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19.
Eine Photographie


Die Promenade um Rhodenburg bildete eigentlich den Glanzpunkt der Stadt, denn es war außerordentlich viel Fleiß darauf verwendet und das Ganze selber mit vielem Geschmack angelegt worden. Ueberall, wohin auch das Auge fiel, sah man geschickt arrangirte Bosquets der verschiedenartigsten Bäume, und alles so trefflich zusammengestellt, daß jede einzelne Gruppe auch ein kleines Bild gab. Bald offen, bald durch dichtes Gebüsch versteckt, zog sich der Weg da hindurch, und selbst an den heißesten Sommertagen konnte man hier überall Schatten finden.

Diese Promenade wurde auch von den Bewohnern von Rhodenburg außerordentlich fleißig benutzt. Sie war fast nie leer von wenigstens einzelnen Spaziergängern, denn selbst bei schlechtem Wetter konnte man unter dem Schutze der Bäume trocken und angenehm seinen Weg verfolgen. Heute, bei freundlichem Sonnenschein, lebte und webte es von geputzten Menschen; es war Sonntag, und jetzt, nach dem Mittagsmahl des Bürgerstandes, etwa um ein Uhr, passirten Hunderte theils herüber und hinüber, theils zogen sie sich den nächsten Thoren zu, um dort verschiedene vor denselben gelegene Vergnügungsorte aufzusuchen. Alle diese hielten sich aber zumeist auf der Hauptpromenade, die einen breiten, beschatteten Weg um die ganze Stadt bildete, während die inneren, verschlungenen Wege weit weniger besucht schienen. Heute, als an einem Sonntage, lag aber auch nicht Vielen daran, sich nur mit einem kurzem Spaziergange in der unmittelbaren Nähe der Stadt zu begnügen; sie wollten weiter und wählten dazu natürlich den kürzesten Weg.

Nichtsdestoweniger fand man aber doch auch in den Seitengängen überall Lustwandelnde, vornehme und geringe, aus dem Adels- wie aus dem Handwerkerstande, und selbstverständlich schlenderte auch viel Militär dazwischen herum.

Zwei große, stattliche Herren, die ein Officier eine Strecke lang begleitet hatte, betraten jetzt, gerade als sich der letztere von ihnen verabschiedete, einen der beschatteten Gänge und schienen selber diesen stilleren Platz gesucht zu haben.

»Gott sei Dank, daß uns der langweilige Peter verlassen hat!« sagte Herr von Schaller – denn er und Graf Rauten waren die beiden Spaziergänger –, indem er den Arm seines Begleiters nahm und ihn den schmalen Gang entlang führte. »Das weiß doch der liebe Gott, was für schauerliches, todtmachendes Volk auf der Welt herumläuft! Hat nun der Mensch in der ganzen letzten Viertelstunde auch nur ein anderes Wort gesprochen, als von seinem verfluchten Goldfuchs? Was geht uns denn das Beest an, mit dem er sich hat anschmieren lassen?«

»Eben weil er das selber fühlt,« lächelte Graf Rauten, »klammert er sich noch an die Möglichkeit an, Jemand zu finden, der den Werth seines Pferdes zu erkennen weiß – oder wenigstens so thut.«

»Lassen wir den Patron,« brach Schaller, dem andere Dinge im Kopf lagen, kurz ab. »Rauten, ich sage Ihnen, ich bin hier in Rhodenburg in eine Sackgasse hineingerathen, und wenn ich nicht bald Hülfe bekomme, so geht die Geschichte faul!«

»Mein lieber Schaller,« sagte Graf Rauten achselzuckend, »Sie wissen, daß ich alles gethan habe, was in meinen Kräften stand, um uns Beide rasch an's Ziel zu führen, denn in meinem Interesse liegt es noch weit mehr, als Sie überhaupt ahnen können. Aber war es denn möglich? Meine sehr liebenswürdige, aber sehr hartköpfige Schwiegermutter in spe ist nun einmal von ihrer verrückten fixen Idee nicht abzubringen, und was kann ich thun, als eben den Zeitpunkt geduldig zu erwarten? Daß ich dabei auf Kohlen sitze, würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen all' die Einzelheiten so genau erzählen könnte.«

»Die Frauen haben rein den Teufel im Leibe!« rief Schaller mit einem halb verbissenen Fluch zwischen den Lippen – »meine Alte ist genau so; aber das ist mir ein schmählicher Strich durch die Rechnung.«

»Aber, bester Schaller,« sagte Graf Rauten, »Sie haben doch den Termin von Anfang an gekannt und waren vollständig damit einverstanden.«

»Weil ich die Zwischenfälle nicht berechnen konnte,« rief Schaller; »jetzt ist es aber gerade, als ob die Hölle los wäre, denn jeder Tag bringt fast etwas Anderes, und ich kann die Katastrophe nicht so lange mehr hinausschieben, wenn nicht bald Hülfe kommt. Wenn es nur möglich war, wenigstens einen Theil …«

»Das ist eben nicht möglich, lieber Schaller,« sagte Graf Rauten sehr ruhig und bestimmt. »Aber was ist denn an dem Gerücht? Ich hörte heute Morgen in der Stadt, Solberg habe um Kathinka's Hand angehalten.«

»Unsinn,« sagte Schaller, »ist ihm nicht eingefallen, nicht wenigstens, daß ich etwas davon wüßte – möchte auch wissen, wie! Das Mädel hat ihn jedesmal so kühl behandelt, daß ihn in ihrer Nähe ordentlich eine Gänsehaut muß überlaufen haben; warm konnte er aber wahrhaftig nicht dabei werden. Ich habe auch meinen Verdacht,« zischte er zwischen den zusammengepreßten Zähnen durch, »aber gnade ihr Gott, wenn ich darüber Gewißheit erhalte!«

»Was ist es?«

»Nichts – nichts, das wenigstens mit unserem Geschäft in Berührung stände, obgleich es mich selber nahe genug betrifft. Bis wann ist also endlich dieser verzweifelte Tag, der Sie, Rauten, zum Glücklichsten der Sterblichen machen soll?«

»Am sechsundzwanzigsten.«

»Beinahe noch vierzehn Tage – es ist rein zum Verrücktwerden! Und Sie wissen bestimmt, daß an dem Tage alles arrangirt wird?«

»Gewiß weiß ich das, denn ich reise noch an dem nämlichen Abend mit meiner Frau ab.«

Schaller schritt nachdenkend eine Weile neben dem Freunde hin.

»Glücklichsten der Sterblichen,« murmelte er dabei in einer Art von Galgenhumor, »wer das verfluchte Wort nur erfunden hat – Glücklichsten der Sterblichen! Wenn ich dabei meine Rosamunde ansehe – Ro–sa–mun–de – welcher wahnsinnige Häring die Idee gehabt hat, meine Gattin Rosamunde zu taufen; und mit dem Namen läuft sie nun den ganzen Tag herum und ärgert mich jedesmal, wenn ich daran denke!«

Graf Rauten lachte. »Sie scheinen sich in eine Art von Dolch- und Giftstimmung hineingearbeitet zu haben.«

»Hab' ich auch,« brummte Schaller, »und verdammt gute Ursache dazu, denn wenn Einem das Feuer dermaßen auf den Nägeln brennt, und man kann die Hände nicht wegziehen, so ist das eine jämmerliche Geschichte.«

»Aber, bester Freund, das Ganze handelt sich jetzt nur noch um zehn Tage, das ist alles, und es wird Ihnen doch wahrhaftig nicht so schwer werden, die kurze Zeit noch zu überstehen – und dann, wissen Sie, sind Sie geborgen.«

»Rauten, ich traue Ihnen auch nicht,« platzte Schaller, der jedenfalls der Idee gefolgt war, plötzlich heraus.

»Sie sind wirklich zu komisch!« lachte der Graf. »Und habe ich Ihnen schon je die geringste Veranlassung gegeben, mir zu mißtrauen?«

»Nein,« sagte Schaller, »das haben Sie, so lange ich Sie kenne, nicht.«

»Also wozu die Ungerechtigkeit? Seien Sie vernünftig, Schaller; je älter man wird, desto rascher fliegen die Tage. Die anderthalb Wochen werden herumgehen, ohne daß wir wissen, wo sie geblieben sind, und alle Forderungen, die an Sie in der Zwischenzeit gemacht werden, ist es wahrlich kein Kunststück, auf eine Woche hinaus zu schieben.«

»Aber wissen Sie auch, Rauten, wie lange ich schon auf diese Art geschoben habe?« sagte der Baron. »Bei Gott, die Arme thun mir weh!«

»Sie sind ein komischer Kauz, Schaller,« lachte Rauten; »aber Sie haben jedenfalls Talent, und deshalb zweifle ich auch gar nicht, daß Sie schließlich doch noch reussiren müssen.«

»Den Teufel auch!« sagte der Baron – »Talent? Ja, vielleicht haben Sie Recht, aber ein so unglückliches, daß ich nur immer für andere Leute arbeite.«

Er warf sich dabei auf die nächste Bank – er war müde geworden – und stützte den Kopf auf die Lehne derselben. Rauten, mit seinen eigenen Gedanken vielleicht eben so voll beschäftigt, nahm auf der andern Seite Platz, und eine Weile saßen die beiden Männer schweigend neben einander. Plötzlich horchte Schaller auf; dicht hinter der Stelle, wo sie saßen, und davon nur durch ein dichtes Bosquet geschieden, führte ein anderer Weg durch die Anlagen, der ebenfalls von dem nächsten offenen Platze auszweigte, mit diesem Pfade eine kurze Strecke parallel lief und dann mehr nach rechts aufbog, um später in einer andern Richtung auszumünden. Dort kamen andere Spaziergänger vorüber, die sich ziemlich laut mit einander unterhielten, da sie Niemand in der Nachbarschaft sehen konnten und sich deshalb für unbelauscht hielten. Schaller glaubte aber, daß er die Stimme kenne, die jedenfalls einer jungen Dame angehörte, und unterschied jetzt deutlich die Worte:

»Das sind leere Ausflüchte, Herr von Heidewald; drei Tage schon bin ich im Park spazieren gegangen, ohne Ihrer werthen Person zu begegnen, und alle Ihre Redensarten helfen mir nichts.«

»Aber, mein gnädiges Fräulein,« sagte eine männliche Stimme – also jedenfalls der besagte Herr von Heidewald – »Sie thun mir wahrlich Unrecht; ich war verreist und bin erst vor einer Stunde zurückgekehrt.«

»Und das wagen Sie mir zu sagen?« rief die junge Dame wieder. »Sind Sie nicht gestern noch über den Markt gegangen? Ich stand allerdings in einer Modewaarenhandlung und Sie konnten mich nicht sehen, aber ich habe Sie gut genug erkannt!«

»Aber, beste Flora, das muß wahrhaftig eine Täuschung gewesen sein!«

»Nennen Sie mich nicht Flora,« rief die Schöne entrüstet, »ich will den Namen nicht mehr von Ihnen hören, denn ich weiß doch, daß nur Falschheit und Hinterlist dahinter steckt!«

»Aber, mein gnädiges' Fräulein, Sie wissen nicht, wie sehr Sie mir Unrecht thun – ich habe …«

Die Stimme wurde hier undeutlich, und Schaller, Rauten's Arm ergreifend, flüsterte: »Kommen Sie, wir wollen dort herumgehen – ich glaube, das ist Fräulein von Klingenbruch's Stimme, und ich möchte gern sehen, wer in ihrer Gesellschaft geht.«

»Es scheint ein Zank unter Liebenden,« sagte Rauten; »was kümmert uns das! Ich muß Ihnen gestehen, Schaller, daß ich an den jungen Damen gerade kein besonders tiefes Interesse nehme.«

»Ich auch nicht, Rauten,« sagte der Baron, »aber ich bin neugierig geworden. Wir haben ja außerdem nichts zu versäumen und gehen dort so gut wie hier.«

»Ich wollte nach Hause; es ist spät geworden …«

»Nur die paar Schritte dort hinüber; nachher begleite ich Sie, wohin Sie wollen.« – Er trieb auch, daß sie rasch dem Wege folgten, der weiter oben mit dem andern Pfad zusammenlief, und gerade an der Spitze trafen sie die kleine Gesellschaft, und zwar nicht Flora allein mit dem jungen Herrn, wie es Schaller vermuthet hatte, sondern Henriette mit ihnen; Flora und Herr von Heidewald gingen aber einige Schritte voraus, Henriette schwebte nur wie als schützender Geist etwa zehn oder zwölf Schritte hinter ihnen her.

Flora erschrak übrigens sichtlich, als die beiden Herren so plötzlich und unerwartet um die Ecke bogen. Es war auch, als ob sie sich unwillkürlich zurück auf die Schwester ziehen wollte; aber das wäre doch nicht gegangen. Schaller und Graf Rauten, ohne jedoch von Herrn von Heidewald Notiz zu nehmen, grüßten auch schon achtungsvoll, besaßen aber Tact genug, um nicht gerade in diesem Moment ein Gespräch anzuknüpfen. Sie gingen vorüber und bemerkten nur noch, daß auch Fräulein Henriette ihre Schritte beschleunigte, um etwas mehr in die Nähe der Schwester zu kommen – es sah doch sonst eben gar zu auffällig aus!

»Das ist nun einmal so der Lauf der Welt,« sagte Schaller, als sie vorüber waren. »Früher: »Himmlisches Wesen, Glücklichste der Sterblichen« – da haben wir die Geschichte wieder – »ewige Liebe« – bah, was ist ewig! Kaum geht ihnen die Erbschaft aus der Nase, da schrumpft das Wort Ewigkeit wie eine Gummihose zusammen, an der man die Strippe unten durchschneidet! Wie stehen Sie denn mit Ihrer Braut, Rauten? Man sieht Sie eigentlich nie zusammen gehen, und etwas Hochschwärmerisches fehlt Ihnen ebenfalls. Es ist wohl keine erste Liebe mehr?«

»Nein,« sagte Graf Rauten trocken; »Franziska ist aber ein sehr liebes und sehr gescheidtes Wesen und – für mich eine große Hauptsache – fern von Ueberspannung. Ich bin überzeugt, daß wir eine sehr glückliche Ehe zusammen führen werden.«

Schaller warf einen flüchtigen Blick nach ihm hinüber, den Rauten aber gar nicht beachtete; er schien mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Ihnen gerade entgegen kam ein junger, auffallend blasser Mann, das Gehen schien ihm noch schwer zu werden – wahrscheinlich ein Kranker oder ein Reconvalescent, der den milden Frühlingstag benutzte, um hier in den freundlichen Anlagen frische Luft zu schöpfen.

Graf Rauten schaute über ihn hin, ohne ihn zu bemerken oder wenigstens zu beachten. Der Mann gehörte augenscheinlich dem Handwerkerstande an; er sah auch dabei nicht, daß dieser plötzlich stehen blieb und mit weit aufgerissenen Augen den Grafen anstarrte, als ob er einen Geist gesehen hätte. Schaller jedoch, der die Augen überall zu haben schien, entging das nicht, und unwillkürlich fast blieb er stehen und hielt dadurch seinen Begleiter ebenfalls zurück. Jetzt wurde Rauten natürlich auch auf den vor ihm stehenden bleichen Menschen wie dessen Anstarren aufmerksam. War der Mann betrunken oder verrückt – aber die Gesellschaft schien ihm nicht angenehm.

»Weshalb bleiben wir stehen, Schaller?«

»Kennen Sie den Burschen da?«

»Woher soll ich ihn kennen? Wahrscheinlich ein Betrunkener oder Geisteskranker, denn für einen Trunkenen sieht er zu blaß aus! Lassen Sie uns umkehren, ich muß wirklich nach Hause, denn Franziska erwartet mich jetzt schon seit etwa einer halben Stunde – kommen Sie doch einen Augenblick mit bei uns vor!«

»Das könnte ich machen,« nickte Schaller, indem er der Führung von Rauten's Arm folgte und mit ihm im Wege umwandte, »zu versäumen hätte ich doch nichts, das weiß Gott, denn die nächsten zehn Tage bin ich zu vollständiger Unthätigkeit verdammt.«

Die beiden Herren waren der neuen Richtung übrigens nur eine kurze Strecke gefolgt, als Schaller Schritte dicht hinter sich hörte und, wie er nur den Kopf wandte, auch schon die Hand des bleichen Menschen auf seinem Arm fühlte. Im ersten Momente erschrak er wirklich und fuhr etwas zurück, und auch Rauten, der im Nu den Menschen wieder erkannte, riß seinen Arm aus Schaller's, um den Burschen, falls er eine drohende Miene machen sollte, zu fassen. Dieser aber schien nicht die geringste feindliche Absicht zu haben, er sah auch in der That zu schwach und gebrochen aus, so daß man ihm schon nichts Böses zutrauen konnte.

»Was wollen Sie?« rief ihn Schaller jetzt rauh an.

»Nichts Unrechtes, lieber Herr,« sagte der Blasse, »nur eine Bitte hätte ich an Sie …«

»Und ist das eine Manier, Spaziergänger hier am Arme zu fassen und dann auch noch auf offener Promenade anzubetteln?« rief Schaller, wie aus einer obern Etage auf ihn herabsehend.

»Nicht betteln, Herr, nicht betteln will ich – nur – nur eine Frage an Sie richten. Wie heißt der Herr da neben Ihnen?«

»Wie ich heiße?« rief Rauten erstaunt aus – »und wenn Sie das wissen wollen, weshalb fragen Sie mich da nicht selber? Graf Rauten ist mein Name! Was wollen Sie von mir?«

»Graf Rauten,« stammelte der Fremde, ohne den stieren Blick von dem jungen Mann zu wenden.

»So 'was ist mir doch noch nicht vorgekommen!« sagte Schaller ärgerlich. »Kommen Sie, Rauten, der Mensch ist verrückt.«

»Nun, was wollen Sie von mir?« fragte aber der Graf noch einmal, indem er den vorwärts drängenden Schaller zurückhielt.

»Ich? Nein – nichts,« stammelte der Mann verwirrt – »nur eine Aehnlichkeit …«

»Er ist verrückt,« sagte Schaller noch einmal und zog Rauten jetzt mit sich fort. »Haben Sie denn den Burschen schon einmal gesehen?«

»Nie in meinem Leben,« lachte Rauten; »übrigens muß ich irgend Jemandem sehr ähnlich sehen, denn das ist jetzt das zweite Mal, daß ich hier in Rhodenburg von mir wildfremden Menschen angeredet werde.«

»Und Sie haben doch eigentlich gar kein so allgewöhnliches Gesicht,« meinte Schaller, indem er seinen Begleiter von der Seite ansah.

»Ich weiß nicht, woher es kommt; aber dieser Mensch schien mir wirklich seiner Sinne nicht mächtig. Er sah bleich und elend aus, und die Augen lagen ihm stier im Kopfe. Die Polizei hier in Rhodenburg ist so ruhiger Natur, daß sie nie einen Menschen für gefährlich hält, bis er nicht wirklich einmal irgendwo eingebrochen ist und ein paar andere Leute todtgeschlagen hat – von was sprachen wir zuletzt, Schaller?«

»Ja, ich weiß es wahrhaftig nicht mehr; der verrückte Mensch hat mich selber confus gemacht – hol' ihn der Teufel! Was brauchen wir uns auch darüber den Kopf zu zerbrechen, ob er in ein Narrenhaus gehört oder nicht!«


Advocat Püster kehrte von einem Ausgange zurück und fand auf seinem Pulte die indeß für ihn eingetroffenen Briefe und Zeitungen. Die letzteren schob er noch zurück und brach einen der Briefe nach dem andern auf. Aus dem vierten fiel eine Photographie, die Mux, der gerade neben ihm stand, aufhob und auf das Pult legte.

»Hm,« brummte Püster, »das ist der Brief von Hamburg, Mux, und die Photographie kannst Du einmal Deinem Herrn – wie heißt er gleich: Bummel?«

»Hummel, Herr Notar.«

»Ach ja – Hummel, zeigen; das ist ein ellenlanger Brief, und noch dazu Englisch! den kann ich nicht einmal lesen. Wenn Frauenzimmer etwas zu sagen haben, was sie in zwei Worte bringen könnten, müssen sie immer gleich ein Aktenstück daraus machen. Lies den Brief und übersetze mir dann die wichtigen Punkte. Laß einmal die Photographie sehen – hm, das Gesicht kommt mir selber bekannt vor – Donnerwetter, den Menschen habe ich doch schon hier gesehen! Kennst Du ihn nicht, Mux? Wo habe ich denn meine Lupe?«

Mux nahm das kleine Bild und betrachtete es einen Augenblick aufmerksam; dann sagte er mit seiner leisen, weichen Stimme: »Ist das nicht Graf Rauten?«

»Weiß es Gott, ich glaube auch,« rief Püster, indem er ihm das Bild wieder aus der Hand riß – »oder doch wenigstens eine fabelhafte Aehnlichkeit! Das könnte er beim Himmel für sein eigenes Bild ausgeben, und den wird Dein Herr Bummel oder Hummel auch wohl hier gesehen haben! Na, lies nur erst einmal den Brief und schreib dann wieder zurück, es wäre einfach ein Irrthum gewesen …«

»Aber soll ich nicht lieber einmal dem Mr. Hummel das Bild zeigen?« fragte Mux. »Es ist am Ende vielleicht nur eine Aehnlichkeit, und das wirkliche Original befindet sich noch außerdem in der Stadt.«

»Das ist keine Aehnlichkeit,« sagte Püster kopfschüttelnd, »das ist der wirkliche Graf Rauten, wie er leibt und lebt – da unten geht Hauptmann von Dürrbeck vorbei – spring doch hinunter und sage, ich ließe ihn bitten, einmal auf einen Augenblick herauf zu kommen. Der kennt den Grafen genau – Du wirst sehen, daß ich Recht habe.«

Der Notar hatte das Bild schon wieder bei Seite gelegt und einen andern Brief aufgerissen und angefangen zu lesen, als Dürrbeck zu ihm in's Zimmer trat.

»Mein lieber Herr Notar, Sie haben mich zu sprechen gewünscht – irgend etwas vorgefallen?«

»Nein, mein Herr Hauptmann. Entschuldigen Sie nur, wenn ich Sie einen Augenblick belästigt habe, aber ich wollte Ihnen ein Bild zeigen und Sie fragen, wer das sei – kennen Sie diesen Herrn!«

»Das ist ja Graf Rauten!« rief Dürrbeck, wie er nur einen Blick darauf geworfen. »Aber woher haben Sie das Bild?«

»Es ist mir geschickt worden,« sagte Püster ausweichend, »und muß da jedenfalls eine Verwechselung stattgefunden haben, oder es ist in der That eine merkwürdige Aehnlichkeit. Graf Rauten war über See, wie?«

»Ja, in Indien.«

»In Amerika nicht?«

»Ich glaube nicht; doch nein, ich weiß es gewiß, denn ich erinnere mich jetzt, daß die Frage einst in meiner Gegenwart an ihn gerichtet wurde und er sie auf das Bestimmteste verneinte.«

Er hatte das Bildchen während er sprach, umgedreht und las die dort aufgedruckte Firma G. W. Burlingham brothers, photographers, New-York city. – »Haben Sie hier eine Lupe, lieber Herr Notar?« fragte er dann nach einer Weile, nachdem er das Bild wieder aufmerksam betrachtet hatte.

»Ja, hier ist sie,« sagte Püster; »ich habe es mir auch dadurch angesehen.«

»Es ist insofern merkwürdig,« sagte der Hauptmann, »daß Graf Rauten hier in Rhodenburg noch nie hat bewogen werden können, sich photographiren zu lassen, und ich weiß bestimmt, daß seine Braut schon mehrmals den dringenden Wunsch dahin ausgesprochen. Es ist doch vielleicht nur eine Aehnlichkeit …«

Er trat, während er sprach, mit dem Bilde zum Eckfenster und betrachtete es jetzt scharf und aufmerksam durch das Vergrößerungsglas. Wie er sich aber wieder aufrichtete, sagte er auch ganz zuversichtlich und bestimmt: »Das ist keine Aehnlichkeit, lieber Notar, das ist Rauten wirklich selber, denn hier an der linken Backe können Sie deutlich mit der Lupe die kleine, schmale Narbe erkennen, die er ebenfalls trägt und die besonders sichtbar wird, wenn er lacht. So weit geht aber keine bloße Aehnlichkeit, oder es müßte noch ein ganz merkwürdiger Zufall damit zusammentreffen.«

»In der That?« sagte der Notar und sah den Hauptmann aufmerksam, aber doch nur mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, an. »Ja, das kann sein; aber dann ist es doch auch nur, wie ich vorhin bemerkte, ganz gewiß eine Verwechslung der Einlage, ein allerdings merkwürdiger Irrthum, da sich das Original des Bildes gerade hier in der Stadt befindet; es ist sonderbar, wie ich selber gestehen muß.«

»Und darf ich nicht erfahren, um was es sich handelt, Herr Notar? Sie wissen doch, daß ich eng befreundet mit Hans von Solberg bin.«

»Mit dem Graf Rauten nicht?«

»Weniger,« sagte Dürrbeck nach einigem Zögern; »wir kennen uns natürlich, sind aber noch nie näher zusammen gekommen.«

»Mein lieber Herr Hauptmann,« erwiderte ihm Püster, »es betrifft hier allerdings einen ganz eigenthümlichen Fall, der aber nichts mit dem Grafen Rauten zu thun haben kann, wenn das auch wirklich hier ein von ihm nach der Natur aufgenommenes Bild wäre. Vor der Hand ist aber nur erst eine Frage an mich gestellt worden, und Sie werden begreifen, daß ich darüber noch keine Erklärung abgeben kann. Sollte sich aber in der That irgend etwas Factisches herausstellen, so gebe ich Ihnen mein Wort, daß ich Sie ohne Säumen davon benachrichtigen will. Was ich Sie nur noch fragen wollte: auf welchen Tag ist die Verbindung des Grafen mit Fräulein von Solberg festgestellt?«

»Auf den Sechsundzwanzigsten – weshalb?«

»Es fiel mir nur so ein,« sagte Püster ausweichend. »Es soll ja wohl ein großes Fest im Solberg'schen Hause stattfinden?«

»Wie mir Hans sagte, am Polterabend, also am Tage vorher. Das junge Ehepaar wird unmittelbar nach der Trauung seine Reise nach den Gütern des Grafen antreten. Rauten drängt sehr, da sein Administrator dort, glaub' ich, krank geworden ist und sich die ganze Verwaltung augenblicklich in den Händen eines noch sehr jungen und unerfahrenen Mannes befindet.«

»In der That? Aber früher findet die Trauung auf keinen Fall statt, meinen Sie?«

»Nein, sicher nicht, denn es ist der Hochzeitstag der Eltern und Großeltern, und Frau von Solberg besteht fest darauf, den Tag gewissenhaft einzuhalten. Aber weshalb erkundigen Sie sich so genau danach?«

»Neugierde, blanke Neugierde, Herr Hauptmann. In einem so kleinen Neste, wie Rhodenburg ist, hat man ja doch weiter nichts zu thun, als sich immer nur um anderer Leute Angelegenheiten zu kümmern.«

»Was aber doch eigentlich, ohne einen bestimmten Zweck zu haben, gewöhnlich Ihre Sache nicht ist, lieber Notar.«

»Ich werde alt,« sagte Püster lächelnd, »und falle da in den Fehler aller alten Leute wie meiner lieben Nebenmenschen. Wir merken das gewöhnlich nie früher, als bis wir durch diese darauf aufmerksam gemacht werden.«

Dürrbeck schwieg; er fühlte recht gut, daß der Notar weiteren Fragen absichtlich auswich, und hatte Tact genug, ihn nicht zu drängen, und doch hätte er gern mehr erfahren, und zwar nicht etwa aus unbescheidener Neugierde. Er liebte Hans Solberg wie einen Bruder, und ein dunkler, wenn auch noch vollkommen unbestimmter Verdacht war in ihm erwacht, der aber trotzdem schon anfing, ihn zu beunruhigen. »Also auf Wiedersehen, mein lieber Notar!« sagte er und verließ das Comptoir, in dem der Notar aber jetzt mit auf den Rücken gelegten Händen und den Kopf gesenkt nachdenkend und rasch eine Weile hin und her ging. Mux störte ihn auch nicht darin und hatte nur indessen den Brief aus Hamburg aufmerksam und zweimal hintereinander durchgelesen, und erst beim zweiten Male machte er darauf die ihm anbefohlenen Bemerkungen, die sich aber jedenfalls nur auf zwei Punkte bezogen. Das Andere bestand, wie Püster ganz Recht gehabt, allerdings nur aus hier überflüssigen Klagen und allgemeinen Betrachtungen.

»Wenn Sie die Stellen jetzt lesen wollten, Herr Notar …«

Püster trat zum Pulte, stemmte den Kopf in die Hand und las sie durch; endlich sagte er: »Das ist blanker Unsinn, Mux, und wir müssen uns verdammt in Acht nehmen, daß wir da keine Dummheit machen. Darauf hin können wir die Frau doch keinenfalls nach Rhodenburg citiren, und ich weiß wahrhaftig nicht, wie wir es sonst machen sollten. Bah, Du wirst erst noch einmal hinschreiben, das Bild wieder mitschicken und anfragen, ob es das richtige sei – sie müsse es jedenfalls verwechselt haben! Ist das dann wirklich nicht der Fall, so können wir uns ja noch immer überlegen, was wir thun wollen.«

»Und wollen wir das Bild nicht lieber hier behalten?«

»Was sollen wir damit? Sie mag es uns im nächsten Briefe wieder einlegen – herein!«

Draußen hatte es angeklopft, und auf seinen Ruf öffnete sich die Thür und Hofapotheker Semmlein, der Tischlermeister Handorf und ein blasser, elend aussehender Mensch standen auf der Schwelle – Semmlein aber nicht lange.

»Mein lieber Herr Notar,« sagte der kleine Mann fast außer Athem, »können wir ein paar Worte mit Ihnen allein und ganz im Vertrauen sprechen?«

»Und warum nicht, mein lieber Herr Nachbar – wie geht es, Meister? Bitte, nehmen Sie Platz.« Sein Blick haftete dabei auf den jungen, bleichen Menschen, den er nicht kannte.

»Das, Herr Notar,« sagte Handorf, der den Blick wohl bemerkte, mit halb unterdrückter Stimme, »ist mein armer Sohn, von dem ich Ihnen schon früher gesprochen habe. Er war recht krank, er hat sich das Elend und die Schande zu sehr zu Herzen genommen, und ein paar Tage fürchtete ich schon, daß ihn der liebe Gott abrufen würde.«

»Er sieht noch recht leidend aus,« sagte Püster – »aber was haben Sie eigentlich?«

Semmlein warf einen Blick auf Mux – »meinswegen,« sagte er, »möchten wir ganz allein mit Ihnen sprechen.«

»Mux ist mein Geheimsecretär,« lächelte Püster, »und wenn auch noch jung, ein ganz gewandter und verschwiegener Bursche. Wenn es nicht gerade eine persönliche Frage betrifft …«

»Aber meinswegen« – sagte der Hofapotheker.

»Na, Mux, dann geh so lange hinunter; Du kannst die Acten da gleich mitnehmen, den Brief laß sein bis nachher, das hat Zeit, denn so drängt die Sache nicht. Und nun, meine Herren,« fuhr er fort, als Mux mit dem Actenbündel unter dem Arm aus der Thür glitt – »bitte setzen Sie sich, Meister, und auch Ihr Sohn darf nicht stehen, er sieht schwach und abgemattet genug aus –, und nun erzählen Sie mir, was Sie haben; aber, nicht wahr lieber Herr Nachbar, Sie fassen die Sache ein bischen kurz, denn ich habe noch eine ganze Menge zu thun.«

»Ja, lieber Herr Nachbar,« begann Herr Semmlein, »das ist eine ganz merkwürdige Geschichte, und meinswegen sollte man gar nicht glauben, daß sie menschenmöglich wäre.«

»Wollen Sie mir die Sache einfach erzählen und mir die Beurtheilung dann selber überlassen?«

»Ja, mit dem größten Vergnügen, aber dann erzählte sie am besten der Karl selber – meinen Sie nicht, Meister?«

»Ich weiß nicht,« sagte Handorf, »ob sich der Herr Notar noch auf das erinnern, weshalb ich Sie neulich einmal um Ihren Rath bat.«

»So viel ich mich besinne, erzählten Sie mir die unglückliche Geschichte Ihres Sohnes, aber ich weiß nicht, daß Sie mich dabei um Rath fragten.«

»Doch, Herr Notar, ich wollte meinen Jungen damals nach Schlesien schicken, um zu sehen, ob er den Menschen dort wiederfinden könnte, dem er an jenem Unglückstage den Stock verkauft, und Sie riethen mir damals ab.«

»Ja, jetzt besinne ich mich – ganz recht – was hätte es ihm auch genützt, wenn er ihm selbst wieder begegnet wäre? Beweisen konnte er ihm doch nichts mehr und sich selber nur neue Ungelegenheiten bereiten. Ueber die Sache ist jetzt Gras gewachsen und nichts mehr darin zu thun. Hat er durch ein unseliges Zusammentreffen feindseliger Umstände unschuldig eine so schwere Strafe verbüßt, so könnte ihm keine Macht der Welt die Zeit wieder ersetzen.«

»Aber seinen guten Namen, Herr Notar,« fiel der Vater bewegt ein.

»Das ist richtig,« nickte Püster, »und wäre viel, jetzt vielleicht Alles werth; aber wie wäre das möglich? Wo wollen Sie jenen Menschen, wenn er überhaupt noch lebt, wieder auftreiben?«

»Aber er ist ihm ja heute begegnet!« platzte Semmlein heraus.

»Wem? dem Mörder?« fragte Püster rasch, und Herr Semmlein nickte bedeutungsvoll mit dem Kopfe; aber jetzt nahm Karl selber das Wort und sagte mit matter und vor Aufregung kaum verständlicher Stimme:

»Ja, wie ich im Anfang glaubte; aber dann bin ich auch wieder irre geworden, denn es kann ja fast nicht sein, und doch möchte ich den heiligen Eid ablegen, daß es das nämliche Gesicht ist, dem ich schon einmal an jenem Tage gegenüber gestanden.«

»Daraus werde ich nicht klug,« sagte Püster kopfschüttelnd, »erzählen Sie mir einfach, wie die Sache war, und wenn möglich, etwas lauter, junger Mann, denn mein Gehör fängt doch an mit den Jahren ein wenig nachzulassen.«

»Ich will es versuchen,« sagte Karl. »Der Arzt hatte mir verordnet, frische Luft zu athmen und mir besonders Bewegung zu machen, die mir die langen Jahre gefehlt. Ich suchte deshalb die einsamsten Gänge in den Anlagen, wo ich hoffen durfte, den wenigsten Menschen zu begegnen; ich wollte nicht gern gesehen werden und wich auch, wo ich konnte, mir Begegnenden aus. Da bogen plötzlich zwei Herren um das vor mir befindliche Gebüsch, und ich wäre auch jetzt am liebsten wieder umgekehrt, aber das würde zu auffallend gewesen sein. Sie waren außerdem sehr elegant gekleidet und konnten mich nicht kennen. Ich habe nicht die Gewohnheit, die Leute unterwegs zu betrachten, aber fast unwillkürlich wandte sich mein Blick diesen zu, um zu sehen, ob sie mich beobachteten. Das Gesicht des Kleineren – der Andere war ein auffallend langer Herr – fesselte aber plötzlich meine Aufmerksamkeit. War es ein Bekannter? Das Ganze kam zu schnell, um in mir zu überlegen, daß das nicht möglich sei: aber ich hielt doch das Auge auf ihn, und plötzlich stach es mir wie ein Messer durch's Herz, denn die Gestalt, die mich Tag und Nacht nicht verlassen seit Jahren, weil ich in ihr nur den allein Schuldigen glauben konnte, stand auf einmal vor mir, dieselbe Größe, die nämlichen blonden Haare, dasselbe unruhige blaue Auge, die ganze Haltung. Ich blieb, meiner Sinne kaum mächtig und immer nur den Einen anstarrend, mitten im Wege stehen, als sich die Beiden umdrehten und wieder von mir fortschritten. Jetzt packte mich die Angst, daß mir der, dessen Anblick ich vom lieben Gott so oft erbeten, wieder fortkommen könne, ohne daß ich ihn gesprochen, ohne daß ich erfahren, wer er sei, und in fast athemloser Hast, denn die beiden Herren gingen jetzt sehr rasch, folgte ich ihnen. Als ich sie endlich erreichte, faßte ich – ich wußte kaum selber was ich that – den Arm des langen Herrn und fragte ihn nach den Namen seines Begleiters.«

»Nun, wie hieß er?« fragte der Notar.

»Der lange Herr wurde böse und glaubte auch wohl, ich wollte betteln; auch der Andere schien nicht besonderer Laune und sah dabei sehr vornehm aus. Aber er nannte mir selber seinen Namen.«

»Und …«

»Er hieß Graf Rauten.«

Der Notar sprang wie von einer Natter gestochen in die Höhe und von seinem Stuhl empor.

»Graf Rauten?« wiederholte er und starrte den Sprecher dabei ganz verdutzt an. »Sie haben sich doch nicht verhört, junger Mann?«

»Verhört?« sagte Karl wehmüthig. »Auge und Ohr faßte jede Silbe, die er sprach, und wenn ich hundert Jahre alt würde, den Namen könnte ich nun und nimmer wieder vergessen?«

»Graf Rauten« – wiederholte der Notar, als ob er die Worte in einem Traume nachspräche.

»Das stimmt,« sagte aber Semmlein jetzt. »Graf Rauten und Herr von Schaller gingen vorhin an meinem Fenster zusammen vorüber, und der Baron ist meinswegen ein sehr langer Herr. Der war jedenfalls mit ihm zusammen.«

»Und wie wurde es weiter?«, fragte jetzt der Notar, der die Züge des jungen Mannes in äußerster Spannung betrachtete.

»Ja, weiter,« sagte Karl gedrückt – »was konnte ich weiter thun? Er glich allerdings dem Manne, der mir damals den Stock abgekauft, auf ein Haar; aber dann ein so vornehmer Herr, ein Graf, es war ja doch nicht möglich, nicht denkbar, und ich selber stand auch so verdutzt und wußte mir so gar keinen Rath, daß die beiden Herren mich dann stehen ließen und weiter gingen. Sie hielten mich wohl für verrückt, ich glaube wenigstens, der Eine von ihnen sprach etwas, das so klang; aber ich begriff nicht einmal den Sinn gleich und war gar nicht im Stande ihnen zu folgen. Wozu auch, was in der Welt hätte ich machen wollen?«

Püster nickte langsam mit dem Kopfe. »Nein,« sagte er endlich, »machen konnten Sie da nichts, und ich fürchte fast, jetzt auch nicht. Einmal liegt die Möglichkeit vor, daß Sie sich doch geirrt; ja, es ist sogar das Wahrscheinliche, denn das kann ich mir selber nicht denken, und dann auch, selbst den Fall angenommen, daß Sie Ihre alte Bekanntschaft in dem Herrn wieder gefunden, wie um Gottes willen wollten Sie das je beweisen? Ich glaube auch nicht, daß irgend ein Gericht die Klage nur annähme, denn wie viele Jahre sagen Sie, daß es her ist?«

»Sieben Jahre – und schon darüber.«

»Nun, sehen Sie wohl; ein Mord kann allerdings nicht verjähren; aber wenn schon damals nicht der geringste Verdacht auf den wirklichen Thäter gefallen ist, oder man hätte Sie nicht verurtheilt, so wäre es jetzt selbstverständlich vollkommen unmöglich, auch nur den geringsten Beweis zu führen; denn daß Jemand, der ein solches Verbrechen verüben kann, es nachher auch selber und ohne Zwang eingestehen würde, darauf können wir doch nicht rechnen.«

»Und glauben Sie nicht, Herr Notar,« sagte jetzt der alte Tischlermeister, der kein Wort bis dahin gesagt und nur in peinlicher Spannung die Züge des Advocaten beobachtet hatte, »glauben Sie nicht, daß man dem Gericht wenigstens die Anzeige machen müßte?«

Püster schüttelte mit dem Kopfe. »Was sollte Ihnen das nützen? Wollen Sie es einfach zu Protokoll geben? Das ist gar nichts, und weiter würden Sie nie etwas damit erreichen. Hm, hm, hm, hm, –« Er war aufgestanden und ging mit raschen Schritten in seinem Gemach auf und ab, trat an's Eckfenster, blickte eine Weile hinaus in's Leere, kam dann wieder zurück und nahm seinen Spaziergang von neuem wieder auf. Endlich blieb er vor Karl – denn sein Besuch hatte sein Nachdenken durch keinen Laut unterbrochen – stehen und sagte: »Wie heißt der Ort, wo sich jenes Unglück zugetragen?«

»Ja, Herr Notar, es war mitten im Walde.«

»Wie hieß das letzte Dorf, das Sie verlassen hatten?«

»Wedeschütz!«

»Und das andere, wohin Sie wollten? – Warten Sie einmal einen Augenblick, ich kann mir auch die Namen notiren.« Er trat dabei an sein Pult und nahm seine Feder und ein Blatt Papier. – »Also Wedeschütz in Schlesien?«

»Ja, Herr Notar, aber es war nur ein ganz erbärmliches Nest, kaum ein paar Häuser und das Wirthshaus.«

»Das thut nichts – und das andere, auf das Sie zuhielten?«

»Ja, wie das andere Dorf hieß, habe ich jetzt vergessen; aber ich wollte nach einem kleinen Städtchen, Otibor, und es war nicht mehr weit dorthin.«

»Otibor hieß das?«

»Ja, Herr Notar, und ich war auch früher schon dort gewesen, als ich nach Schlesien hineinmarschirte.«

»Und ist dort ein Gericht?«

»Dort bin ich ja verhört worden und habe so lange in Untersuchungshaft gesessen.«

»Ach so!« sagte Püster.

»Das war auch der Ort, wohin ich eigentlich jetzt zurückzukehren wünschte, um mich selber zu erkundigen,« fuhr Karl fort, »denn ich hatte ja doch keine Ahnung, daß ich dem Menschen hier begegnen konnte.«

»Vor allen Dingen, lieber Freund,« sagte der Notar, »wissen wir noch gar nicht, ob es wirklich der Mensch ist, und wenn ich aufrichtig sein will, so kann ich mir gar nicht denken, wie wir es herausbekommen wollen. Eine kurze Zeit aber überlassen Sie die Sache einmal mir, und wenn Sie einen guten Rath von mir annehmen wollen, so sprechen Sie vor der Hand mit keinem Menschen weiter über dieses Begegnen. Oder haben Sie das etwa schon gethan?«

»Der Schwester und der Mutter, ja,« sagte Karl kleinlaut.

»Na, das ist gerade genug für ein Geheimniß, wenn zwei Frauen darum wissen,« nickte Püster vor sich hin.

»Aber die sprechen gewiß mit keinem Menschen darüber,« sagte Meister Handorf jetzt. »Meine Alte wird todtenbleich, wenn sie nur jenes Unglück erwähnen hört, und die Grethe ist gar nicht wie ein Mädchen, sondern immer still und verschlossen, und wenn man von der etwas erfahren will, muß man es Wort für Wort aus ihr herausziehen.«

»Desto bester; dann gehen Sie jetzt nur gleich wieder nach Hause und befehlen Sie den Beiden festes Schweigen an, und auch Sie, Herr Nachbar …«

»Na, vor mir sind Sie sicher,« rief Herr Semmlein, »ich rede meinswegen mit keinem Menschen darüber, und wenn es meine Frau nicht erfährt, thut die's auch nicht.«

»Sehr schön! Also wenn ich etwas höre, sage ich Ihnen Antwort – und noch Eins: der Stock, mit dem das Verbrechen damals verübt wurde, stand auf dem Gericht, nicht wahr?«

»Ja, Herr Notar, in Otibor, wo ich verhört wurde.«

»Und können wir nicht einmal wieder vorfragen?« sagte der Tischlermeister.

»Das hilft Ihnen nichts. Hoffnung kann ich Ihnen keine geben, aber einen Versuch wollen wir wenigstens machen – einen Versuch wollen wir machen.«

Er trat damit wieder zu seinem Pult und nahm die dort liegenden Briefe auf, und Semmlein, der dies als ein vollgültiges Zeichen ansah, daß er nicht länger gestört sein wollte, gab seinen Begleitern einen Wink und verließ nach kurzem Gruß, den aber Püster schon gar nicht mehr beantwortete, mit den Beiden das Zimmer.

Der Notar schrieb jetzt einen Brief, schob ihn dann in ein Couvert, adressirte ihn und steckte ihn in die eigene Tasche; dann erst rief er durch sein im Zimmer angebrachtes Sprachrohr Mux wieder herein, und dieser ging auch ohne Weiteres an seinen alten Platz, um die vorhin angefangene Arbeit zu vollenden.

»Haben Sie die Photographie hier weggenommen, Herr Notar?«

»Ja, Mux. Du kannst mit dem Brief nach Hamburg noch warten. Ich will mich erst einmal nach etwas erkundigen. Ich gehe jetzt aus, Mux, wenn Jemand nach mir fragen sollte, in einer Stunde bin ich wieder zurück.«

»Sehr wohl, Herr Notar,« und Püster war schon, seinen Hut rasch aufgreifend, draußen vor der Thür.



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