Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

13.
Die Trauernachricht


Das Wetter hatte um zwei Uhr etwa seinen Höhegrad erreicht, dann ging der Wind mehr und mehr nach Norden herum, und schon vor Sonnenuntergang zeigten sich blaue Stellen am Himmel, die einen immer größeren Umfang annahmen.

Die Engländer sagen: Wenn sich so viel blaues Tuch am Himmel zeigt, daß sich ein holländischer Schiffer ein Paar Hosen daraus zuschneiden kann, so wird es bald heiterer Himmel.

Der Wind fegte allerdings noch durch die Straßen, aber er trocknete dabei auch die Trottoirs. Der Winter hatte wieder einmal verspielt und blies nur noch in vollem Ingrimm seinen kalten Athem auf das schon in jungem Grün prangende Land.

Die Nacht brach an – Mondschein stand nicht im Kalender – und die Straßenlaternen waren angezündet worden. Oben bei Klingenbruchs war die Familie beisammen; der Oberstlieutenant hatte gerade nicht seinen Ausgehetag und saß bei seiner Frau und Tochter – Flora war nämlich allein mit den Eltern, und der Vater hatte Henrietten auch im Anfang gar nicht vermißt, er glaubte vielleicht, daß sie in der Küche wäre. Endlich fiel ihm aber doch ihre Abwesenheit auf.

»Wo ist Hetty, Veronica?«

»Sie ist vorhin einmal zur Tante hinübergegangen, sie hat dort einen von ihren Handschuhen liegen lassen, könnte aber schon längst wieder da sein; sonst hält sie sich doch nie so lange dort auf. Hatte sie denn sonst noch etwas zu besorgen, Flora? Und weshalb bist Du überhaupt nicht mitgegangen?«

Flora war eigentlich ein bischen roth bei der Frage geworden, aber da sie den Kopf gerade über ihre Stickerei bog, ließ sich das nicht genau erkennen, und sie sagte mit ruhiger Stimme, ohne jedoch von der Arbeit aufzusehen: »Aber, Mama, um da drüben etwas abzuholen, braucht doch Hetty meine Begleitung nicht, sie ist ja älter als ich …«

»Da hat Florchen Recht,« lächelte der Oberstlieutenant, »und außerdem sind es ja kaum sechshundert Schritt bis hinüber.«

»Sie wollte auch noch bei der Schneiderin vorgehen,« bemerkte Flora. »Wahrscheinlich ist sie jetzt oben bei ihr.«

Die Mutter beruhigte sich damit, aber Jettchen kam noch immer nicht, und zuletzt wurde sie unruhig. Sie klingelte dem Mädchen, und als dieses den dicken Kopf in die Thür steckte, sagte sie:

»Geh einmal hinauf zur Nähmamsell – wie heißt sie gleich, Hanna?«

»Zur Mamsell Peters?«

»Ja, und sieh zu, ob meine Tochter oben ist.«

»Soll sie 'was?«

»Thu nur, was ich Dir sage: sieh zu, ob meine Tochter oben ist. Nachher kommst Du wieder herunter und sagst mir Antwort.«

»Na, oben werd' ich nicht sitzen bleiben,« murmelte das etwas brummige Mädchen zwischen den Zähnen durch, als sie die Thür wieder schloß, um dem Befehl Folge zu leisten; aber schon nach wenigen Minuten erschien der Kopf wieder.

»Das gnä' Fräule is nich oben« – und damit schloß sich die Thür. Die Sache war erledigt.

»Das begreife ich aber nicht,« sagte die Mutter, ihre jüngste Tochter erstaunt ansehend. »So lange ist die Hetty wahrhaftig nicht bei der Tante geblieben!«

»Tante wird ihr wieder eine Vorlesung halten,« sagte Flora, indem sie sich ihre Wolle aussuchte und die Farben mit einander verglich; »ich bin seelensfroh, daß ich nicht von der Partie sein muß.«

Der Oberstlieutenant sah sie über seine Brille an. »Nun, weißt Du, Kind,« sagte er, »die Tante hat doch in manchen Stücken Recht …«

»Ja, wenn Du nur der Tante Partie nehmen kannst,« sprang aber hier seine Gattin in's Gefecht, »dann ist nachher alles gut. Junges Blut mag aber die ewigen Strafpredigten auch nicht gern mit anhören, und zuletzt läuft doch nur alles darauf hinaus, daß wir unsere Kinder gar nicht zu erziehen wissen und das erst von Deiner Schwester lernen müssen.«

»Aber liebes Herz,« sagte ihr Mann, der sich ohnehin nicht recht behaglich befand und gar nicht daran dachte, seine Gattin zu erzürnen, »ich gestehe ja gern ein, daß ich selber die Kinder ein bischen zu viel verziehe, und wenn dann die Schwester das Versäumte nachholt, ist es kein Unglück; Du weißt ja doch, daß sie es gut mit ihnen meint, und sie hat ihnen davon schon die stärksten Beweise gegeben.«

»Gut mit ihnen meint,« brummte die Frau Oberstlieutenant, welche eine einmal aufgegriffene Waffe nicht gern wieder ungebraucht in die Ecke stellte – »das wissen wir eben noch nicht, denn bis jetzt fehlen die Beweise. Versprochen hat sie ihnen allerdings genug, und wenn sie das einmal hält, will ich Dir eingestehen, daß ich ihr Unrecht gethan. Bis das aber nicht erwiesen ist – und wer weiß, ob es Einer von uns am Tische hier erlebt –, wirst Du mir erlauben, meine eigene Meinung zu behalten und auszusprechen. Ich wenigstens kann es den Kindern manchmal nicht verdenken, daß sie ungeduldig werden. Einem Heiligen könnte das passiren, und wir Frauen sind nun einmal keine Heiligen …«

»Das weiß Gott!« hätte der Oberstlieutenant gern gesagt, aber er hütete sich wohl, die Worte auszusprechen, der Krieg wäre sonst offen erklärt gewesen. Die Mutter lehnte sich wieder in ihren Stuhl zurück – sie hatte die Lampe neben sich stehen – und verfolgte den Roman, in dem sie las; Flora stickte emsig weiter, und der Oberstlieutenant bückte sich wieder über ein ihm zur Begutachtung von seinem Chef anvertrautes Werk über Geschütze, das insofern seine besonderen Schwierigkeiten einer Beurtheilung zeigte, da er seinen Chef selber im Verdacht hatte, es geschrieben zu haben – aber Hetty kam noch immer nicht. – Und wo war Hetty?

Die Apotheke, oder Hofapotheke, wie man jetzt sagen mußte, gehörte mit zu den ältesten Gebäuden der Stadt, und da der Grund und Boden damals noch keinen so enormen Werth hatte als heutzutage, so schlossen alle diese alten Häuser auch in ihrem Hofraum einen Garten ein, der nur dann und wann von den späteren Besitzern wieder parzellirt wurde, um das Capital nicht todt liegen zu lassen. Herr Semmlein hatte es dagegen vorgezogen, seinen Garten zu behalten, da er ihn selber, als großer Blumen- und Pflanzenfreund, benutzte. Auch nur ein kleines Stückchen, jedes mit einer »Laube« darin, war für die erste und zweite Etage an die Abmiether überlassen worden, damit sie ein Plätzchen ihr eigen nannten, wo sie an warmen Sommertagen doch wenigstens ihren Kaffee »im Freien« trinken konnten, insofern man nämlich einen Raum »im Freien« nennen konnte, der, von hohen Mauern und Giebelwänden rings eingeschlossen, weit eher einem »negativen« Schornstein glich. In einem Schornstein geht nämlich der Ruß in die Höhe, hier hinein fiel er dagegen von allen Seiten herunter, und das Plätzchen konnte deshalb auch nur von den glücklichen Besitzern benutzt werden, wenn da oben über den Dächern eine recht frische Brise wehte.

Abends und in dieser Jahreszeit, besonders aber nach dem heutigen Wetter, dachte natürlich Niemand daran, den nassen Garten zu betreten; auf dem Hofe brannte außerdem nicht einmal eine Laterne, und er lag still und dunkel. Nur neben der Hofthür stand der Brunnen mit seinem eisernen Schwengel, und manchmal, mitten aus der Nacht heraus, mit keiner sichtbaren Kraft, die ihn in Bewegung setzte, fing der an zu arbeiten – man hörte das Wasser plätschern, und unheimliche Ruhe herrschte wieder gleich nachher …

Nur nicht in »Oberstlieutenants Laube«, wie der kleine Platz von den Hausbewohnern genannt wurde, denn das dazu gehörende Gärtchen, kaum zehn Schritt in Quadrat, kam natürlich nicht in Betracht – nur nicht da, denn so geheimnißvoll wie der Brunnen zu Zeiten, anscheinend durch Geisterhand bewegt, zu arbeiten anfing, so flüsterte es hier und tauschte süße Liebesworte, ohne daß man aber auch irgend wen hätte erkennen können.

»Henriette, mein süßes, süßes Leben, ich kann Dir gar nicht genug sagen, wie glücklich ich mich fühle, daß ich Dich endlich einmal, von keinem Lauscher bedroht, ungestört in meinem Arme halten und an mein Herz drücken darf – oh, daß uns diese Momente nur so spärlich zugemessen sind!« flüsterte eine männliche Stimme.

»Mein Julius, oh, ich bin so glücklich,« erwiderte, aber eben so vorsichtig gedämpft, eine weibliche Stimme – »nur die Angst tödtet mich, die furchtbare Angst, daß Jemand hier herein käme, daß wir verrathen werden könnten!«

»Aber wer soll jetzt hierher kommen, mein herziges Lieb?« bat der Mann wieder. »Verdirb Dir doch nicht die kurze Zeit unseres Beisammenseins mit solcher ganz unnützen Angst und Sorge!«

Sie hing schweigend in seinem Arm, und seine Küsse brannten auf ihren Lippen.

Es war ein etwas beengter Platz in der niedern Laube; sie mußten aufrecht und mitten darin stehen bleiben, wenn sie nicht überall an die nassen, noch tropfenden Zweige anstoßen wollten. Nicht einmal eine Bank stand in dem Heiligthum, aber was kümmerte das die Liebenden! Nur in dem Bewußtsein, sich gefunden zu haben, hielten sie sich umschlungen, und kein Wunder, daß ihnen die Viertelstunden wie sonst Sekunden entflogen.

Eigentlich war dieses Rendezvous nur einzig und allein unter dem Vorwande verabredet, ja, für unerläßlich nöthig gehalten worden, daß sie sich einen Plan für ihr künftiges Verhalten und die nächsten Schritte formen wollten, ob man den Tod der Tante abwarten und ob Julius gleich am nächsten Morgen bei dem Vater um die Hand der ältesten Tochter anhalten solle: das war wenigstens Henriettens Wunsch gewesen – ein junges Mädchen, das noch keinen Blick in das äußere bürgerliche Leben gethan. Lieutenant von Wöhfen aber wußte das besser, denn ein armer Lieutenant – ein armes Mädchen heirathen? Wovon und mit wessen Hülfe und Erlaubniß? Es war gar nicht denkbar, aber konnte er das auch der Geliebten mit so trockenen Worten sagen? Heut Abend wahrlich nicht, wo er die Lippen zu etwas Besserem gebrauchte, als seinem Liebchen Unterricht in den Kosten eines Haushalts zu geben; dazu fand sich wohl eine passendere Zeit, wo man auch eine Störung nicht so schmerzlich fühlte. Sie sprachen deshalb weder von Erbschaft noch Gage – die letztere war auch zu unbedeutend, um nur ein Wort darüber zu verlieren; nur sich selbst gehörten sie an, und die nasse, triefende Laube wurde ihnen zum Paradies.

Da schlug es von der nahen Thurmuhr die vier ersten Schläge – es war voll. Henriette schrak empor und zählte: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht? Das war nicht möglich!

»Großer Gott,« rief sie, sich aus des Geliebten Arm windend, »es ist ja nicht denkbar – es kann doch noch nicht acht Uhr sein!«

»Mir ist es,« sagte der Lieutenant, »als ob wir kaum fünf Minuten hier gestanden hätten; es war sieben Uhr vorbei, als ich herein kam.«

»Oh, mein Gott, was wird die Mutter sagen!« rief Henriette. »Leb' wohl, Julius, ich kann nicht länger bleiben!«

»Oh, daß die Zeit so rasch, so furchtbar rasch verfliegt!« klagte der junge Sohn des Mars. »Leb' wohl, Geliebte – aber wann treffen wir uns hier wieder?«

Er hatte sie wieder umfaßt, und es dauerte eine geraume Zeit, bis sie den Mund zum Antworten frei bekam.

»Ach, ich fürchte mich so, Julius, wenn wir entdeckt würden!«

»Sei ohne Sorge,« beruhigte sie der darin weit tapfere Soldat, »mich soll Niemand sehen, und Du findest ja so leicht einen Vorwand, hier herunter zu schlüpfen.«

»Gute Nacht, Julius!« flüsterte Henriette, schmiegte sich noch einmal an ihn und riß sich dann los.

»Ich erwarte Dich morgen Abend, theures Herz,« flüsterte ihr der Geliebte zu, »und wenn ich auch Stunden lang Deiner harren müßte!« Und fort von ihm huschte das junge Mädchen wie ein Pfeil vom Bogen, floh den schmalen Gang entlang, der an den Gärten hinführte, erreichte glücklich die Hausflur und die Treppe, ohne irgend Jemandem zu begegnen, und zog gleich darauf, freilich etwas athemlos, an ihrer Klingel.

»Aber nun bitte ich Dich um Gottes willen, Hetty,« rief ihr die Frau Oberstlieutenant schon entgegen, als sie die Schwelle noch nicht überschritten hatte, »wo treibst Du Dich bis spät in die Nacht allein herum? Wo in aller Welt bist Du nur so lange gewesen?«

»Bei der Tante, Mama,« sagte Hetty mit dem unbefangensten Gesicht der Welt; »wo soll ich denn sonst gewesen sein?«

»Und so lange, und sonst machst Du immer, daß Du nur so rasch als möglich wieder fort kommst! Und allein den Weg gegangen in der Dunkelheit!«

»Aber, beste Mama, hier in der lebhaften Straße, und den kurzen Weg! Und bei der Näherin war ich auch noch oben, ehe ich hereinkam, und habe mich da eine Zeit lang aufgehalten.«

»Und was sagte die Tante, Kind?« fragte der Oberstlieutenant, dem die harten Worte schon leid thaten.

»Ach, nichts Besonderes, Papa,« erwiderte Henriette; »nur merkwürdig still war sie heut Abend. Ich mußte ihr von dem Balle bei Schallers erzählen, und wer alles dagewesen, und was sie angehabt, und was wir gegessen hätten.«

»Das sieht ihr ähnlich,« sagte die Frau Oberstlieutenant.

Aber sie zankte nicht darüber, Mama; sie nahm es ganz still hin und schüttelte nur manchmal mit dem Kopf.«

»Und weshalb sollte sie zanken, Kind?« sagte der Vater. »Glaubt Ihr etwa nicht, daß sie Euch ein Vergnügen gönnt? Laßt mir die Tante zufrieden, das ist eine gute, brave Frau, und wo sie Euch eine Freude machen kann, thut sie es gewiß.«

Die beiden jungen Mädchen warfen sich gleichzeitig einen Blick zu; sie dachten an die Tücher, die sie neulich von der Tante geschenkt bekommen hatten, und Henriette war auch deshalb, wie sie ihrer Mutter gesagt hatte, nur in der Dämmerung zu ihr gegangen, weil sie ihren neuen Hut dann doch nicht aufsetzen durfte. Aber sie sagten nichts, sie mochten dem Vater nicht weh thun, und da auch jetzt die Zeit zum Abendbrod heranrückte, nahm das Gespräch bald eine andere Richtung.

Die kleine Familie saß noch etwa bis halb elf Uhr zusammen; die Frau Oberstlieutenant legte Patience, ihr Gatte saß in der einen Sophaecke und drehte seine Daumen einen um den andern, und Henriette und Flora, die sich Beide eine Arbeit vorgesucht, plauderten zusammen von Dem und Jenem. Endlich wurde es aber doch Zeit, zu Bett zu gehen; der Oberstlieutenant war müde geworden und fing an zu schnarchen. Seine Gattin warf ihm einen entrüsteten Blick zu, genau so, wie sie es jeden Abend that, und schob dann, als die Patience wieder nicht aufgegangen war, unwillig ihre Karten zusammen. Wie sie dabei den Stuhl heftig zur Seite schob, wachte der Oberstlieutenant auf, sah sich verwundert um und sagte:

»Aber ist es nicht Zeit, bald schlafen zu gehen, liebes Kind? Ich fange wirklich an müde zu werden.«

»So?« sagte seine Gattin. »Nun, der Anfang war wenigstens deutlich genug; Du hast geschnarcht wie ein Bär.«

»Ich, Schatz?« fragte der kleine Mann verwundert.

»Vielleicht ist es der Hund auf der Uhr gewesen,« erwiderte seine liebende Gattin; »Du bist einmal unverbesserlich Kommt, Kinder, es ist spät geworden. Gute Nacht!«

Damit nahm sie ein Licht, zündete es an und verließ das Zimmer, um sich ein ihr Schlafgemach zu begeben.

Jettchen hatte, als sie in die Stube trat, ihren Hut auf den Tisch gelegt. Als Flora jetzt mit der Lampe daran vorüber ging, nahm sie ihn auf, betrachtete ihn kopfschüttelnd und sagte dann:

»Aber, Hetty, wie um Gottes willen sieht denn Dein Hur aus; der hat ja gar keine Façon mehr!«

»Mein Hut – wie so?« rief die Schwester, und es war gut, daß sie im Schatten stand. »Der Wind wehte draußen so scharf.«

»Sieh nur, wie der zerdrückt ist!« fuhr Flora fort und warf dabei der Schwester einen forschenden Blick zu. – Es ist nämlich ein altes Sprüchwort: Man sucht Keinen hinter dem Ofen, wenn man nicht selber dahinter gesteckt hat. – »Das kann doch unmöglich der Wind gethan haben!«

»Dann hat sich der Tante häßlicher Pinscher wieder darauf gelegt!« rief Henriette; »neulich machte er es schon einmal so, und ich habe die Tante nie in meinem Leben so herzlich lachen sehen, als damals.«

»So?« sagte Flora boshaft. »Ja, der häßliche Pinscher! Aber gute Nacht, Papa! Gehst Du nicht auch zu Bett?«

»Ja, Kinder,« sagte der Vater, der sich wirklich Mühe geben mußte, ordentlich munter zu werden, »ich denke, es wird Zeit; also schlaft recht wohl!«

Die Familienglieder zogen sich in ihre verschiedenen Gemächer zurück. Das Mädchen wusch in der Küche noch das Geschirr auf und verzehrte sein dürftiges Abendbrod, denn es bekam sein Essen allein, so wie sein halbes Stückchen Butter für die Woche und jeden Abend zwei Stück Zucker für den nächsten Tag zugezählt. Eine Viertelstunde mochte solcher Art vergangen sein, und auf dem Rathhausthurme schlug es eben elf Uhr, als draußen auf der Treppe wieder schwere Schritte gehört wurden, die nicht weiter nach oben stiegen, sondern vor der Etage hielten.

Die jungen Mädchen, die ihr Zimmer gemeinschaftlich hatten, schliefen noch nicht; sie waren beide zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, und Flora hörte jetzt deutlich, wie Jemand draußen an ihrer Glasthür herumtappte und auch an dem Griff probirte. Natürlich war die Thür verschlossen. Konnten das Diebe sein? Aber das ließ sich nicht denken, den erstens war es dazu noch zu früh, und dann würde Jemand, der in verbrecherischer Absicht hier heraufstieg, doch gewiß nicht einen solchen Lärm vollführt haben. Wer es aber auch war, er mußte endlich im Dunkel den Klingelzug gefunden haben: plötzlich that er einen derben Ruck daran, die Glocke schallte durch das ganze Haus, und die beiden Mädchen fuhren erschreckt in ihre Betten empor.

Was war das? Wer hatte Nachts bei ihnen etwas zu thun, und wie war er überhaupt in das Haus gekommen, das der Apothekerlehrling, wie sie recht gut wußten, mit dem Schlage zehn Uhr gewissenhaft zuschloß? In der Etage rührte sich auch noch Niemand. Es konnte ja ein Irrthum gewesen sein; vielleicht wollte Jemand eine Etage höher. Auch darüber sollten sie nicht lange in Zweifel bleiben, denn plötzlich that es an dem Klingelzuge einen zweiten, so furchtbaren Riß, daß es wie Sturmgeläute durch das Haus schallte und der Oberstlieutenant, den seine Frau schon bei dem ersten Ansatze wachgerüttelt hatte, mit beiden Beinen zugleich aus dem Bette sprang.

»Herr Du meine Güte,« sagte er dabei, »wenn Jemand in die Apotheke will, so braucht er doch bei uns nicht erst die Klingel abzureißen!«

»Aber was Du nun wieder sprichst!« sagte seine zärtliche Gattin. »Wie wäre er denn nur überhaupt in's Haus gekommen! Es will Jemand zu uns!«

»Eine telegraphische Depesche?« sagte der Oberstlieutenant zweifelnd, indem er aber doch in seine Beinkleider fuhr, denn er natürlich konnte nur allein mitten in der Nacht einem so unzeitigen Besucher die Thür öffnen. »Ich wüßte aber wahrhaftig nicht, wo die herkommen sollte!«

Er mußte sich aber noch etwas mehr beeilen, denn der nächtliche Bote oder Besucher schien in außerordentlicher Eile. Wieder zog es an der Klingel, daß es nur ein Wunder blieb, wie der Draht hielt, und Herr von Klingenbruch riß jetzt seine Thür auf und rief – er war selber böse geworden – ein ärgerliches: »Nun ja, ich komme, gleich!« hinaus. Darauf murmelte er: »Hexen kann ich ja doch nicht!« und beendete nun seine nothwendigste Toilette in allergrößter Eile, um nur erst zu erfahren, wer da draußen wäre und was man von ihm wolle. Es konnte doch wahrhaftig über Nacht kein Krieg ausgebrochen sein, daß man ihn in drängendster Eile auf das Ministerium citirte – und was war sonst los?

Endlich war er fertig – aber unbewaffnet mochte er auch nicht gehen; denn waren es wirklich Räuber, die diese List gebrauchten, um bei ihm einzudringen, so sollten sie ihn als Officier wenigstens gerüstet finden. Er zog seinen Degen aus der Scheide, nahm die bloße Klinge in die rechte, das Licht in die linke Hand und schritt nun fest und entschieden über den Vorsaal hinüber der betreffenden Thür zu.

»Wer ist da draußen?«

»Ach, ich bin's ja, Herr Oberstlieutenant, machen Sie nur rasch auf!«

»Ja, wer ist der Ich? Es geht auf Mitternacht!«

»Ich, die Resy von der Frau Mäusebrod. Ach, machen Sie doch nur auf, es ist ja ein Unglück geschehen!«

»Die Resy?« sagte der Oberstlieutenant ganz verdutzt – »von meiner Schwester – ein Unglück?« Aber während er das vor sich hin murmelte, schob er doch den Degen unter den linken Arm, um ihn zum Gebrauche gleich bereit zu haben, hing die Kette zurück, schloß auf und öffnete die Thür.

»Ach, Du mein lieber Gott,« rief aber das alte Mädchen, wie es sich nur dem Oberstlieutenant gegenübersah, »erschrecken Sie nicht – unsere gute Frau ist eben gestorben!«

»Gestorben?« sagte der kleine Mann und starrte sie an, als ob er gar nicht verstanden hätte, was sie sagte.

Es war ein wunderliches Bild, der kleine, etwas sehr korpulente Mann, in Unterhosen und nur seinen Uniformfrack übergezogen, das Licht in der linken, den bloßen Degen jetzt wieder in der rechten Hand, und vor ihm die alte Magd, bleich und außer Athem zitternd vor Aufregung. Beide blieben auch wohl eine halbe Minute in der Stellung, bis endlich der Oberstlieutenant wieder Worte fand und mit fast erstickter Stimme rief:

»Was schwatzen Sie da, Resy? Wo kommen Sie überhaupt mitten in der Nacht her? Was ist mit meiner Schwester?«

»Todt ist sie!« stöhnte die Alte. »Ach, Du mein lieber Gott, daß ich das erleben mußte! Und so auf einmal, so ganz aus heiler Hand, wie man ein Licht ausbläst – ach, das Unglück, das Unglück!«

»Aber das ist ja gar nicht möglich!« rief der kleine Mann wirklich entsetzt aus, denn er konnte das eben Gehörte noch gar nicht fassen. »Meine Tochter war ja doch noch erst heut Abend bei ihr!«

»Ja, gegen Abend kam das gnädige Fräulein auf einen Augenblick,« sagte die alte Magd, »ging aber gleich wieder fort, und ob sich die arme Frau darüber geärgert hatte – aber sie war auch den ganzen Nachmittag schon so merkwürdig still gewesen und hatte nicht ein einziges Mal mit mir gezankt; es gefiel mir gleich nicht – aber bald nachher …«

»Wer ist denn da?« sagte in diesem Augenblick die gnädige Frau, die, mit einer großen weißen Nachthaube auf, den Kopf aus der Thür steckte. Sie hatte draußen sprechen hören, und die Neugierde duldete sie natürlich nicht länger in ihrem Bette. »Wer ist denn da, und was ist denn vorgefallen?«

»Die Resy, Veronica,« sagte aber ihr Gatte, noch selber halb starr vor Schreck und Staunen. »Denke Dir nur, die Sibylle ist plötzlich gestorben!«

»Alle guten Geister loben Gott den Herrn!« schrie die Frau und fuhr wie sie war aus der Thür heraus und auf die alte Magd zu. »Die Mäusebrod ist gestorben?«

»Ach, Du mein lieber Gott, das Unglück, das Unglück!« jammerte das arme alte Wesen. »Und so rasch, so schrecklich rasch – wie wenn man eine Hand umdreht oder einen Kaffee kocht!«

»Aber an was – und wie ist das möglich?« sagte der Oberstlieutenant, der sich noch immer nicht von seinem Staunen erholen konnte, denn besondern Schmerz schien auch er nicht darüber zu empfinden. »Aber kommen Sie doch herein, Resy, wir alarmiren ja das ganze Haus!«

Die Frau Oberstlieutenant war fortgeschossen, und zwar zu dem Zimmer ihrer Kinder, um ihnen die wichtige Nachricht mitzutheilen. Dort klopfte sie an, und die beiden jungen Mädchen saßen noch in ihren Betten, unschlüssig, ob sie aufstehen und sich ankleiden oder den Lärm ruhig abwarten sollten. Da hörten sie das Pochen.

»Seid Ihr noch wach, Kinder?«

»Ja, Mama. Was, um Gottes willen, ist vorgefallen?«

»Macht einmal die Thür auf und laßt mich hinein.«

Flora fuhr mit beiden Füßchen zugleich aus dem Bette, so neugierig war sie geworden, schob den Riegel an der Thür zurück und huschte dann wieder unter ihre Decke.

Es war stockfinster im Zimmer, aber die Mutter trug ihr Licht in der Hand, glitt hinein, drückte die Thür hinter sich in's Schloß und flüsterte mit vorgebeugtem Kopfe und Oberkörper:

»Die Tante ist todt!«

»Die Tante?« kreischten beide Mädchen laut auf.

»Bst, nicht so laut, Ihr alarmirt ja das ganze Haus! Die Resy steht draußen – eben ist sie gestorben.«

Damit wollte sie wieder zurückfahren, um den weiteren Bericht zu hören; aber die jungen Damen dachten gar nicht daran, in einem so wichtigen Moment fern von dem Schauplatz zu bleiben.

»Ach, Mama, bitte, zünde unser Licht an!« bat Flora; »es steht neben Dir auf der Commode. Lieber Gott, jetzt können wir ja doch nicht schlafen!«

»Bleibt nur wenigstens liegen,« sagte die Mutter, indem sie aber doch dem Wunsche Folge leistete. »Was wollt Ihr dabei thun?«

Was die jungen Damen dabei thun wollten, darüber waren sie allerdings noch nicht mit sich einig; daß sie aber dabei sein mußten, verstand sich von selbst, und in größter Hast warfen sie sich nur das Nothwendigste über, um selber von der Resy die genauen Details zu erfahren.

»Aber Du warst doch den ganzen Abend bei ihr, Hetty,« sagte Flora noch beim hastigen Ankleiden; »ist sie denn da krank geworden? Du hast doch keine Silbe davon gesagt.«

»Gott bewahre; wie ich fortging, war sie so gesund wie immer und hatte auch den alten grauen Kater auf dem Schooße. Es fällt ihr ja nie ein, Unsereinen bis an die Thür zu begleiten.«

»Wie lange warst Du denn bei ihr?«

»Oh,« meinte Henriette, »ich weiß nicht – es muß weit über eine Stunde gewesen sein.«

»Das ist aber doch merkwürdig; ich habe in meinem Leben nicht geglaubt, daß die überhaupt sterben könnte.«

»Ich auch nicht,« bestätigte die Schwester, der jetzt eine Unmasse der verschiedensten Dinge im Kopfe herumgingen. Aber beide Mädchen drängte es auch, das Nähere selber aus Resy's Munde zu hören, und in unglaublich kurzer Zeit waren sie doch so weit, daß sie sich wenigstens vor dem Vater konnten sehen lassen. Aber der Vater war noch nicht so weit, daß er sich konnte vor ihnen sehen lassen, denn er stand noch immer in Unterhosen und Uniform, das Licht in der Linken, den bloßen Säbel in der Rechten, vor der alten Magd.

Allerdings hatte die alte Resy schon bis dahin die Hauptsache erzählt, aber im Fragen nach den Einzelheiten, da die jungen Damen doch auch etwas erfahren wollten, stellte sich die Sache noch einmal ziemlich klar in folgenden Daten heraus.

Die Resy hatte den ganzen Abend gar nichts Besonderes an der Frau gemerkt, als daß sie auffallend still und ruhig gewesen wäre. Sie aß dann wie gewöhnlich zu Nacht, las noch etwa eine Stunde in der Bibel – auch eben keine aufregende Lectüre – und machte sich dann selber, wie sie es jeden Abend that, auf ihrer Spirituslampe etwas heißes Wasser, um ihr gewöhnliches Glas Grog vor Schlafengehen zu trinken. Sie hatte sich einmal daran gewöhnt und behauptete, daß sie sonst nicht einschlafen könne. Dann ging sie zu Bett und klingelte, wie jeden Abend, damit die Magd hereinkam, um die Spirituslampe heraus zu holen und ihr ein Glas frisches Wasser vor das Bett zu stellen. Gerade wie die Resy das that, sagte die Frau: »Oh, mein Gott!« und streckte sich in ihrem Bette aus.

»Fehlt Ihnen 'was, Frau Mäusebrod?« hatte die Magd gefragt – denn sie durfte sie nie »gnädige Frau« nennen –, aber sie bekam keine Antwort mehr. Sie dachte nun, die Frau wolle schlafen, und ging wieder mit einem »Gute Nacht« hinaus, aber dort wollte ihr der sonderbare Ton nicht aus dem Kopfe, mit dem ihre Frau die letzten Worte herausgestoßen. Es war gar nicht ihre gewöhnliche Sprechweise gewesen und klang so merkwürdig. Anfangs getraute sie sich freilich nicht gleich wieder hinein, aber der Gedanke ließ ihr doch keine Ruhe, daß »die Frau« am Ende krank geworden wäre. Sie nahm ein Licht, öffnete leise die Thür und leuchtete zum Bette hin; die Frau rührte sich nicht. Sie trat näher und horchte, aber sie hörte auch kein Athmen, und nun ergriff sie die Angst. Sie faßte ihren Arm – und hätte vor Schreck fast das Licht fallen lassen – die Frau war todt. In aller Eile that sie jetzt das Vernünftigste, was sie überhaupt thun konnte, schloß zu und lief was sie konnte zum Doctor, denn möglicher Weise war ja doch noch zu helfen. Doctor Potter begleitete sie auch augenblicklich, aber es war nichts mehr bei der Sache zu thun. Wie er meinte, hatte sie vielleicht ein Herzschlag getroffen. Der Doctor schickte übrigens die Resy augenblicklich nach Klingenbruchs hinüber, um den Bruder der Verstorbenen nicht allein in Kenntniß zu setzen, sondern auch herbeizurufen. Er selber blieb so lange bei der Todten. Der Herr Oberstlieutenant sollte sich deshalb nur geschwind anziehen und mitkommen – ach, es wäre ja gar zu schrecklich, die arme Frau da so kalt und starr auf ihrem Bette liegen zu sehen!

Bei dem Worte »anziehen« warf der kleine Oberstlieutenant etwas bestürzt den Blick auf seinen untern Menschen. Die Resy hatte in der That Recht, aber in der Aufregung der Schreckensnachricht hatte er daran nicht gedacht. Seine Schwester todt, und so plötzlich, so unvorbereitet – es war zu entsetzlich! Aber er fühlte auch dabei, daß Doctor Potter sehr vernünftig gehandelt habe, augenblicklich nach ihm zu schicken, und seine Gattin, mit ihren Gedanken aber auf einer ganz andern Spur, folgte ihm rasch in das Schlafzimmer, um ihn selber zur Eile anzutreiben.

»Daß das alte verrückte Frauenzimmer, die Resy, den Doctor auch da drüben allein gelassen hat – konnte sie denn nicht zuschließen? Mach' nur, daß Du hinüberkommst – alle Papiere und Werthsachen liegen jetzt offen da, und der fremde Mensch ist allein im Logis!«

»Aber, bestes Herz,« sagte der kleine Mann, indem er rasch in seine Uniformhosen hineinfuhr und sich dann quälte, die etwas engen Stiefel anzubekommen, »Doctor Potter ist ein Ehrenmann; Du kannst doch nicht glauben, daß er silberne Löffel stiehlt!«

»Man kann keinem Menschen in's Herz sehen,« beharrte die Frau Oberstlieutenant, »und besser ist besser; Du mußt ja doch auch hinüber, das ist Deine Pflicht und Schuldigkeit als Bruder und Vater Deiner Kinder.«

»Aber, liebes, bestes Herz, ich gehe ja auch, aber ich muß mir doch – nur – erst – die – ver–damm–ten Stie–fel an–ziehen! Ich wollte, daß den Schuster der Teufel holte,« setzte er mit feuerrothem Kopfe hinzu, »das ist ja jedesmal eine Thierquälerei! Wo ist denn mein Taschentuch?«

Der kleine Mann brauchte eine ziemliche Zeit, bis er alle seine verschiedenen Sachen zusammensuchte und zum Weggehen gerüstet war, und Henriette und Flora bestürmten indessen draußen auf dem Vorsaal noch die alte Resy mit Fragen nach tausend Kleinigkeiten und Einzelheiten, die sie wissen mußten. Sie ruhten auch in der That nicht eher, bis sie alles heraus hatten, was die Resy selber ihnen sagen konnte, und baten auch dann noch den Vater, daß er ihnen doch ja gleich morgen früh – so früh, als irgend möglich – Nachricht sagen lasse oder am besten zum Frühstück selber herüberkomme.

Der Oberstlieutenant ging; er mußte allerdings noch einmal umkehren, denn er hatte den Hausschlüssel und seine Brille vergessen –, aber endlich kamen sie hinaus, und Mutter und Töchter waren allein.

»Das ist ja doch ein recht trauriger Fall,« sagte die Frau Oberstlieutenant nach einer Weile, während sie aber das Licht zum Schlafengehen schon wieder in der Hand hielt – eine Thräne war in der ganzen Familie über den Tod der Tante noch nicht gefallen –, »ein recht trauriger Fall.«

Flora sah etwas überrascht zur Mutter auf.

»Und so schnell,« setzte Henriette hinzu. »Weißt Du, Mama, wie wir neulich noch davon sprachen, daß die Tante uns Alle überleben könne, so kräftig und gesund sah sie immer aus – und nun auf einmal ist sie ausgegangen wie ein Licht! Es ist doch schrecklich, wie rasch man eigentlich sterben kann.«

»Na, Gott habe sie selig,« sagte die Mutter mit einem Seufzer; »gegen mich hat sie sich eigentlich nie besonders freundlich gezeigt, aber ich vergebe es ihr aus vollem Herzen, ich trage ihr keinen Groll nach – und das soll man auch nicht über das Grab hinaus, das wäre unchristlich. Und nun gute Nacht, Kinder, legt Euch nur gleich wieder schlafen – und was ich noch sagen wollte, Hetty, morgen früh müßt Ihr gleich ausgehen, um Eure Trauerkleider herzurichten, und vergeßt dann auch nicht, etwas schwarz berändertes Papier, ebensolche Couverts und schwarzen Siegellack mitzubringen.«

»Nein, Mama, gewiß nicht,« sagte Flora; »aber weißt Du, Mama, dann kaufen wir uns auch gleich zwei von den kleinen Hüten, die nach hinten ein wenig aufgebogen sind – die finde ich zu reizend …«

»Nun, Kinder,« sagte die Mutter, »das könnt Ihr ja machen, wie Ihr wollt, aber jetzt geht zu Bett, es wird spät. Morgen besprechen wir das alles miteinander, und vielleicht gehe ich mit Euch und helfe Euch einkaufen …«

»Gute Nacht, Mama, schlaf recht wohl!«

»Gute Nacht, Kinder, – ist auch die Vorsaalthür zugeschlossen?«

»Ja, alles fest.«

»War denn die Hanna nicht auf?«

»Ach, die riegelt sich ja immer gleich fest ein, wenn sie in der Nacht draußen etwas hört!«

»Eine recht hübsche Eigenschaft,« nickte die Mutter, »auf die kann man sich verlassen« – und ging dann wieder in ihr Schlafzimmer, während die jungen Damen ihr eigenes Gemach suchten, aber wahrlich noch nicht an Schlafen dachten. Wie hätten sie auch jetzt, in all' der Aufregung, mit all' den neuen Plänen, die ihre Herzen erfüllten, nur einschlafen können!

»Du, Hetty,« sagte Flora, wie sie kaum das Licht ausgelöscht hatten – und ihre beiden Betten standen sich in dem engen Kämmerchen gerade gegenüber –, »weißt Du, so einen schwarzen Kohlenschmuck müssen wir jetzt haben, man muß doch etwas an Schmuck tragen!«

»Wir haben ja schon die schwarzen Korallen,« sagte Jettchen, »die sehen noch ganz gut aus.«

»Oh, die sind mir schon zur Last,« meinte die jüngere Schwester, »und keiner von unseren Ohrringen oder Armbändern passen auch dazu! Wenn es nur erst morgen wäre – ich freue mich auf das Einkaufen!«

»Was nehmen wir denn am besten?« fragte Henriette nach einer kleinen Pause, in der Beide eifrig nachgedacht. »Schwarze Straußfedern doch wahrscheinlich auf die Hüte – schwarze Blumen gefallen mir gar nicht.«

»Ach, ich weiß nicht!« meinte Flora. »Louise von Hebern trug neulich doch auch Trauer, und die hatte wirklich prachtvolle Blumen von Sammet und kleinen schwarzen Perlen und Schmelz auf ihrem Hute – es sah zu reizend aus!«

»Man hat jetzt auch schwarz gefärbte Reiherfedern, die sich recht gut machen. Nun, wir lassen uns von allem einmal etwas nach Hause schicken und sehen dann, was uns am besten gefällt.«

»Der arme Papa muß jetzt die ganze Nacht bei der Leiche sitzen,« sagte Flora nach einer Weile – »huh, mich graust's, wenn ich nur daran denke!«

»Der Doctor Potter ist ja bei ihm, der leistet ihm gewiß Gesellschaft.«

»Und wann erfahren wir nun, wie es mit dem Testament steht?« fragte Flora. »Eigentlich sollte Einem das doch gleich gesagt werden.«

»Ach, das werden wir vielleicht schon morgen früh hören!« meinte die Schwester. »Papa ist ja drüben und sieht das gewiß gleich nach – Flora, ich bin so neugierig …«

»Aber wenn sie nun gar kein Testament gemacht hat?«

»Oh, gewiß – erzählte es nicht der Vater? Aber das wäre einerlei, wir sind ja doch die nächsten Verwandten.«

»Wenn nun aber die »Mäusebrods« kämen?«

»Ach was,« sagte Henriette, »der alte Mäusebrod ist schon lange todt! Das Geld gehörte von Gott und Rechts wegen unserer Tante, und dann müssen sie es also auch an uns auszahlen.«

»Aber jetzt wollen wir schlafen, Hetty.«

»Ja, schlafen,« sagte die Schwester, »mir gehen so viele Gedanken im Kopfe herum …«

»Und mir wohl nicht? Aber versuchen können wir's immer – gute Nacht, Hetty!«

»Gute Nacht, Florchen! Wenn Du morgen früher aufwachen solltest als ich, so weck' mich nur gleich!«

»Ja – aber Du mich auch!«

In dem kleinen Gemache herrschte eine Weile tiefe Stille. Die alte Rathhaus-Uhr hob wieder aus – es war schon zwei Uhr Morgens. Nichts rührte sich weiter. Plötzlich flüsterte Flora's Stimme:

»Hetty, Hetty, schläfst Du schon?«

»Nein, gewiß nicht – was willst Du?«

»Hetty,«. flüsterte das junge Mädchen, »ich bin so vergnügt, daß ich aus dem Bette springen und tanzen möchte!«

»Aber, Flora,« sagte Henriette.

Flora hüllte sich kichernd in ihre Bettdecke ein, und von nun ab wurde kein Wort weiter zwischen Beiden gewechselt.



 << zurück weiter >>