft des Nordens, wie das schwarze Haar eine des Südens ist.«

»Dann kommen wir aber zu keinem Resultat,« lächelte Kathinka, »denn als Mittelfarbe würden nur rothe und braune gelten können.«

»Warten Sie einmal,« sagte der Hauptmann, »wer hat denn eigentlich von unseren Bekannten rothe Haare, gegen die doch immer ein Vorurtheil besteht?«

»Mein Vater,« lachte Kathinka; »wissen Sie das nicht?«

»Wahrhaftig,« rief Dürrbeck und wurde doch ein wenig verlegen, »daran habe ich im Augenblick gar nicht gedacht; aber die Sache stimmt auch nicht und mag auf Pferde passen, aber nicht auf Menschen. Außerdem ist auch noch die Farbe der Haare erblich, während der Charakter des Menschen das nie sein kann.«

»Und doch arten viele Kinder den Eltern nach.«

»Das gebe ich zu; dann liegt es aber in der Erziehung, nicht in einem angeborenen Vorzug oder Fehler.«

»Darin bin ich Deiner Meinung, Bernhard,« warf Hans ein, der sich aber heute auffallend schweigsam zeigte; »das Antlitz des Menschen, der Ausdruck in seinen Zügen kann und mag sich dem Charakter anpassen, aber nie das Haar, denn blonde Menschen müßten sonst die sanftesten sein, und doch finden wir in Norwegen und Schweden unter den Tausenden von blonden Köpfen eben so viel rohes und wüstes Volk, als hier bei uns, als im Süden bei den schwarzlockigen Völkern. Ich trat auch gar nicht für die Hypothese auf, sondern erwähnte nur einen Volksglauben, der ja so leicht zum Aberglauben wird und dennoch seine Consequenzen zieht. Doch wir gerathen da auf ein viel zu ernstes Capitel. Was sagen Sie dazu, gnädiges Fräulein, wenn Sie uns, bis Ihre Eltern kommen, eins Ihrer reizenden Lieder spielten? Es wäre zu liebenswürdig!«

Kathinka zögerte. »Ich muß bitten, daß mich die Herren heute entschuldigen,« sagte sie; »ich weiß nicht, es hat mich eine so eigene Unruhe erfaßt, vielleicht trägt der Tumult vorhin auf der Straße die Schuld. Es ist für mich etwas gar so Unheimliches, wenn ich weiß, es ist irgendwo ein Unglück geschehen, und sehe, wie sich alles hinzudrängt, um nur den fürchterlichen Anblick nicht zu versäumen. Ich kann mir dann nicht helfen; ich male mir im Geiste das Geschehene immer viel gräßlicher aus, als es vielleicht in Wirklichkeit war.«

»Aber, gnädiges Fräulein,« lachte Hauptmann von Dürrbeck, »wir wissen noch gar nicht, ob ein Unglück vorgefallen ist, denn unsere guten Rhodenburger begnügen sich für eine augenblickliche Erregung selbst mit dem Unbedeutendsten. Gestern zum Beispiel ging ich über den Markt und sah an der einen Ecke vor einem großen Prellsteine, der dort angebracht ist, damit die Wagen nicht die Ecke des Hauses selber streifen, eine Menge von Menschen stehen. Da mich mein Weg dort gerade vorüber führte, so fragte ich einen der Umstehenden, was es hier gäbe. »Ja, sehen Sie,« antwortete mir der gute Mann, »an den Prellstein da fuhr eben ein Wagen an; das Rad ging wenigstens so hoch daran hinauf, und beinahe wäre er umgeschlagen.« Das war das ganze Unglück, und die Leute sammelten sich nun dort in Schaaren und betrachteten den einfachen Stein, den sie alle Tage mit viel weniger Mühe sehen konnten.«

Draußen die Vorsaalthür klingelte und Kathinka horchte hinüber.

»Ich glaube, da kommt der Vater,« sagte sie.

Und in der That kamen auch die Schritte rasch näher, die Thür öffnete sich, und mit einem fröhlichen: »Hollah, da finde ich Gesellschaft!« stand der alte Herr auf der Schwelle und schüttelte auch schon im nächsten Augenblick die Hände der beiden Herren aus Leibeskräften.

»Das ist vernünftig,« rief er dabei, »und nicht einmal im Besuchszimmer, sondern freundschaftlich, wie es sich gehört, in der Wohnstube! Aber Du, Kathinka, bist mir eine schöne Wirthin, keine Cigarren, kein Glas Sherry – pfui, schäme Dich!«

»Aber, lieber Vater, ich wußte nicht …«

»Was wußtest Du nicht? Daß die Herren rauchen und trinken? Das Kind ist wirklich göttlich naiv; aber nun auch rasch, Schatz, mache Deinen Fehler wieder gut.«

Kathinka trat hinüber an das Buffet, holte Flaschen und Gläser und brachte dem Vater dann die Cigarrenkiste, während Schaller indessen fortplauderte und in der That Niemand weiter zu Worte kommen ließ.

»Apropos,« rief er dabei, »eben haben wir dort an der Ecke eine kleine Scene gehabt – es giebt doch immer 'was zu sehen in Rhodenburg –, Doctor Potter ist eben überfahren worden.«

Hans hielt zufällig den Blick auf Kathinka geheftet, die gerade im Begriff stand, aus der Sherryflasche die Gläser zu füllen, und er hörte dabei kaum die Worte, die von Schaller sprach, denn in demselben Moment deckte Leichenblässe Kathinka's Züge, der Wein quoll über das Glas, und das junge Mädchen mußte sich mit der linken Hand und der Flasche auf den Tisch stützen, oder sie wäre wohl selber umgesunken. Hans sprang augenblicklich auf, um ihr beizustehen – Schaller und Dürrbeck schienen gar nicht auf sie geachtet zu haben –, aber sie hatte sich schon selber wieder gefaßt, schüttelte den Kopf, sagte: »Wie ungeschickt!« und wandte sich ab, um ein Tuch herbei zu holen und das übergegossene Getränk wieder aufzuwischen.

»Doctor Potter?« rief Dürrbeck rasch. »Und ist er verunglückt? Das würde Viele in Rhodenburg schwer betreffen.«

»Verunglückt?« lachte Schaller. »Gott bewahre! Die Pferde des Grafen Donnersmark gingen durch, der Kutscher scheint sie wenigstens nicht mehr in der Gewalt gehabt zu haben; unglücklicher Weise war aber gerade eine Schule aus, und drei oder vier Kinder trieben sich mitten in der Straße herum. Wie sie den herandonnernden Wagen nun bemerkten, wollten sie allerdings auf die Seite laufen, wußten aber in der Angst nicht, ob rechts oder links, und wären jedenfalls unter die Hufe und Räder gekommen; aber der Doctor, der gerade vorüberpassirte, sprang noch zur rechten Zeit ein. Wie ein Wetter fuhr er dem Sattelpferd nach dem Kopf, dieses prallte zur Seite und riß das andere mit; dadurch gerieth das Handpferd in die Barrière da oben, über die es mit dem einen Beine hinübersprang und sich nicht unbedeutend verletzte, aber auch nicht mehr fortkonnte, und damit war die ganze Sache abgemacht.«

»Und der Doctor?« fragte Hans, dessen Blick aber noch immer an Kathinka hing.

»Ja,« lachte Schaller, »dem Doctor hätte es schlecht gehen können! Das Pferd konnte er natürlich mitten im wilden Rennen nicht aufhalten, und es riß ihn um, so daß Vorder- und Hinterrad der Equipage über ihn weggingen; aber das leichte Fuhrwerk wurde so rasch über ihn hingerissen, daß es ihm keinen Knochen brechen konnte. Nur eins der Pferde mag ihn mit dem Huf vielleicht gestreift haben, denn er blieb besinnungslos liegen, und wir trugen ihn rasch in das nächste Haus, wo er sich aber schon nach drei oder vier Minuten so vollständig erholte, daß er hätte allein nach Hause gehen können. Der Rock war ihm aber bei der Geschichte vollständig zerrissen worden, und wir mußten erst nach einer Droschke schicken, denn so konnte er sich vor keinem Menschen sehen lassen.«

Kathinka hatte die ganze Zeit, während der Vater sprach, am Buffet gestanden und sich nicht umgewandt.

»Aber Kind,« rief dieser jetzt, »wo bleibt der Wein? Und das Feuerzeug hast Du uns auch noch nicht herüber gegeben!«

Das junge Mädchen trat wieder zum Tische. Sie sah so ruhig aus als vorher, nur ihr Antlitz war noch ein wenig blaß, und als sie dann den Wein credenzte und den Herren die Cigarren anbot, hätte sicher Niemand vermuthen können, daß sie fast noch vor wenig Secunden so heftig bewegt gewesen. Sie mußte eine merkwürdige Gewalt über sich besitzen.

Die jungen Leute hatten aber ihren Besuch länger ausgedehnt, als es anfangs ihre Absicht gewesen. Sie nahmen wieder Abschied, und erst an der Thür faßte Schaller noch einmal Hans' Arm, zog ihn ein wenig bei Seite und flüsterte ihm zu:

»Unser Geschäft machen wir in den nächsten Tagen ab.«

»Schon gut,« sagte Hans lächelnd, »es hat keine Eile.«

Und mit dem Freunde stieg er wieder die Treppe hinab. Als sie unten waren, blieb Hans in der Hausthür stehen, und des Hauptmanns Arm ergreifend, sagte er: »Weißt Du Bernhard, daß ich heute eine Entdeckung gemacht habe?«

»Wo – dort oben?«

»Ja.«

»Und welche?«

»Kathinka liebt den Doctor Potter.«

»Bah, Unsinn – was Dir einfällt! Vielleicht weil sie erschrak, als sie von dem Fall hörte? Dann liebt Constanze auch den Maurergesellen, der neulich von einem Steine erschlagen wurde, denn als ich ihr davon sagte, schauderte sie ebenfalls zusammen.«

»Das war etwas Anderes, Bernhard,« sagte Hans nachdenkend; »glaube mir, ich täusche mich darin nicht so leicht. Kathinka hat auch keine so schwachen Nerven, um so rasch außer sich zu gerathen, und besonders bewies mir das zuletzt die Gewalt, die sie gegen sich selber ausübte. Hast Du sie nicht beobachtet? Es könnte Dir dann nicht entgangen sein.«

»Nein, meine Seele dachte natürlich nicht daran – aber das wäre auch eine hoffnungslose Liebe, denn zu der Verbindung bekäme sie nie die Einwilligung ihrer Eltern – ich glaube, ich kenne Schaller da genau genug.«

»Und würde das ein Hinderniß für sie sein?«

»Das wäre eine andere Frage; aber ohne Vermögen – ich weiß nicht, ob der Doctor genug verdient, um eine Frau und später eine Familie zu ernähren; außerdem würde er, wie ich ihn kenne, nie um Kathinkens Hand anhalten, nur aus Furcht, eine abschlägige Antwort zu erhalten.«

»Und wo gehen wir jetzt hin?«

»Wollen wir einmal zu Klingenbruchs hinauf? Wir sind doch jetzt beim Besuchemachen, und ich selber bin seit dem Todesfalle in der Familie noch nicht bei ihnen gewesen.«

»Du hast von der Erbschaft gehört?«

»Ja, es war malitiös von der alten Tante.«

»Wollen wir also hinaufgehen?«

»Da wir gerade hier sind, en avant!«

Unten in der Thür des nächsten Hauses stand Hofapotheker Semmlein, der eben mit einigen Nachbarn den Unglücksfall besprochen hatte und gerade wieder in seine Wohnung einbiegen wollte, als er die beiden Freunde bemerkte, mit denen er die Neuigkeit doch ebenfalls besprechen mußte.

»Wissen Sie es schon, meine Herren – Doctor Potter ist eben überfahren worden!«

»Wir haben es gehört – aber er soll gut davongekommen sein.«

»Der Mensch hat ein Heidenglück!« rief Herr Semmlein. »Aber er hätte auch meinswegen seine gesunden Gliedmaßen einbüßen und jeden Knochen im Leibe zerbrechen können!«

»Er hat sich also wirklich nicht beschädigt?«

»Keinen blauen Fleck; aber den Rock hätten Sie sehen sollen – er war meinswegen mitten von einander, und Graf Donnersmark wird eine Freude gehabt haben über das geschundene Pferd! Ja, weshalb lassen sie solche Bestien in eine menschengefüllte Stadt, und wenn gerade die Schule aus ist! Mein Junge war auch bei den Rangen! Der Doctor ist aber ein tüchtiger Kerl, und Courage hat er, das muß man ihm lassen!«

Hauptmann von Dürrbeck grüßte, und als sich Semmlein danach umdrehte, sah er, wie ein anderer Officier – Lieutenant von Wöhfen mit einer jungen, sehr elegant gekleideten Dame (es war Fräulein von Noltje) – vorüberging. Fast unwillkürlich trat er aber zu gleicher Zeit einen Schritt von der Thür zurück und sah nach oben – richtig, das älteste Fräulein von Klingenbruch lag im Fenster und schaute dem Paare nach; den Wirth unten am Hause bemerkte sie gar nicht. Hans und Dürrbeck aber, mit keiner Ahnung, welches kleine Privatdrama da unter ihren Augen vorüberzog, stiegen die Treppe hinauf.

Schon auf den ersten Stufen hörten sie indeß eine heftige Stimme, die jedenfalls einer Dame angehören mußte, und Hans faßte Dürrbeck's Arm und hielt ihn für kurze Zeit fest.

»Aber, mein gnädiges Fräulein,« sagte jetzt eine sanfte, beschwichtigende Stimme, »ich habe die letzte Nacht lange bis nach Mitternacht gearbeitet und mußte es endlich aufgeben, weil mich meine Augen zu sehr schmerzten – ich bin auch heute Morgen seit Tagesanbruch wieder dabei, aber nicht im Stande, es zu erzwingen.«

»Das glaub' ich,« sagte die vorherige keifende Stimme »wenn Sie über Tags Herrenbesuch empfangen, so wird es mit der Arbeit nicht viel werden! Wenn ich aber mein Geld zahle, so verlange ich auch meine Arbeit gethan zu haben!«

»Aber Sie haben mich noch nicht einmal bezahlt,« sagte die erste Stimme wieder, und der Ton schien etwas gereizter – »ich bat Sie schon zweimal um eine kleine Abschlagssumme …«

»Und wollen Sie auch noch unverschämt sein!« kreischte die erste Stimme – und Hans war jetzt mit drei Sätzen oben an der Treppe. Die sehr hörbaren Schritte hatten aber dem Zank ein rasches Ende gemacht. Hans sah nur noch, wie eine schlanke Frauengestalt scheu über den Gang huschte und die Biegung der nach oben führenden Treppe erreichte, während die andere Dame – es war richtig Flora von Klingenbruch – ebenfalls in ihre Etage hineinglitt und die Thür hinter sich schloß.

Hans blieb einen Moment oben an der Treppe stehen; als ihn aber Dürrbeck, der ihm langsamer gefolgt war, jetzt erreichte, sagte er: »Höre, Bernhard, hier hat eben ein kleiner Streit stattgefunden; die jungen Damen scheinen erregt, und ich fürchte fast, wir haben keine passende Zeit zu unserem Besuch gewählt. Ich muß Dir auch gestehen, daß ich gerade jetzt kein besonderes Bedürfniß fühle, der Familie meine Aufwartung zu machen.«

»Wie Du willst, Hans; mich zieht es auch nicht hinein« – und wieder umwendend, verließen sie das Haus.



 << zurück weiter >>