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30.
Vor der Entscheidung


Im Hause des Herrn von Schaller, trotzdem daß es so glänzend und selbst luxuriös eingerichtet war, herrschte heute eine höchst unglückselige Stimmung. Schaller lag, die langen Beine weit hinaus über den Teppich gestreckt, beide Hände in den Taschen, den Kopf hinten angelegt, in einem Lehnstuhl seines Salons, starrte an die Decke und pfiff, und ihm schräg gegenüber am Fenster saß seine Frau, noch in ihrer etwas derangirten Morgentoilette, die schon grauenden Haare unordentlich unter einer nicht übermäßig reinen Mütze hervorquellend, noch in Pantoffeln und ebenfalls in einer Laune, die ihrem überdies schon alten Gesicht etwas wirklich Abstoßendes verlieh.

»So höre endlich mit Deinem verwünschten Pfeifen auf,« rief sie. »Du bringst Einen ja noch zur Verzweiflung; mir ist so schon der Kopf, als ob er mir abfliegen müßte.«

»Hm,« brummte Schaller und sah sie mit einem nichts weniger als zärtlichen Blick an. »Das wäre in der That schade drum; aber, mein süßes Herz, vermuthest Du, daß ich etwa in besserer Laune bin? – das Pfeifen macht mir Luft.«

»Und was nun?« fragte die Frau.

»Ja, Geliebteste,« sagte Schaller, indem er sich wo möglich noch länger ausstreckte und mit den Füßen schon unten gegen das Mahagoni-Tischbein kam, »das ist gerade die große Frage. ›Was nun?‹ und das Niederträchtige dabei, daß es sich hier nur um einen einzigen lumpigen Tag, um elende vierundzwanzig Stunden handelt.«

»Aber weshalb hast Du den Wechsel auch ausgestellt und nachher anerkannt?«

»Unschuldsvolle Seele,« sagte Schaller, aber mit einer Miene und Betonung der Worte, als ob er das boshafteste Schimpfwort gegen sie gebraucht hätte, »wovon hätten wir dann leben wollen und so leben, wie es Deinen Neigungen, meine Taube, entspricht! Das Feuer brannte mir ebenso auf den Nägeln wie in diesem Augenblick, und wenn ich heute einen eben solchen Esel fände, der mir löschen hülfe, so würde ich ihm bereitwilligst auch heute die Arme öffnen. – Aber so dumm das Volk im allgemeinen ist, und so leicht man ihm in einer Menge von Dingen Sand in die Augen streuen kann, in Sachen des Geldbeutels sind sie bildungsfähig und besitzen gewöhnlich eine instinctartige und fast krampfhafte Neigung, ihn geschlossen zu halten.«

»Aber ich begreife gar nicht,« sagte die Frau, »daß es bei einer solchen Sache auf einen Tag ankommen kann. Du erklärst einfach, daß Du heute gerade zufällig kein baares Geld liegen hättest – das kann jedem Menschen passiren – und daß Du morgen oder übermorgen zahlen würdest.«

Schaller hatte ihr mit dem freundlichsten Lächeln von der Welt zugehört, ohne seine Stellung aber im Geringsten zu verändern; er war nur wo möglich noch ein wenig mehr an dem Stuhl hin und gewissermaßen in seine Taschen hinein gerutscht. Als seine Frau geendet hatte, nickte er ihr aber liebevoll zu und sagte:

»Du bist ein gar zu kluges Täubchen, meine geliebte Gattin, sonderbar, daß Du Dich nur so lange gehalten hast, denn zu kluge Kinder sollen eigentlich nicht lange leben.«

»Ich verbitte mir Deine albernen Bemerkungen, Theodor,« rief die Frau, die ihren Gatten schon kannte, gereizt. »Hab' ich etwa nicht Recht?«

»Gewiß hast Du Recht, mein holder Seraph!« sagte Theodor mit seinem gewinnendsten Lächeln. »Du wirst Dich vielleicht erinnern, daß Du immer Recht hast; es ist nur der einzige, so schwer gut zu machende Fehler, daß Du nichts, gar nichts auf der Gottes Welt verstehst und zwischen den Farben herumtappst, wie eine Kuh in einem Atelier. Wenn ich heute nicht bezahlen kann, und zwar einen Wechsel, der mir schon vor vierzehn Tagen präsentirt wurde und den ich acceptirt habe und acceptiren mußte, wenn wir nicht das nämliche Vergnügen schon zu jener Zeit haben wollten, so wissen die Herren, daß ich nicht zahlen kann, in wenigen Stunden spricht sich das in der Stadt aus, und wenn es Dir dann Vergnügen machte, könntest Du halb Rhodenburg empfangen: Schuster, Schneider, Tischler, Delicatessen-Handlungen, Bäcker, Fleischer und Gott weiß wen sonst noch – Herrn Hofapotheker Semmlein ›meinswegen‹ an der Spitze.«

»Das begreife ich nicht,« sagte Frau von Schaller.

»Du bist vollkommen entschuldigt,« versicherte ihr Gatte. »Klug kann jeder Mensch durch fleißiges Studiren werden, aber Dummheit ist eine Gabe Gottes und muß respectirt werden.«

»Du bist unausstehlich, Schaller, ich halte es auch nicht länger mit Dir aus.«

»Schade, daß Du das nicht früher gefunden hast, ich habe Deine Ausdauer schon viele Jahrzehnte bewundert; aber was ich Dich fragen wollte: hast Du zu Rauten hinübergeschickt?«

»Schon vor einer halben Stunde, Kathinka hat es besorgt. Das Kind weiß auch mehr, als es wissen sollte. Sie hatte vorhin ganz rothgeweinte Augen.«

»Mein süßes Herz,« sagte Herr von Schaller, »es geht das, wenn wir von den rothgeweinten Augen absehen, vielen Menschen in Rhodenburg so, und das Schlimmste ist, sie werden mit jedem Jahre klüger, – aber kommt da nicht Jemand?«

Es zog draußen allerdings an der Klingel, und Schaller richtete sich empor und nahm die Hände aus den Taschen. Das Mädchen hatte geöffnet. –

»Herr von Schaller zu Hause?«

»Das ist Rauten!« rief Schaller, von seinem Stuhl emporspringend; »aber er wird die alte Geschichte singen: ›Morgen, morgen, nur nicht heute!‹ – Wenn man nur so ein verdammtes Opiat wüßte, mit dem man die ganze Stadt auf vierundzwanzig Stunden einschläfern könnte!« Dabei war er mit zwei Schritten an der Thür und öffnete sie, um den sehnlichst Erwarteten zu begrüßen.

»Hallo!« lachte aber dieser, als er den Salon betrat, wo ihm die hier herrschende Stimmung natürlich nicht entgehen konnte, »was ist da vorgefallen? Die gnädige Frau läßt die Flügel hängen, und Schaller sieht aus, als ob er ein Stück Rhabarber kaute!«

»Die Situation auf den Kopf getroffen,« bestätigte Schaller; »ich kaue in der That Rhabarber mit etwas asa foetida dazwischen, und meine geliebte Gattin, die Taube, könnte man auch eher mit einem begossenen Pudel vergleichen. Rauten, es geht mir an den Kragen, und ich kann nicht mehr bis morgen warten.«

»Ich bringe gute Nachrichten,« rief der junge Mann, indem er seinen Hut auf den Tisch stellte und sich selber in einen Stuhl warf, »famose Nachrichten!«

»Den Teufel bringen Sie!« rief Schaller, ihn ungläubig ansehend. »Nachrichten, die mir ebenfalls helfen?«

»Da, lesen Sie den Brief,« sagte Rauten, indem er ein kleines Couvert aus der Tasche nahm und Schaller hinreichte, »das hat mir Fränzchen eben im Auftrag ihres Vaters geschrieben.«

Schaller griff das kleine, zarte Billet ziemlich rücksichtslos auf, riß das Couvert ab und überflog den Inhalt mit den Blicken. Aber er bedurfte keiner langen Zeit dazu. Schon im nächsten Moment schwang er das kleine Blatt, sich auf einem seiner langen Beine herumdrehend, in der Hand, dann aber, wie von einem bösen Geist besessen, warf er es plötzlich zu Boden, setzte sich auf den kleinen gestickten Drehstuhl, fuhr wieder in die Höhe, trat auf die Fußbank, riß an einer Klingelschnur, öffnete mit einem Ruck den Cigarrenkasten und ließ in derselben Minute auch die Uhr schlagen, was einen wahren Heidenlärm zur Folge hatte: Heil Dir im Siegerkranz, O, Du mein holder Abendstern, Wir winden Dir den Jungfernkranz und den Marsch aus Gounod's Faust begann es auf einmal an allen Seiten an zu toben, und dazwischen führte Schaller, noch in Morgenhosen und einer kurzen, wollenen, aber gestickten Jacke, eine Art von indianischem Tanz auf, bei dem er mit eingebogenen Knieen und zurückgeworfenem Oberkörper die groteskesten Stellungen und Sprünge erzeugte.

»Aber – Theodor!« rief seine Frau, die Hände zusammenschlagend, »bist Du denn wahnsinnig geworden? Es zerreißt Einem ja die Ohren! Bitte, Herr Graf, fassen Sie den unglücklichen Menschen, er thut sich sonst noch ein Leid an.«

Rauten amüsirte sich vortrefflich über die wirklich komische Beweglichkeit seines langen Freundes und dachte gar nicht daran, ihn zu stören oder zu unterbrechen. Auch die Musik belästigte ihn nicht, da er nicht das geringste musikalische Gehör hatte, und er gab sich deshalb ganz dem Genuß dieses Augenblickes hin.

Selbst Kathinka hatte draußen den Lärm gehört und öffnete erstaunt die Thür, um zu sehen, was es da gäbe, schloß sie aber rasch wieder, als sie den Grafen bemerkte, der auch noch nicht auf sie geachtet hatte. Sie fühlte sich wahrlich nicht in der Stimmung, jetzt die leeren Formeln eines Empfanges durchzumachen.

Schaller kam aber endlich wieder zu sich, und zwar hauptsächlich durch das Verlangen, den Brief noch einmal und aufmerksamer durchzulesen.

»Welch' ein prächtiges, kleines Frauenzimmer Ihre Braut eigentlich ist!« sagte er dann schmunzelnd, »ich habe gar nicht geglaubt, daß sie so vernünftig schreiben könnte. – Also halb ein Uhr? – Aber, Donnerwetter, Rauten, so viel muß es ja gleich sein!«

»Es fehlen noch fünfzehn Minuten daran, und es ist ja hier gegenüber. Ich bin nur herübergekommen, um Sie als Zeuge mitzunehmen. Ist Ihnen das recht?«

» Bon! Dann muß ich nur gleich in meine Kleider fahren,« rief Schaller, »was aber keine fünf Minuten dauern soll. – Herrgott! Der holde Abendstern fängt noch einmal an.«

»Und sind Sie jetzt zufrieden und nicht mehr mißtrauisch?«

»Nicht die Spur, eigentlich auch nie gewesen.«

»Schaller!«

»Auf Ehre nicht! – Wie können Sie so etwas denken? – Aber in fünf Minuten bin ich wieder da« – und vielleicht froh, das Gespräch gerade jetzt abbrechen zu können, eilte er hinüber in sein Zimmer, um dort rasch Toilette zu machen.

Jetzt nahm Frau von Schaller die Gelegenheit wahr – sie hatte in der Aufregung ihr gerade nicht reizendes Morgen-Negligé vergessen, an dem sogar vorn die Locken fehlten – und wollte sich eben auf Rauten stürzen, um aus ihm alle die Einzelheiten heraus zu pressen. Rauten kannte sie aber gut genug und wußte und benutzte ein fast grausames Mittel, sie los zu werden.

»Gnädige Frau,« sagte er, »das ist eine so lange, complicirte Geschichte, daß ich wirklich mehr Zeit, als mir augenblicklich zu Gebote steht, gebrauchte, um Sie gebührend von allem in Kenntniß zu setzen; aber wie ist mir denn? Ich weiß nicht, ob ich mich täusche, Sie kommen mir heute Morgen so verändert vor, ich muß Ihnen gestehen, ich hätte Sie kaum wieder erkannt.«

Frau von Schaller, solcher Art aufmerksam gemacht, warf einen entsetzten Blick in den nächsten Spiegel; aber die Wirkung war zauberschnell. »Oh mein Gott!« stöhnte sie, schoß aber dann auch mit Windeseile zur Thür hinaus. Wo in aller Welt hatte sie auch nur ihre Gedanken gehabt – es war zu entsetzlich!

Rauten lachte still vor sich hin; er wußte, daß sie jetzt gute drei Viertelstunde gebrauchte, ehe sie sich wieder konnte sehen lassen, und dann war er wenigstens vor ihr sicher.

Schaller blieb aber in der That nicht lange; er durfte natürlich diesen wichtigen Act nicht verzögern, und als er in's Zimmer zurückkam und Rauten allein sah – die Uhren hatten indessen alle ausgespielt –, sagte er rasch: »Rauten, die Idee des alten Solberg war Gold werth. Denken Sie, daß ich heut Abend noch einen Wechsel von zwölfhundert Thalern zu zahlen habe, und ich wäre verloren gewesen, denn ich hatte keine Mittel, wegzukommen.«

»Das nimmt Ihnen aber wieder einen schönen Theil von Ihrem Capital.«

»Wissen Sie, Rauten,« sagte Schaller, und ein eigenthümliches Lächeln stahl sich dabei über seine Züge, »ich fürchte, daß bald nach Ihrer Abreise ein Brief von einer jungen Dame eintreffen könnte, der mich ebenfalls hier in möglicher Weise unangenehme Conflicte zu bringen im Stande wäre, und ich werde deshalb die Zeit wohl kaum abwarten.«

»Sie wollen fort?«

»Bis jetzt,« sagte Schaller, »konnte ich natürlich nicht daran denken, denn es fehlten mir zu einer Luftveränderung, die ich nothwendig brauche, die Mittel. Ich hätte den Weg deshalb nur gezwungen eingeschlagen. Jetzt ist das etwas anderes. Ich werde kein Esel sein und zwölfhundert Thaler auf einem Brette auszahlen. Einer solchen Dummheit habe ich mich wenigstens in meinem ganzen Leben noch nicht schuldig gemacht und denke nicht daran, auf meine alten Tage damit anzufangen. Es könnte sein, Rauten, daß ich sogar noch heut Abend nach Ihrer Gesellschaft eine kleine Landpartie mit meiner Familie machte, um den morgenden Tag in den Bergen zuzubringen. Zum Packen der nothwendigsten Sachen habe ich heute den ganzen Tag Zeit, und der Plunder hier herum gehört doch nicht mir. Ich hatte heute Morgen noch die Absicht, eine Weile länger hier zu bleiben, und habe mich deshalb eigentlich so gesorgt; ich war ein Thor – pereat mundus – wenn Sie fort sind, wird es doch hier langweilig im Nest! Was wär's auch, wenn ich das Geld erst morgen erhielt! Bis der Wechsel protestirt wurde und zurückging, konnte ich doch über alle Berge sein.«

»Und Kathinka? Ich glaubte einmal eine Zeit lang, daß sich Hans für sie interessire.«

»Ja,« sagte Schaller, »ich glaubte es auch; aber ich fürchte, das alberne Ding hat eine andere Neigung im Kopfe – eine Hütte und ein Herz, eine alte Geschichte – und sie hat Solberg so kalt behandelt, daß er natürlich die Lust verlor. Aber, alle Wetter, da unten kommt er schon mit dem Alten! Es wird die höchste Zeit – kommen Sie, Rauten – seh'n Sie, da drüben steht die Blendheim am Fenster; es ist das erste Mal, daß sie sich wieder zeigt – alle Wetter, wie blaß sie aussieht!«

Rauten wandte sich ab. »Wir dürfen nicht länger zögern,« sagte er; »es schlägt eben jetzt halb ein Uhr, und der alte Baron ist einer von jenen verzweifelten Menschen, die genau nach der Uhr leben – wir wollen gehen.« –


Im Hause des Tischlermeisters Handorf schien sich in der Zeit wohl alles etwas freundlicher gestaltet zu haben; der alte Meister ging aber doch noch recht sorgenvoll umher, und die Mutter hatte wieder einmal rothgeweinte Augen.

Karl's Gesundheit hatte sich allerdings rasch herausgearbeitet, der kräftige Körper des jungen Mannes siegte über das geistige Leiden, das ihn so lange niedergehalten; aber sein Entschluß, Deutschland zu verlassen und in Amerika Vergessenheit des erduldeten Elends zu suchen, stand auch dafür fest, und eine bessere Gelegenheit hinüber zu gehen, fand sich allerdings so leicht nicht wieder.

Mr. Hummel hatte in aller Form um Margarethens Hand angehalten, und da sich der Meister bei Hummel's Schwager hier erkundigte und nur Gutes dort von ihm erfuhr, so mochte er ihm seinen Segen nicht verweigern. Margarethe hatte ihn ebenfalls seines ehrlichen, offenen Wesens wegen lieb gewonnen, und da er keinen Kautabak mehr anrührte, dafür aber zu rauchen begann, wogegen Margarethe nicht das Geringste einwenden mochte, »denn Tabak müssen die Mannsleute nun einmal haben,« sagte sie, so sollte ihre Verbindung nach dem üblichen Aufgebot in der Kirche gefeiert und dann die Reise nach Amerika gleich angetreten werden, und dabei wollte sie Karl begleiten.

Margarethe war draußen in der Küche, die Mutter saß an ihrem Tischchen und säumte neue Handtücher, Karl stand neben ihr am Fenster und sah gedankenvoll hinaus auf die Straße, und der alte Handorf war draußen in der Werkstätte bei seinen Leuten gewesen und trat jetzt gerade heraus, um sich, wie er es nannte, »einen Augenblick zu verschnaufen«.

Draußen bei der Arbeit hatte er auch wohl alles, was ihn drückte, vergessen, oder es doch wenigstens keine Macht über sich gewinnen lassen. Jetzt, wie er nun die verweinten Augen der Mutter und die gedrückte Gestalt des Sohnes sah, legte es sich ihm wieder wie mit Centnergewalt auf die Brust. Er rückte sein Käppchen und kratzte sich darunter den grauen Kopf; dabei setzte er sich nicht, wie er das bei solchen Gelegenheiten sonst so gern that, ein paar Minuten lang in die etwas harte Sophaecke, sondern er schritt langsam in der Stube auf und ab, und sein Blick suchte verstohlen bald die Mutter, bald den Sohn, bis ihm das Schweigen selber peinlich wurde.

»Flenne nicht in einem fort,« brummte er; »Du weißt, Du machst mir das Herz damit immer noch schwerer, und ich habe doch gerade genug auf meinen Part zu tragen.«

»Aber beide Kinder, Vater, beide Kinder auf einmal und gleich hinaus auf das große, schreckliche Meer!« klagte die Frau – und jetzt konnte sie auch ihre Thränen nicht mehr zurückhalten –, »es ist doch gar zu traurig – gar zu traurig!«

»Ach, Mutter,« klagte Karl, »glaubst Du, daß ich mit leichtem Herzen von Euch gehe – froh werde ich so mein Lebtag nicht wieder, und die Sorge um Euch wird mich außerdem nicht verlassen. Aber kann ich denn anders? Frage nur den Vater selber, ob er mir nicht Recht gegeben hat, denn ich bin ja hier von allen gemieden wie ein Aussätziger – kein Geselle will mit mir arbeiten, oder nur an einem Tische mit mir essen; auf der Straße deuten die Kinder mit Fingern auf mich, und die jungen Mädchen am Brunnen, wenn ich vorübergehe, zischeln mitsammen und erzählen einander, daß ich einen Menschen todtgeschlagen und im Zuchthause gesessen hätte – kann ich das etwa länger ertragen, und ist hier überhaupt noch Hoffnung für mich? Anfangs ja, da glaubte ich es, und Tag und Nacht träumte ich davon, wie ich wieder glücklich werden würde, wenn ich den wirklichen Mörder je begegnete. Jetzt habe ich ihn getroffen, den Mann wenigstens, dessen Bild mich die langen Jahre in furchtbarer Pein gequält; leibhaftig stand er vor mir, so wie ich ihn immer vor mir gesehen – und was sagen die Leute jetzt? Was sagt selbst der alte kluge Mann, der Notar, den wir um Rath gefragt? Es sei ein Graf und eine Anklage gegen ihn ganz unmöglich, da wir auch nicht die geringsten anderen Beweise gegen ihn vorbringen könnten. Damit war meine einzige und letzte Hoffnung zu Schanden gemacht. Ich sehe jetzt ein, daß ich für Deutschland verloren bin, und die einzige Rettung für mich liegt nur noch in jener fernen Welt.«

»Ja,« sagte der Vater, indem er finster vor sich hin mit dem Kopfe nickte, »Rettung für Dich – und ich sehe auch ein, daß Du hier nicht länger bleiben kannst, denn mir selbst würde es das Herz abdrehen, all' den Jammer mit zu erleben, und ohne Arbeit kann überhaupt ein Mann nicht bestehen. Aber was wird denn aus mir? Ich bin jetzt einundsiebzig Jahre alt, und wenn ich mich auch für mein Alter noch rüstig genug fühle, so merke ich doch auch gut genug, daß mir die Knochen anfangen lahm zu werden. Wo hätte ich sonst daran gedacht, mich mitten in der Arbeit auszuruhen! Aber jetzt fühl' ich, daß ich's brauche, wenn ich mich nicht kaput machen will. Es geht eben nicht mehr, wie es gehen sollte, und wie lange wird's dauern, dann sitz' ich ganz da. Wärst Du bei mir geblieben und hättest die Werkstatt übernehmen können, dann war's 'was Anderes, dann konnte ich mich zu Ruhe setzen und doch noch dabei auf Hobelspänen herumtreten, wie ich's von Jugend auf gewohnt gewesen bin. Das ist nun vorbei. Ein Jahr treib' ich's vielleicht noch, und wenn mich Gott gesund läßt, auch möglicherweise zwei – dann aber hört's auf; ich muß meine Werkstätte aufgeben, das Werkzeug verkaufen, das Haus vermiethen, oder auch ganz losschlagen, und dann in irgend einem kleinen Quartier meine letzten Lebensjahre da mit der Alten einsam verbringen. Es wird wohl nicht anders werden.«

»Und doch vielleicht, Vater,« sagte Karl bewegt. »Sieh, dort drüben können sich die Menschen, wie mir Herr Hummel erzählt hat, recht nach freien Willen rühren, und ein fleißiger und tüchtiger Arbeiter wird dort sein eigener Herr. Du sollst aber einmal sehen, Vater, wie ich dort arbeiten werde – aus voller, voller Lust, und jeden Pfennig sparen, den ich verdiene. Ich bin auch ein tüchtiger Arbeiter geworden – sorge Dich deshalb nicht; in der Strafanstalt wurde ich stets in meinem Metier beschäftigt, und sie fanden bald aus, daß ich 'was Ordentliches leisten konnte. Ich bekam Arbeit von allen Seiten und die feinsten und schwierigsten Stücke dabei zu machen, und oh wie gern that ich das, denn ich wußte ja doch, daß ich nur dadurch allein mir später wieder einmal mein Brod verdienen könne. Hab' ich aber erst etwas verdient, Vater, und das Land dabei ein wenig kennen lernen, dann müßt Ihr hinüber zu mir kommen, Du und die Mutter. Ich will Euch schon eine freundliche Heimath herrichten, und Ihr sollt dann Eure alten Tage nicht allein und einsam verleben.«

»Luftschlösser,« sagte der alte Mann, mit der Hand abwehrend; »baue keine Pläne auf Jahre hinaus, mein Junge, wo Du nicht weißt, ob Du selbst in der nächsten Stunde noch lebst. Dir steckt das Amerika jetzt im Kopfe, wie Tausenden von jungen Menschen; Du siehst das alles da in Glanz und Pracht und Sonnenschein, und verdenken kann ich's Dir ja auch nicht, denn verleidet genug haben sie Dir die alte Heimath.«

»Glaube das nicht, Vater, glaube das nicht!« rief Karl bewegt aus. »Meine ganze Seele hängt an der Heimath, und ich würde nie und nimmer daran denken, sie zu verlassen, wenn sie mich hier nicht ordentlich mit Gewalt ausgestoßen hätten! Wie hatte ich mich ja immer darauf gefreut, mit Dir und unter Deinen Augen zu schaffen und zu arbeiten, und mir dann einst selber eine Häuslichkeit zu gründen und Euch Beide dann, die Mutter und Dich auf Eure alten Tage zu hegen und zu pflegen! Es hat nicht sein sollen, wenigstens nicht hier in Deutschland, denn welches brave Bürgermädchen möchte hier wohl mit einem Zuchthäusler vor den Altar treten!«

Der Alte nickte wehmüthig mit dem Kopfe und die Mutter weinte nur stärker, denn sie fühlte ja, daß der Sohn Recht hatte – es war alles vorbei, alles verloren!

An der Thür klopfte es. »Herein!« rief der alte Handorf, eben nicht besonders erfreut über die jetzige Störung; aber bei Bürgersleuten ist es eben nicht Sitte, daß sie sich verleugnen lassen, wenn ihnen ein Besuch nicht paßt. Was kam, mußte eben hereingelassen werden – wie hätte er lügen können und sagen lassen, er sei nicht zu Hause!

Die Thür öffnete sich, aber es war Niemand weiter als der kleine Mux, der Schreiber des Notars Püster.

»Ich störe doch nicht?« sagte Mux.

»Kommen Sie herein, Herr Mux!« rief der Tischlermeister, »Sie stören uns nicht, denn Sie wissen ja doch, was bei uns vorgeht, und haben gezeigt, daß Sie Theil daran nehmen.«

»Ich will Sie nicht lange belästigen,« sagte Mux, der rasch an den Augen der Frau sah, daß sie hier alte, schmerzliche Erinnerungen berührt, bei denen ein Fremder, wer es auch sei, nicht angenehm oder willkommen sein konnte; »ich wollte nur den jungen Herrn Handorf bitten, jetzt gleich, aber ohne weiteres Säumen, zum Herrn Notar Püster hinüber zu gehen, der ihm etwas Wichtiges mitzutheilen hat.«

»Mir?« sagte Karl erstaunt.

»Ja, gewiß; aber bitte, gehen Sie gleich, Sie thun noch dazu ein gutes Werk. Aber ich kann Ihnen jetzt nicht mehr sagen, das Weitere erfahren Sie dann alles drüben bei meinem Principal.«

»So geh doch, Karl,« bat die Mutter, die mit äußerster Spannung den Worten des kleinen Mannes gelauscht hatte, denn an alles knüpfte ja das Mutterherz eine Hoffnung an – »Du weißt ja doch nicht, was der Herr Notar von Dir will, und er hat es immer gut mit uns gemeint.«

»Gewiß geh' ich, Mutter, gewiß,« sagte Karl, indem er schon nach seinem Hut griff – »und wenn es auch nichts für mich ist, wenn ich nur dem Herrn Notar damit gefällig sein kann. Ist er in seinem Hause?«

»In seiner Schreibstube oben,« sagte Mux, »wo er sich immer aufhält. Ich selber habe nur noch einen Weg zu besorgen und komme dann ebenfalls« – und seinen Auftrag ausgerichtet, eilte er fort in das nur wenige Häuser von da entfernte Hotel zum »Römischen Hause«.

Karl aber ging ohne weiteres Säumen zum Notar hinüber; er zeigte sich sonst so wenig als möglich am hellen Tage auf der Straße draußen, aber dem Rufe mußte er jedenfalls folgen, und es war ihm auch dabei so eigen zu Sinn, das Herz schlug ihm so laut in der Brust, als ob etwas Besonderes vorgehen müsse, und doch konnte er sich in aller Welt nicht denken was.


Notar Püster war allein in seinem Zimmer, und als Karl zu ihm hereintrat, ging er ihm freundlich entgegen und reichte ihm die Hand, was er bis jetzt noch nicht gethan hatte.

»Herr Notar,« sagte Karl, »Sie haben gewünscht, daß ich zu Ihnen herüberkommen möchte – ist es etwas, das Sie von mir wünschen?«

»Eigentlich wollte ich Ihnen vor der Hand nur etwas zeigen,« sagte der alte Herr, »wir haben aber nicht mehr viel Zeit zu verlieren, denn ich werde gleich Besuch bekommen. Doch was ich Sie fragen wollte: kennen Sie diesen Stock?«

Er deutete dabei auf die nächste Ecke, in der ein tüchtiger, geschnitzter und eigenthümlich gestalteter Knotenstock lehnte, und Karl drehte sich erstaunt nach der Stelle um, – kaum aber hatte er nur einen Blick auf den Stock geworfen, als er auch mit einem Satze auf ihn zusprang, ihn in beide Hände nahm, betrachtete und dann mit vor Aufregung fast erstickter Stimme ausrief: »Das ist mein Stock, das ist das unselige Stück Holz, mit dem jener Fremde den armen Juden erschlagen! Oh mein Gott, woher haben Sie diesen Stock?«

Püster antwortete nicht gleich; er nickte nur eine Weile langsam vor sich hin, als ob er die Bestätigung erwartet habe, und sagte dann lächelnd: »Von dem Gerichte, das Sie damals verurtheilt hat. Ich schrieb den Herren allerdings nicht, daß ich den Stock dazu benutzen wolle, um vielleicht den wahren Mörder heraus zu finden, denn es ist sehr fraglich, ob ich ihn dann bekommen hätte. Wer gesteht gern ein, daß er eine große Dummheit gemacht oder eine Uebereilung begangen! Aber ich bat die Herren um den Stock, da wir, wie ich ihnen andeutete, mit Hülfe desselben noch auf die Spur eines andern Verbrechens zu gelangen dächten, und dagegen fühlten sie natürlich kein Bedenken. Der Stock, als corpus delicti, befand sich noch bei den Acten, aber die Sache war ja außerdem erledigt und der Verbrecher hatte seine Strafe verbüßt. Man schickte deshalb den Stock an die verlangte Adresse, erbat ihn sich aber, nach davon gemachtem Gebrauch, wieder zurück, da der Gegenstand eben – zu den Acten gehöre und von diesen eigentlich nicht getrennt werden dürfe. Also es ist der nämliche Stock?«

»Oh, wie genau kenne ich ihn,« rief Karl, »und jeden Augenblick wollte ich darauf schwören! Da ist noch die Schlange, die sich ein Stück daran herunterringelt, und da das böse Gesicht, welches die Zunge herausstreckt, und das mir damals besonders Spaß machte, weil es einem von unseren früheren Gesellen, dem Breitkopf, so ähnlich sah!«

»Gut, Herr Handorf,« bemerkte der Notar, der einen Blick auf seine Wanduhr warf – »so erfahren Sie denn jetzt mit kurzen Worten, daß alle Vorbereitungen getroffen sind, um den Mann, den Sie für den wirklichen Thäter halten, zu einem Geständniß zu bringen.«

»Herr Notar!« rief Karl, während ihm der Athem stockte.

»Ich kann Ihnen noch keine Hoffnungen machen,« fuhr Püster fort, »ob er auch Ihren Fall eingesteht, denn es ist in der That nicht recht gut denkbar. Es liegen aber so mannigfache andere Dinge mit sehr starken Beweisen gegen ihn vor, daß eine Entscheidung vollkommen außer unserer Berechnung liegt. Meine Bitte an Sie geht nun dahin, diesen Stock zu nehmen und damit in dieses kleine Nebenzimmer zu treten, bis Sie gebraucht werden. Ich oder Mux werden Sie rufen, und dann treten Sie dem Manne gegenüber und fragen ihn, ob er Sie noch kenne. Was Sie dann sagen werden, wie Sie die Frage stellen wollen, muß ich Ihnen oder dem Augenblick vollkommen überlassen, denn wenn ich Ihnen auch jetzt darin rathen wollte, hätten Sie das doch nachher zehnmal vergessen. Der eigentliche Moment wird und muß das geben, und nachher wollen wir sehen, wie er sich dabei benimmt. Haben Sie mich genau verstanden, wie ich es meine?«

»Ja, Herr Notar,« sagte Karl, und seine Augen blitzten.

»Aber machen Sie mir nicht etwa dumme Streiche mit dem Stock,« setzte der Notar hastig hinzu, da sich ihm der Gedanke plötzlich aufdrängte. »Bedenken Sie, daß wir vor der Hand gar keine Beweise gegen den Herrn haben als nur die Aehnlichkeit, die Sie mit ihm und jenem Buben gefunden, und nach den langen Jahren können Sie sich da doch getäuscht haben. Ich will den Stock lieber dorthin stellen, wo er nicht gleich in die Augen fällt.«

Karl lächelte wehmüthig. »Fürchten Sie keine thörichte Uebereilung von mir, und noch dazu in Ihrem eigenen Comptoir. Ich werde so ruhig bleiben, wie ich jetzt bin; aber den Stock lassen Sie mir – er muß mich und den da wieder zusammen sehen, und dann wird sich zeigen, ob ich ihm Unrecht gethan oder nicht.«

»Ich höre Jemand kommen,« sagte Püster; »bitte treten Sie hier hinein und werden Sie mir nicht ungeduldig, wenn es auch ein wenig lange dauern sollte; wir dürfen es nicht übereilen.«

Baron von Solberg war indessen mit seinem Sohne von Hause weggegangen und befand sich dabei – kein Wunder – in fast fieberhafter Aufregung. In seiner Wohnung sah er alles emsig beschäftigt, die Vorrichtungen für den heutigen festlichen Abend herzurichten. Fränzchen selber war ihm noch mit dem glücklichsten Gesicht von der Welt an der Treppe begegnet und ihm in lauter Seligkeit um den Hals gefallen – und das alles sollte in Luft zerfließen und nur einen Satz voll Thränen und getäuschten Hoffnungen zurücklassen? – Es war zu furchtbar, wenn er es überdachte, und noch immer klammerte er sich an den einen Gedanken an, daß sich Hans geirrt, daß der Mann, dem er das Glück seines Kindes in die Hand gegeben, kein Bube sein könne, der sich in solch teuflischer Absicht in sein Haus geschlichen.

Vater und Sohn schritten auch schweigend, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, den Weg entlang, bis sie Püster's Haus erreichten und Hans seinem Vater die Thür öffnete.

»Hans,« sagte hier der alte Herr, indem er fast wie unschlüssig stehen blieb, »ich kann mir nicht denken, daß Du Recht mit Deiner furchtbaren Anschuldigung hast. Ich hätte das Capital lieber mitnehmen sollen; es liegt bei mir im Schrank bereit, denn wie stehen wir da, wenn sich Rauten – wie ich zu Gott hoffe – von den furchtbaren Anklagen reinigt? Es ist ja nicht denkbar, daß irgend ein Mensch, und viel weniger dann der Mann, dem ich das ganze Leben meines Kindes anvertrauen wollte, ein solcher Verbrecher sein könne. Denke nur, daß Schaller selber mir genaue und befriedigende Auskunft über ihn gegeben, und was müßten wir von ihm denken, wenn sich das alles als falsch und betrügerisch erwiese!«

»Mein lieber Vater,« sagte Hans bewegt, »glaube mir, daß ich nie gewagt haben würde, eine derartige Beschuldigung gegen irgend einen Menschen auszusprechen, viel weniger denn gegen den Mann, den ich schon als meinen künftigen Schwager betrachtete, wenn ich nicht die fast thatsächlichen Beweise dafür in Händen hielte. Nur damit Du Dich selber überzeugen sollst, habe ich Dich aufgefordert, mit hierher zu kommen. War dann alles Täuschung und Irrthum, dann sollst Du sehen, wie ich der Erste bin, der Rauten die Hand reicht, ihm alles gesteht und ihn um seine Verzeihung bittet. Und ist dann Rauten ein Ehrenmann, so muß er selber fühlen, wie er nur dadurch gewonnen, daß alles, was gegen ihn vorlag, zur Sprache gebracht und ihm so Gelegenheit geboten wurde, sich vollkommen zu reinigen und auch den geringsten Verdacht, der ja nicht auf ihm haften durfte, von sich zu wälzen.«

Der alte Baron sah still und sinnend vor sich nieder, aber die Worte des Sohnes beruhigten ihn wenigstens in sofern, als sie noch die Möglichkeit eines Irrthums oder Mißverständnisses zuließen. Er schaute zu ihm empor, aber sein Blick wurde durch sich bewegende Gestalten abgelenkt. Es war Schaller und Rauten, die quer über die Straße auf sie zukamen.

»Da sind sie!« sagte er leise. »Ich fühle mich in diesem Augenblick noch nicht stark genug, ihnen zu begegnen und gleichgültig oder gar herzlich mit ihnen zu verkehren. Halte sie einen Augenblick auf, Hans, ich will hinauf zu dem Notar gehen und mich erst kurz mit ihm verständigen, mich erst sammeln. Ich sehe, es muß sein, und Du sollst finden, daß ich mich da oben nicht schwach zeige.«

Er drückte dem Sohne die Hand und trat rasch in das Haus, um wenigstens jetzt einem Begegnen mit Rauten auszuweichen.

Hans wäre allerdings am liebsten gleich mit ihm hinaufgegangen, denn es behagte ihm eben so wenig, sich in diesem Augenblick Gewalt anzuthun. Dachte er aber daran, mit wie teuflischer Bosheit sich der Verbrecher in das Haus seiner Familie gedrängt, während die Vermuthung nicht fern lag, daß eben dieser verschwenderische und gewissenlose Schuldenmacher von Schaller sein Helfershelfer gewesen, so schwand auch im Nu jedes Bedenken gegen eine Täuschung, die sonst seiner ehrlichen, offenen Natur vollkommen fremd sein mochte. Ei, zum Henker auch, die Herren sollten ihn wenigstens gewappnet finden!

»Hollo, Hans,« sagte Rauten, indem er über die Straße herüber kam und ihm die Hand bot – »guten Morgen! Hast Du Deinen Vater begleitet?«

»Ja, Rauten. – Guten Morgen, Schaller; ein paar Zeugen müssen wir doch haben, und Herr von Schaller kommt vielleicht einen Augenblick mit hinauf. Lange Zeit brauchen wir ja doch nicht zu der ganzen Verhandlung.«

»Mit Vergnügen, mein lieber Solberg,« sagte der Baron, indem er dem jungen Mann die Hand derb und kräftig schüttelte. »Rauten hatte mich auch eigentlich schon dafür engagirt.«

»Desto besser. Wir haben aber noch einen Moment Zeit, denn Vater ist eben vorausgegangen, um alles so weit in Ordnung zu bringen, daß wir das Ganze rasch erledigen können. – Wie geht es Ihnen, Schaller? Immer der Alte?«

»Immer der Alte, mein lieber Solberg, und kreuzfidel,« lachte der Baron. »Ein paar kleine Enttäuschungen abgerechnet, Zahlungen nicht pünktlich eingegangen und dergleichen; aber der wäre ein Thor, der sich darüber Sorgen machte, ich wahrhaftig nicht!«

»Und Ihre Frau Gemahlin und Fräulein Tochter?«

»Oh,« lachte Schaller, »meine holde Gattin ist immer auf dem Zeug! Eine merkwürdige Frau, die, eigentlich den sonstigen Naturgesetzen entgegen, mit jedem Jahr jünger wird. Denken Sie nur, sie hat es sich in den Kopf gesetzt, daß wir in allernächster Zeit auch wieder eine Gesellschaft geben sollen, damit sie sich vor Schluß der Saison noch einmal ordentlich austanzen kann.«

»Aber dazu wird ihr ja wohl heut Abend Gelegenheit gegeben,« sagte Hans, der die Herren absichtlich noch eine kurze Zeit hier unten zu halten wünschte.

»Den älteren Damen?« sagte Schaller zweifelhaft. »Möchte sich doch nicht so gut machen. Als Frau vom Hause dagegen hat sie sämmtliche Tänzer als Frohnarbeiter zur Verfügung, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß sie oft grausamen Gebrauch davon macht.«

In diesem Augenblick bog Mux, mit einer Dame im Geleit, um die Ecke, stieß aber rasch die Thür auf, als er die Herren hier bemerkte, und ließ die Dame eintreten. Es war eine schlanke, edle Gestalt in einem klein gemusterten, sehr eleganten Kleide, vor dem Gesicht aber einen schwarzen, kurzen Schleier, eben lang genug, um ihre Züge zu verdecken.

Schaller hatte sie gar nicht beachtet und Hans sich ebenfalls halb abgedreht, Rauten sah ihr aber ganz erstaunt nach, und wie sie kaum im Hause verschwunden war, rief er aus: »Hans, hast Du die Dame nicht bemerkt, die da eben eintrat?«

»Eine Dame? Ach ja! Es ist mir so; aber ich habe nicht auf sie geachtet.«

»Das ist merkwürdig,« sagte Rauten, »welche Aehnlichkeit sie mit Fränzchen hatte – und genau dieselbe Kleidung, außerdem das nämliche Tuch, nur im Gang schien sie mir etwas schwerfälliger. Wo mag sie hingegangen sein?«

»Trat sie nicht hier in's Haus?«

»Gewiß!«

»Nun, dann wird sie auch wahrscheinlich hier wohnen, vielleicht im obern Stock; aber was kümmert uns die Dame?«

»Ich hätte sie auch gar nicht beachtet,« erwiderte Rauten, »wenn ich nicht im ersten Augenblick wirklich geglaubt, daß es Fränzchen sei; es ist doch rein merkwürdig, genau derselbe Anzug.«

»Aber, Rauten,« lachte Hans, »glaubst Du etwa, daß Fränzchen ganz besondere Kleider trägt, die nur auf der Fabrik allein für sie gemacht werden?«

»Wenn sie aber jetzt zum Notar gegangen ist,« sagte Schaller, »so stört sie unsere Verhandlung, und überdies sind fremde Zeugen bei etwas Derartigem nicht angenehm.«

»Notar Püster wird jetzt, bis er unsere Geschäfte erledigt hat, wohl schwerlich Jemand annehmen,« sagte Hans; »übrigens glaube ich, daß es Zeit ist, hinauf zu gehen. Es muß schon halb vorbei sein.«

»Es hat eben halb Eins geschlagen.«

»Gut, also en avant, meine Herren! Es wird vielleicht eine etwas trockene Sitzung werden, aber desto rascher können wir sie dann ja auch beenden.«

Ohne weitere Umstände schob er die Thür auf und trat hinein, und Schaller und Rauten folgten ihm, Beide sehr damit zufrieden, daß jetzt das bewußte Geschäft geregelt werden sollte.



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