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23.
Der erste Verdacht


Oben an seinem Eckfenster stand Notar Püster und schaute auf die Straße hinab, das heißt: er hielt den Blick dahin gerichtet, sah aber wirklich gar nichts, was da unten vorging, als nur vielleicht vorüberziehende Gestalten, die wie in einem Schattenspiel wechselten, ohne daß er im Stande gewesen wäre, ihnen eine bestimmte Form abzugewinnen.

Unten vorüber ging Herr Hofapotheker Semmlein und grüßte sehr freundlich herauf – Püster starrte ihn an –, aber der Gruß prallte so machtlos an ihm ab, als ob er der nächsten Dachrinne gegolten hätte.

Nebenan im Fenster lag Director Sußmeyer, rauchte seine türkische Pfeife und räusperte sich laut, des Organs wegen – Püster wandte den Kopf nach ihm, hörte aber factisch das Räuspern nicht, noch sah er den Director; nur wie ein Feuerschein flimmerte ihm der rothe Schlafrock und das rothe Gesicht vor den Augen.

Ein Gefühl hatte er aber doch trotzdem behalten, das der Aufmerksamkeit auf seine eigene Thür, und immer wieder drehte er den Kopf dahin. Es war augenscheinlich, daß er Jemand erwartete, bis endlich Mux eintrat und Püster mit einem: »Nun, hast Du ihn getroffen?« – nach ihm herumfuhr.

»Nein, Herr Notar,« sagte Mux, indem er seinen Hut an den betreffenden Haken hing, »ich bin an vier, fünf verschiedenen Stellen gewesen, wo mir die Frau Rentamts-Kassirer sagte, daß ich ihn möglicher Weise finden könnte, aber er war nirgends, weder im Bierhause, noch auf der Post, noch im Keller oder in der Conditorei, und dabei bin ich in vier verschiedenen Bierkellern gewesen.«

»So – und warst selber durstig geworden?«

»Durstig? – vielleicht,« erwiderte Mux, während aber doch ein bitterer Zug um seine Lippen zuckte; »aber Sie wissen, daß ich nicht trinke.«

»Hm, ja – würde Dir übrigens manchmal gar nichts schaden …«

»Beim Herrn Rentamts-Kassirer habe ich dann hinterlassen,« fuhr Mux fort, »daß sie ihn herschicken, sobald er nach Hause kommt. Ist Ihnen doch recht?«

»Ja, gewiß, kann nichts helfen, wenn er sonst nicht aufzutreiben ist. Aber alle Wetter, Mux, jetzt bricht die Sache los! Hast Du den Brief aus Schlesien gelesen?«

»Nein, Herr Notar.«

»Lies ihn einmal – da liegt er –, lies ihn aber laut, ich möchte ihn selber noch einmal hören.«

Mux öffnete den Brief – »sie schicken ja die Photographie wieder zurück!«

»Allerdings – ich hatte sie auch verlangt –, aber lies nur.«

»Verehrter Herr,« las Mux, »einen Grafen Rauten kennen wir hier in der Gegend nicht, der Name kommt hier überhaupt nicht vor. Was dagegen die mitgesandte (und anbei zurückgehende) Photographie betrifft, so ist die Person, der dieselbe entnommen wurde, ein allerdings von vielen Leuten noch hier gekanntes Individuum, das sich aber auch schon unserem Districte seit langen Jahren entfremdet hat. Der Mensch, den die Photographie darstellt, ist ein gewisser Kuno von Tröben, der aus hiesiger Gegend stammt und eine sehr wilde und zügellose Jugend – von seinen Eltern vollständig vernachlässigt – verlebt hat. Schulden halber hat er sich von hier entfernt, und die Zeit, die Sie angeben, stimmt in der That ziemlich genau. Das kleine Gut seines Vaters liegt oder lag (denn die Eltern sind schon vor längeren Jahren verstorben und das Gut wurde den Gläubigern überwiesen und ist jetzt in andere Hände übergegangen) etwa eine halbe Stunde von dem durch Sie bezeichneten Dorfe entfernt. Ein Verdacht eines Verbrechens hat indeß nie gegen den jungen Tröben vorgelegen, derselbe auch nie, so weit ich mich erinnere, unter einer Anklage gestanden – Schulden allein ausgenommen. Ich halte ihn auch eines Verbrechens kaum für fähig, es war nur ein entsetzlich leichtsinniger junger Mensch, und die Nachbarschaft dankte damals Gott, als sie ihn los war.

Jener Stock, mit dem der Mord an dem Juden verübt wurde, folgt, da Sie damit einem weiteren Verbrechen auf die Spur zu kommen hoffen, anbei, mit dem dringenden Ersuchen jedoch, denselben, wenn Sie dessen nicht mehr benöthigt sind, wieder zurück zu senden, da er zu den Acten gehört.

Dies zur Erwiderung Ihres geehrten Schreibens, womit ich mich zeichne hochachtungsvoll und ergebenst

Friedrich Bertull,
Justizrath.«

Mux sah den Notar erstaunt an. »Nun?« sagte dieser.

»Das stimmt allerdings,« erwiderte der kleine Mann, »aber was soll das dem jungen Handorf helfen? Es macht seine Angaben so viel wahrscheinlicher, aber es ist noch immer kein Beweis.«

»Nein,« sagte Püster nachdenkend, »darin hast Du Recht, Mux; ein Beweis ist es nicht, wenigstens für kein Gericht, man könnte nicht einmal eine Anklage darauf gründen. Wenn aber das andere ebenfalls zustimmt, so fällt es doch ohne Zweifel mit in's Gewicht, und ich glaube, es wird meine Pflicht, die Familie Solberg jedenfalls von der Sache in Kenntniß zu setzen – die mag nachher thun, was ihr gefällt.«

»Sie wollen den Grafen bei Solbergs verklagen?«

»Nein, ich werde nur den jungen Solberg darauf aufmerksam machen, in welchem allerdings noch keineswegs begründeten Verdachte sein künftiger Schwager steht; nachher mag er selber handeln, wie es ihm gut dünkt. Geh also einmal hin – Du weißt doch, wo Solbergs wohnen?«

»Ja, Herr Notar,« sagte Mux, aber mit so leiser Stimme, daß Püster wirklich nur an der zustimmenden Kopfbewegung sah, er habe ihn verstanden.

»Gut; also bestelle dort, ich ließe den jungen Baron – Hans heißt er – bitten, er möchte doch so gut sein und mich heute im Laufe des Tages einmal besuchen; ich hätte ihm etwas mitzutheilen. Hast Du mich verstanden?«

»Ja, Herr Notar.«

»Du kannst gleich gehen; vielleicht ist er zu Hause, und viel Zeit haben wir eben nicht zu verlieren, denn die Hochzeit soll in den nächsten Tagen sein.«

Mux war auffallend bleich geworden. »Wäre es nicht besser,« sagte er zögernd, »wenn wir ihm ein paar Zeilen schrieben? Ist er nicht zu Hause, so erhält er die Nachricht so viel sicherer, wenn er heim kommt.«

»Ich werde Dir meine Karte mitgeben und ein paar Worte darauf schreiben, das verrichtet dann die nämlichen Dienste, während sie mit der Stadtpost den Brief vielleicht erst morgen früh hinschicken. Aber was hast Du nur? Du siehst ja so verstört aus! Ist etwas vorgefallen?«

»Nein, Herr Notar,« sagte Mux, mit dem Kopf schüttelnd, nichts, daß ich wüßte, ich glaubte nur – aber ich will gehen,« setzte er dann entschlossen hinzu; »geben Sie mir nur die Karte, dann brauche ich ja auch nichts weiter zu bestellen.«

»Na, Du fürchtest Dich doch sonst gerade vor keiner Bestellung,« sagte Püster, indem er zu seinem Pulte trat und die Karte schrieb. »So, da, und komm bald wieder, denn es ist heute viel zu thun. Apropos, wann hat die Frau geschrieben, daß sie hier eintreffen will?«

»Eigentlich wollte sie schon vor ein paar Tagen hier sein,« sagte Mux, »aber sie war ja so krank geworden, und der Arzt ließ sie nicht abreisen, wie sie uns meldete. Aber so wie sie sich besser fühlte, gleich …«

»Ach ja, jetzt erinnere ich mich – nun, dann kann sie eben so gut heute wie morgen eintreffen. Jedenfalls telegraphirte sie aber noch vorher, damit wir ein Zimmer im Hotel bestellen.«

Damit ging er wieder an seine Arbeit, und Mux nahm seinen Hut, um den ihm gewordenen Auftrag zu erfüllen. –

In Solberg's Hause wurde viel gewirthschaftet. Im großen Saale arbeitete der Tapezierer, um den ganzen Raum für die bevorstehende Festlichkeit neu und prachtvoll herzurichten. Da nämlich Graf Rauten seinen festen Entschluß ausgesprochen hatte, mit seiner jungen Frau unmittelbar nach der Trauung abzureisen, so wollte es sich der alte Herr von Solberg auch nicht nehmen lassen, dafür, den Polterabend desto glänzender zu feiern. Die Einladungskarten zu dem schon seit langer Zeit bestimmten Tage waren bereits ausgegeben, und es galt jetzt nur noch, den Salon in allem Glanze herzustellen, wie denn auch an jenem Abend die ganze untere Etage von der Gesellschaft benutzt werden sollte. Es waren Localitäten, die Hunderte von Personen fassen konnten.

Die kleine Familie hatte sich auch heute vor dem Diner im Garten zusammengefunden; der Frühling war in voller Pracht ausgebrochen mit seinen Tausenden von Blumen und Blüthen, die Finken bauten geschäftig an ihren Nestern, und die Schwalben strichen hoch, hoch oben im blauen Aether herüber und hinüber. Alles freute sich der lieben, herrlichen Zeit, und kein Wunder denn, daß auch der Sonnenschein in die Herzen der Menschen eingekehrt war.

Solbergs hatten ein Paar junge Baronessen, weitläufige Verwandte, schon seit einigen Tagen zum Besuche bei sich. Es waren allerdings, was man so im gewöhnlichen Leben ein paar »Landgänschen« nennen würde. Ihr Papa hatte sie auch nur herein in die Stadt geschickt, um das Leben dort ein wenig kennen zu lernen und dann den Polterabend-Ball bei seinem Vetter mitzumachen, sonst aber liebe, gute Wesen, heiter und frisch und glücklich in allem Neuen, was sich ihnen bot. Das junge Volk amüsirte sich auch vortrefflich, und während Herr und Frau von Solberg auf der Terrasse saßen und ihnen zuschauten, tummelten sie sich wacker auf dem freien Platz davor herum.

Der Ausgelassenste von Allen schien aber heute der sonst eigentlich viel mehr stille und zurückhaltende Graf Rauten. Er war erst vor kaum einer Viertelstunde von einem Spaziergang, wie er sagte, herausgekommen, sprang aber rasch mitten zwischen das muthwillige junge Volk hinein, und ehe noch fünf Minuten vergangen, hatte er schon ein Gesellschaftsspiel arrangirt, bei dem die jungen Damen nur immer laut aufjubelten, und selbst der alte Freiherr, der sich sonst in seiner Grandezza von solchem Lärmen gern fern hielt, anfing warm zu werden.

Von dieser liebenswürdigen Seite hatte sich eigentlich Graf Rauten noch nie gezeigt, und das gerade Hans auch nicht an ihm gefallen, daß er sich gewöhnlich bei lauter Fröhlichkeit nie mit hinreißen ließ. Heute dagegen riß er sogar Andere hin, und Franziska selber war glücklich darüber.

Drinnen im Hause, an der nach vorn zu führenden Thür, hatte es indeß geklingelt und als einer der Diener öffnete, stand ein kleiner, buckliger, sehr bleicher Mensch draußen und verlangte Herrn von Solberg zu sprechen.

»Kann ich's nicht ausrichten?«

»Nein,« sagte Mux leise, »ich habe einen Auftrag an den jungen Herrn von Solberg. Ist er zu Hause?«

»Ja, im Garten.«

»Kann ich zu ihm gehen?«

»Nein, es ist Gesellschaft da, treten Sie hier einen Augenblick herein, ich will ihn herrufen,« und der Bediente schlenderte langsam fort. Was brauchte er auch auf den kleinen, verkrüppelten Menschen in seinem schon etwas schäbigen Röckchen, der mit dem Hut in der Hand vor ihm stand, besondere Rücksichten zu nehmen – er, als Lakai des Baron von Solberg!

Mux blieb allein in dem großen, geräumigen Vorsaale, der reicher ausgestattet war, als manche »gute Stube« bei eben so vornehmen, aber ärmeren Familien. Große, mächtige Mahagonischränke standen darin, mit Spiegelscheiben statt der Thüren, Tische mit Marmorplatten und massiv geschnitzten Füßen, vergoldete Kleider- und ebensolche Regenschirmhalter, und der mit Eichengetäfel eingelegte Boden war von Spiegelglätte.

Und mitten darin stand die kleine, verkrüppelte, dürftige Gestalt, stand Mux, und hielt seinen Hut mit beiden Händen und beide Hände auf sein Herz gepreßt. Drückte ihn die ungewohnte Pracht, die ihn umgab? Schwerlich wohl. Sein Auge glitt achtlos darüber hin, aber immer heftiger, immer ungestümer hob sich seine Brust; er athmete schwer und gewaltsam und kämpfte augenscheinlich gegen das in ihm aufsteigende Gefühl an, bis es ihn endlich übermannte. Er konnte nicht mehr, und beide Hände mit dem kleinen Hute gegen sein Gesicht pressend, stürzten ihm die Thränen aus den Augen.

Indessen tummelte sich da draußen das junge, lustige Volk umher, und wie Kinder hetzten sie sich bei einem Spiel, das, wie Kämmerchen vermiethen, aber mit mehr Variationen, sie zwang, fast unaufhörlich ihre Plätze zu wechseln und einander den Rang abzulaufen.

Herr von Solberg senior stand auf der Terrasse und sah ihnen lächelnd zu, als der Diener zu ihm trat und meldete: »Herr Baron, es steht ein kleiner, buckeliger Mensch draußen, der den jungen Herrn Baron zu sprechen wünscht.«

»Hat keine Zeit jetzt,« sagte der alte Herr kurz.

»Er behauptet, einen Auftrag zu haben.«

»Einen Auftrag – also keine Bettelei?«

»Ich glaube nicht, möglich ist's freilich.«

Der Baron schaute für einen Moment dem Spiel da draußen zu. Rauten wollte gerade mit einer der jungen Damen wechseln, als ihm Hans in den Weg kam; noch war ein anderer Platz leer, und wie der Blitz wandte er sich, um diesen zu erreichen. Da sah er schon unter seinen Füßen die etwas zu lange Schleppe Franziska's, und in der Furcht, darauf zu treten, wandte er im Niedersetzen den Fuß zur Seite, verlor dadurch das Gleichgewicht und fiel der Länge nach auf den Rasen, was natürlich mit jubelndem Lachen begrüßt wurde. Rauten aber, seinen Vortheil gewahrend und überhaupt außerordentlich gewandt, entdeckte in demselben Moment auch einen unbewachten Platz, schnellte sich wieder in die Höhe, schoß darauf zu und gewann ihn, ehe sich die jungen Damen von ihrem Lachen erholen konnten.

»Hans!« rief in diesem Augenblick Baron von Solberg »Hans!«

»Ja, Papa!«

»Bitte, komm einmal her.«

»Gleich, den Augenblick.« – Hans hatte bemerkt, daß Rauten bei seinem Sturz etwas Weißes und Blitzendes verlor. War es vielleicht ein Ring? Er sprang der Stelle zu und fand im Grase einen Würfel, den er lächelnd zu sich steckte. Er konnte ihn doch jetzt nicht dem Eigenthümer vor all' den jungen Damen zurückgeben, denn Franziska besonders würde ihn deshalb scharf in's Gebet genommen haben.

»Hans, es verlangt hier Jemand nach Dir!«

»Nach mir, Papa?« rief der junge Mann und sprang die wenigen Stufen der Terrasse hinan.

»Ich weiß es nicht, ein kleiner, buckeliger Mensch, der einen Auftrag für Dich haben will.«

»Alle Wetter!« rief Hans, »der ist vom Notar Püster, dem Bevollmächtigten unseres Hamburger Hauses. Da wird doch nichts vorgefallen sein?« Und ohne Weiteres sprang er durch den Gartensalon, dem Vorsaal zu, wohin ihm der Diener eben folgen wollte, als er sah, daß sich auch der alte Herr dazu anschickte und er nun ehrerbietig hinter diesem zurückblieb.

Als Hans das Entrée betrat und den Blick darin umherwarf, bemerkte er mit Erstaunen die kleine, schmächtige, zusammengedrückte Gestalt, das Gesicht in den Händen versteckt und anscheinend in Schmerz wie aufgelöst.

»Holla!« sagte er erstaunt, »was ist das? Was fehlt Ihnen?«

Mux fuhr erschreckt empor; er schien ganz vergessen zu haben, wo er sei, er warf den Blick umher, der dann scheu auf der stattlichen Gestalt des jungen Edelmannes hastete.

»Entschuldigen Sie, Herr Baron,« sagte er jetzt mit leiser, wie angstgepreßter Stimme, »ich fühlte mich plötzlich nicht wohl.«

»Wollen Sie ein Glas Wasser?« rief Hans gutmüthig.

»Ich danke Ihnen, es ist schon vorüber,« sagte Mux; »ich habe nur einen Auftrag vom Herrn Notar Püster auszurichten, der Sie bitten läßt, sobald Sie können, einmal zu ihm zu kommen, da er Ihnen eine Mittheilung zu machen habe.«

»Ist sie wichtig?«

Mux zuckte mit den Achseln. »Der Herr Notar wünschte, sie Ihnen persönlich zu machen; ich glaube, sie ist wichtig.«

»Was will der Mensch von Dir?« sagte in diesem Augenblicke der Baron Solberg Vater, der dem Sohne gefolgt war und jetzt sehr erstaunt, aber auch mißtrauisch das thränenüberströmte Gesicht des kleinen Mux bemerkte.

Wie er das erste Wort sprach, hatte Mux sein großes kluges Auge fest auf ihn geheftet und hielt es da, so lange er sich noch in dem Hause befand, als ob ein Zauber seinen Blick dahin zog.

»Nichts, Vater,« sagte Hans, »es ist der Schreiber des Advocaten; der Notar will mich sprechen, und ich denke, ich werde noch vor Tisch auf einen Sprung zu ihm hinübergehen.«

»Und konnte er da nicht selber zu Dir kommen?«

»Derartige Sachen machen sich am besten in einem Comptoir ab, und man ist dort wenigstens sicher, nicht gestört zu werden.«

»Und Du willst die jungen Damen jetzt verlassen?«

»Geschäfte gehen vor, Papa. – Warten Sie einen Augenblick, ich komme gleich mit, oder gehen Sie auch lieber voraus und sagen Sie dem Herrn Notar, daß ich Ihnen auf dem Fuße folge.« Und damit sprang er die von hier in die obere Etage führende Wendeltreppe hinauf, um sich in seinem Zimmer, nach dem Spiel im Garten, erst die Hände zu waschen.

Mux blieb noch wie gebannt einen Moment auf derselben Stelle, der alte Baron aber, mit keinem Interesse weiter für die Sache und ohne von dem kleinen Boten Notiz zu nehmen, drehte sich ab und schritt wieder in den Garten zurück, und Mux, dem der Mensch in Livrée die Thür schon offen hielt, als ob er sagen wollte: »Na, wird's bald?« verließ ebenfalls das Haus, dessen Thür augenblicklich hinter ihm wieder zufiel.

Hans, als er in sein Zimmer und an den Waschtisch trat, fühlte, daß er den gefundenen Würfel noch in Gedanken in der Hand behalten hatte, und warf ihn auf seinen Schreibtisch, wo er aber nicht liegen blieb, sondern darüber hinrollte und auf die Erde fiel. Die Sechs lag oben.

Hans brauchte übrigens zu seiner Toilette nicht viel Zeit, nur die braunen vollen Locken kämmte er sich flüchtig durch, griff dann seine Handschuhe auf und wollte eben fort, als er den heruntergefallenen Würfel bemerkte. Er nahm sich aber nur Zeit, ihn wieder aufzuheben und nochmals auf den Schreibtisch zu werfen, und ging dann, um den Notar aufzusuchen, denn übermäßig viel Zeit bis zum Diner blieb ihm auch nicht mehr.

Mux hatte sein Bureau schon früher erreicht. Als er zurückkam, meldete er, ohne aber den Notar anzusehen: »Der Herr Baron wird gleich hier sein,« und trat dann an sein eigenes kleines Pult.

Püster schaute ihn verwundert an, denn das verstörte Aussehen des jungen Menschen konnte ihm nicht entgehen.

»Was hast Du denn, Mux? Du siehst ja käseweiß aus, mit rothen Augen wie ein Kaninchen – bist Du unwohl?«

»Nein, Herr Notar.«

»Na, was hast Du dann? Neulich schon einmal war etwas Aehnliches, was, wenn ich nicht irre, auch mit Solbergs in Beziehung stand; ich kann mich nur nicht gleich mehr darauf besinnen, sag' einmal, was ist mit Dir, Mux? Du kommst mir überhaupt jetzt so sonderbar vor.«

»Sonderbar, Herr Notar?«

»Ja! Du weißt, daß ich es gut mit Dir meine; Du stehst jetzt, seit Deine Mutter gestorben ist, allein in der Welt und mußt überzeugt sein, daß ich Dir bis jetzt immer nach besten Kräften gerathen habe. Also hast Du etwas, das Dir auf dem Herzen liegt, Mux, heraus damit, und wir wollen dann sehen, was wir damit anfangen können.«

»Ein ander Mal, Herr Notar,« sagte Mux leise, »da ist Herr von Solberg schon,« und er hatte in der That Recht. Zu gleicher Zeit klopfte es an die Thür, und ehe nur Jemand »Herein!« rufen konnte, stand Hans auf der Schwelle.

»Mein lieber Notar, Sie haben gewünscht, mich zu sprechen,« rief er zu gleicher Zeit, »ist Nachricht von unserem Schiffe eingetroffen?«

»Von Ihrem Schiffe, Herr von Solberg?«

»Von der Kleopatra! – Sie wissen doch, daß wir deshalb in Sorge sind.«

»Von der Kleopatra habe ich nichts gehört,« sagte Püster trocken.

»Hm!« brummte Hans, »dann hätte ich allerdings auch nicht in solcher Eile zu sein brauchen. Ich glaubte, Sie hätten gute Kunde für mich, denn das Fahrzeug ist nur schwach versichert und bringt eine werthvolle Ladung, oder hat sie wenigstens an Bord. Also, was sonst war es?«

»Haben Sie eine halbe Stunde Zeit, Herr von Solberg?«

»Eine halbe Stunde etwa, aber nicht mehr.«

»Die Sache ist sehr wichtig, für Sie sowohl als Ihre Familie.«

»Dann heraus damit! Wollen Sie mich allein sprechen?« fügte er hinzu und warf einen Blick auf Mux hinüber.

»Mux kann da bleiben,« sagte Püster ruhig, »er ist zuverlässig und weiß überdies alles. Also bitte, lesen Sie vor allen Dingen einmal diesen Brief.«

Hans nahm den Brief, den Püster aus Schlesien erhalten. Wie er aber nur den Blick darauf geworfen, sagte er: »Graf Rauten? – Rauten ist, soviel ich weiß, nie in Schlesien gewesen.«

»Bitte, lesen Sie den Brief.«

Hans trat zum Fenster. Sein erster Blick dort flog allerdings zu der gegenüberliegenden Apotheke und zu den oberen Fenstern empor. Da aber dort Niemand zu erkennen war, warf er sich in einen neben ihm stehenden Stuhl und las die Zeilen aufmerksam durch. Aber er schüttelte dabei immer stärker mit dem Kopfe, und als er geendet, sagte er lachend: »Ja, mein lieber Herr, diese Sache, auf die sich das Schreiben bezieht, mag vielleicht für Sie ein besonderes Interesse haben, aber was sie mich angehen sollte, begreife ich nicht recht. Wer ist überhaupt dieser Herr von – wie ist sein Name gleich? – von Tröben, der hier erwähnt, aber als verschollen bezeichnet wird?«

»Die Photographie lag bei …«

»Sehr gut! Aber was in aller Welt habe ich damit zu thun? Ich kenne keine Familie oder einzelne Person dieses Namens.«

»Kennen Sie vielleicht diese Photographie?«

» Rauten – bei Gott!« rief Hans, wie er nur den Blick darauf geworfen, »aber das ist merkwürdig,« setzte er rasch hinzu, »Rauten hat mir selber erklärt, daß er eine Aversion vor Photographien habe, und konnte deshalb auch nie bewogen werden sich hier aufnehmen zu lassen. Noch neulich bat ihn meine Mutter dringend, da sie ein Bild von ihm zurückbehalten wollte, aber er ließ sich trotz alledem nicht darauf ein.«

» Das ist jener Herr von Tröben aus Schlesien,« bemerkte Püster ruhig, »und der Brief bezieht sich auf diese Photographie.«

»Das müßte eine merkwürdige Aehnlichkeit zwischen zwei verschiedenen Menschen sein,« sagte Hans, »aber woher haben Sie das Bild?«

»Das Bild,« erwiderte Püster, »habe ich aus Amerika zugeschickt bekommen, mit dem Auftrage, Nachforschungen nach dem Original anzustellen.«

» Dieses Bild mein' ich,« lachte Hans. »Lieber Notar, Sie machen mich ganz confus. Von was reden Sie jetzt?«

»Ich, mein lieber Herr von Solberg,« sagte der Notar ernst, »rede nur immer von der nämlichen Person, derselben, die das Bild darstellt, denn die Züge lassen sich nicht gut ändern, wohl aber der Name, und es giebt deshalb nichts Unzuverlässigeres auf der weiten Welt, als eben ein Name.«

»Aber Rauten war in Indien in englischen Diensten,« sagte Hans, »nie in Nordamerika, das weiß ich bestimmt, denn wir haben schon verschiedene Male gerade darüber mir einander gesprochen.«

»Aber diese Photographie ist in Amerika selber aufgenommen.«

Hans drehte sie um und las die Firma. »Das ist allerdings wahr,« nickte er verblüfft, »und ich kenne zufällig den nämlichen Photographen. Die Firma ist jedenfalls ächt.«

»Und sollte es das Gesicht da nicht gleichfalls sein?« fragte Püster.

Hans schwieg; er war, wie er das Bild in die Hand bekam, von seinem Stuhl aufgesprungen und ging ein paar Mal mit raschen Schritten in dem kleinen Gemach auf und ab. Endlich blieb er vor Püster stehen und sagte, indem er ihn fest, aber doch halbscheu ansah: »Ich begreife das Ganze nicht und kann nur glauben, daß hier eine merkwürdige Aehnlichkeit vorliegt.«

»Wollen Sie einmal die Lupe nehmen und das Gesicht genau betrachten? Sie kennen doch die kleine Narbe, die Graf Rauten trägt?«

Hans sah aufmerksam hindurch. »Da ist allerdings kein Zweifel mehr,« sagte er endlich, »aber dann begreife ich nicht, weshalb er ableugnet, jemals in Nordamerika gewesen zu sein.«

»Also das leugnet er?«

»Gewiß.«

»Dann kann ich Ihnen vielleicht auch dazu den Schlüssel geben,« sagte Püster ernst, »Irrthum natürlich immer vorbehalten. Es ist das eine Sache,« fuhr er nach einer kleinen Weile langsam fort, »die ich mich eigentlich hüten werde, gegen irgend Jemand zu erwähnen, so lange ich nicht die festen Beweise dafür in Händen habe, und die habe ich noch nicht, wie ich Ihnen vor allen Dingen bekennen muß. Wenn ich aber auch keine Verbindlichkeit gegen Ihre Familie habe, Herr von Solberg, so muß ich Ihnen doch gestehen, daß mich Ihr ganzes offenes Wesen für Sie eingenommen hat, und nur als Freund mache ich Ihnen die folgende Mittheilung.«

»Sie spannen mich auf die Folter, Herr Notar.«

»Sie sollen nicht lange darauf liegen. Also wollen Sie wissen, wer mir diese Photographie gesandt hat?«

»Ich wäre allerdings begierig.«

»Nun denn, eine amerikanische Dame, die da behauptet, das Original dieses Bildes sei ihr Gatte, der sie nicht allein böswillig verlassen, sondern auch ihr ganzes Vermögen mitgenommen, also gestohlen habe.«

»Allmächtiger Gott,« rief Hans, »das ist nicht möglich, nicht denkbar! Ein solcher Verbrecher müßte wie gebrandmarkt umhergehen, und ich habe Graf Rauten eben verlassen, heiter und ausgelassen wie ein Kind.«

»In der That!« sagte Püster. »Und doch liegt noch eine schwerere Anklage gegen ihn vor, für die aber freilich ebenfalls keine festen Beweise erbracht werden können, während meine eigene feste Ueberzeugung ihn schuldig spricht: Mord und Straßenraub.«

»Herr Notar,« rief Hans entsetzt aus, »es ist nicht denkbar! Wann – wo?«

»Der Brief aus Schlesien antwortet Ihnen darauf. Der damals unschuldig Eingekerkerte hat ihn hier erkannt. Wollen Sie gefälligst einmal dieses kleine Schriftstück lesen, das Mux aufgesetzt hat? Es ist die einfache Aussage dieses jungen Mannes, der jenes Mordes wegen sechsjährige Zuchthausstrafe zu verbüßen hatte, und der diesen Grafen Rauten hier, eben als er zurückgekehrt, zufällig auf der Straße traf. Bitte, lesen Sie.«

Hans warf sich in den Stuhl zurück und überlas aufmerksam den kurz und bündig gefaßten Bericht, der sich eigentlich nur mit den wichtigsten Thatsachen beschäftigte.

»Und Graf Rauten?« fragte er dann, als er zu Ende gelesen und das Papier auf seine Kniee niedersinken ließ.

»Soll jener Fremde gewesen sein,« ergänzte Püster, »dem der Handwerksbursche damals seinen Stock verkaufte.«

»Ich werde verrückt,« rief Hans, »wenn ich länger darüber nachdenke, aber es kann nicht sein, es ist unmöglich, undenkbar! Aber er soll mir Rede stehen,« rief er, wieder in die Höhe springend; »ich will es ihm ansehen, wenn ich ihm die Anklage in's Gesicht schleudere, und beim Himmel! da ist kein Moment Zeit zu verlieren« – und in furchtbarer Aufregung griff er nach seinem Hut und wollte fortstürmen. Püster trat ihm aber in den Weg.

»Wollen Sie mich einen Moment ruhig anhören?«

»Ruhig?« lachte Hans wild auf, »wenn meine Schwester die Verlobte eines Räubers, Mörders und Ehebrechers ist?«

»Wollen Sie alles mit einem Schlag verderben,« sagte der Notar dagegen, »oder wollen Sie wie ein verständiger Mann handeln?«

»Aber was kann ich anderes thun?«

»Mich vor allen Dingen erst einmal ruhig anhören; nachher mögen Sie handeln, wie Sie es für gut finden; aber Ihrer selbst, Ihrer Familie wegen müssen Sie erst den Rath eines Mannes hören, der Ihnen eben bewiesen hat, daß er es gut mit Ihnen meint.«

Hans sah ihm fest und für den Moment noch unschlüssig in's Auge. »So reden Sie,« sagte er endlich; »Sie haben Recht, ich bin in diesem Augenblick meiner Sinne kaum mächtig und weiß nicht, was ich thue. Ich will mich Ihnen fügen; Sie haben sogar ein Recht dazu, es zu verlangen.«

»Die Hauptsache also,« fuhr Püster fort, »ist, daß die Verbindung mit Ihrer Fräulein Schwester und jenem Grafen unter keiner Bedingung stattfindet, ehe wir nicht in den beiden Fällen vollkommen klar sehen. Kommt es zum Aeußersten, ehe wir Gewißheit errangen, so steht Ihrer jetzigen Absicht nichts im Wege, aber es ist das nur ein verzweifeltes und keineswegs untrügliches Mittel. Was den Raubmord betrifft, so muß ich Ihnen außerdem gestehen, daß ein wirklicher Beweis, ohne das eigene Geständniß des Mörders, jetzt nicht mehr zu führen ist, und wie wenig Aussicht wir haben, ihn dahin zu bringen, werden Sie selber ermessen können. Etwas anderes ist es dagegen mit der Anklage gebrochener Ehe, denn die Frau ist dem Flüchtigen nach Deutschland gefolgt und ich erwarte sie stündlich in Rhodenburg.«

»Sie kommt?«

»Sie wäre schon hier, wenn sie nicht in Hamburg krank geworden wäre und ihre Reise aufschieben mußte; aber wir wissen, daß sie sich auf dem Wege der Besserung befindet, und daß sie sich selber beeilt, darauf dürfen Sie sich verlassen, und zwar weniger um den treulosen Gatten wieder zu finden, als doch wenigstens noch einen Theil ihres Vermögens zu retten.«

»Sie glauben, daß er das noch im Besitz hat?«

»Es war alles in amerikanischen Bonds.«

»Rauten hat erst am Ersten,« rief Hans rasch, »eine ziemliche Quantität derartiger Coupons eingelöst!«

»In der That?« sagte Püster, mit dem Kopfe nickend. »Dann kommen wir vielleicht dadurch schon auf seine Spur; ich habe sämmtliche Nummern – es waren zwanzig »Tausend-Dollar«-Bonds.«

»Und was verlangen Sie jetzt, daß ich thun soll?«

»Vor der Hand gar nichts, als den Herrn nicht merken lassen, daß Sie den geringsten Verdacht auf ihn haben.«

»Sie fordern Unmögliches.«

»Weichen Sie ihm aus, so gut das geht. Ich werde augenblicklich noch einmal nach Hamburg telegraphiren und erhalte dann vielleicht noch an diesem Abend Rückantwort, wann wir die Dame erwarten dürfen.«

»Und dann?«

»Ja, das weiß ich freilich selber noch nicht, wie wir es dann am besten machen; aber ich glaube, wir dürfen es wohl dem Augenblick überlassen. Kommt Zeit, kommt Rath, ist ein altes, gutes Sprüchwort, und die Hauptsache nur jetzt, daß wir dem Grafen keine voreilige Ursache zu Mißtrauen geben.«

»Aber es würde nur die Katastrophe beschleunigen …«

»Für Sie, ja; aber einmal gewarnt, und wir wissen nicht, ob er nicht plötzlich spurlos verschwindet, und trifft die arme Frau dann hier ein, so ist er mit deren Vermögen wenigstens über alle Berge.«

»Sie könnten Recht haben.«

»Uebrigens bin ich nicht der Einzige,« fuhr der Notar fort, »der dem Herrn Grafen schon länger nicht getraut hat. Ich sprach neulich mit Hauptmann von Dürrbeck über ihn, und er äußerte sich ebenfalls nicht günstig. Er kann aber keinen wirklichen Verdacht gegen ihn haben, denn vor ein paar Stunden sah ich die Herren hier die Straße zusammen herunterkommen und in das Café gehen.«

»Dürrbeck und Rauten?« rief Hans erstaunt aus. »Das ist in der That merkwürdig, denn ich weiß von Beiden, daß sie einander nie leiden konnten!«

»Vielleicht ein zufälliges Zusammentreffen,« meinte Püster.

»Aber mit Dürrbeck werde ich mich doch darüber aussprechen können,« rief Hans – »ich muß Jemand haben, dem ich mein Herz ausschütten kann, oder ich vergehe! Großer, allmächtiger Gott, meine arme Schwester, meine armen Eltern! Notar, Sie müssen sich irren, es ist ja nicht anders möglich, und die Frau, wenn sie hier eintrifft, wird uns bestätigen, daß sie den Grafen Rauten nie gesehen!«

»Desto besser dann – aber auch desto besser, wenn wir bis dahin noch keinerlei Verdacht geäußert haben.«

»Ich werde ihm nie wieder frei in's Auge sehen können.«

»Wir wollen das vor der Hand abwarten; übrigens halte ich es für vollkommen unbedenklich, wenn Sie dem Hauptmann von Dürrbeck das mittheilen, was wir hier mit einander gesprochen. Ich weiß, daß er ein Ehrenmann und Ihr Freund ist, und er wird auch nur das unterstützen, was ich selber Ihnen gerathen habe: für jetzt noch abwarten, bis die Zeit gekommen ist, wo wir einen entscheidenden Schlag führen können.«

»Gut,« sagte Solberg, »dann kann ich aber auch jetzt nicht nach Hause und zu Tische gehen, wo ich nur fröhliche Menschen treffe – mein Gesicht würde mich im Augenblick verrathen.«

»So schreiben Sie ein paar Zeilen, daß Sie eine geschäftliche Abhaltung verhindere, bei Tische zu erscheinen. Dort liegt Feder und Papier, und Mux wird den Brief hinbesorgen.«

Hans zögerte einen Moment, aber es blieb ihm keine andere Wahl. Er trat rasch an das Pult und warf ein paar Zeilen auf ein dort liegendes Blatt, das er dann locker zusammenfaltete.

»Wären Sie so freundlich, Herr Mux, diese Zeilen an meine Eltern zu befördern?«

»Es soll richtig und augenblicklich besorgt werden, Herr Baron,« sagte Mux leise, ohne zu dem jungen Manne aufzusehen. Er nahm auch ohne weiteres seinen Hut und verließ das Comptoir.

Hans sah ihm nach. »Das ist ein wunderlicher junger Mensch,« sagte er. »Vorhin, wie er Ihren Auftrag an mich auszurichten hatte, fand ich ihn in unserem Entrée heftig weinend und, wie es schien, in furchtbarer Aufregung – ist er in irgend einer Hinsicht unglücklich?«

Püster hatte aufmerksam zugehört. »Das ist ja sonderbar«, sagte er, »und unglücklich kann man ihn gerade nicht nennen, wenn er auch eben nicht zu den glücklichen Sterblichen gehört. Er ist eine Waise, seinen Vater hat er, glaub' ich, gar nicht gekannt. Seine Mutter ist vor wenigen Monaten gestorben, und er braucht also nur für sich allein zu sorgen. Einen Wunsch freilich kenn' ich, der ihm am Herzen nagt, aber weinen habe ich ihn noch nie gesehen, und weshalb er gerade Ihr Haus gewählt haben sollte, um in Thränen auszubrechen, verstehe ich eben so wenig. Sie kennen ihn doch nicht von früher her, oder Ihre Eltern vielleicht?«

Hans schüttelte mit dem Kopf. »Nein,« sagte er, »und mein Vater kann ihn auch nicht kennen; aber derartige verkrüppelte Menschen haben gewöhnlich etwas sehr Reizbares und sind leicht gekränkt. Möglich, daß ihn der Bediente vielleicht angefahren hatte; aber das sollt' ich nur wissen! Doch ich muß fort – der Kopf brennt mir, und ich bekomme nicht eher Ruhe, bis ich mich mit Dürrbeck über alles ausgesprochen und seine Meinung gehört habe. Leben Sie wohl, Herr Notar, und nur die Bitte noch, daß Sie mich augenblicklich benachrichtigen, wenn Sie etwas Näheres hören – darauf kann ich mich verlassen, wie?«

»Das gewiß; indessen werde ich aber doch ein etwas wachsames Auge auf die Effecten des besagten Herrn haben – besser ist besser, und man kann eben nicht wissen, was geschieht.«

Hans hörte ihn schon nicht mehr; in seinem Gehirn brauste und wühlte es, und er athmete erst wieder voll auf, als er sich unten auf der Straße und in freier Luft fand.

Gerades Weges ging er jetzt zu Dürrbecks Wohnung, fand aber dessen Thür fest verschlossen und erhielt auch auf mehrfaches Anpochen keine Antwort. Es konnte Niemand dort zu Hause sein.



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