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29.
Vorbereitungen


Als Hans an dem Abend nach Hause kam, war die Familie noch im kleinen Salon versammelt; er ließ aber durch den Diener hineinsagen, er habe heftige Kopfschmerzen und wolle früh zu Bett gehen, und zog sich dann auch gleich auf sein Zimmer zurück. Er befand sich wahrlich nicht in der Stimmung, heute noch in den fröhlichen Kreis zu treten, der lachend und scherzend an einem Abgrund stand und erst durch seine Hand davon zurückgerissen werden sollte.

Rauten allerdings fühlte sich – er wußte selber kaum weshalb – unbehaglich durch diese Zurückhaltung seines künftigen Schwagers. Was hatte er nur? Eine Veränderung war jedenfalls mit ihm vorgegangen, und zwar seit Dürrbeck's Tode. Es war auch keine Natur, die sich leicht verstellen konnte. Früher zeigte er sich entschieden leichtherzig und heiter und hatte mit ihm selber auf das Herzlichste und Offenste verkehrt; jetzt dagegen hielt er sich still und zurück, schien oft zerstreut und mit seinen Gedanken abwesend, und hatte seinen früheren sorglosen Charakter jedenfalls vollständig verloren. War wirklich nur Dürrbeck's Tod daran schuld – aber es konnte kaum etwas Anderes sein, – oder ahnte er vielleicht, was jenen zum Selbstmord gezwungen? Bah, und was dann? Was gegen ihn fehlte, waren Beweise – wer wollte die liefern? Und jetzt in wenigen Tagen, ja in Stunden, die er schon auszählen konnte, hatte er sein Ziel erreicht, und dann … – ein verächtliches Lächeln kräuselte seine Lippen, als ihm solche Gedanken durch den Sinn schwirrten.

Hans ging nicht gleich schlafen. Wohl noch eine Stunde lang wanderte er in seinem Zimmer auf und ab, oder saß mit untergeschlagenen Armen, seine Havannah dabei rauchend, und schaute still und nachdenkend vor sich nieder. Und was nicht alles zog durch seine Gedanken herüber und hinüber: in ein wie unruhiges, ja fast abenteuerliches Leben war er hier eingetaucht, wo er sich, wenn er früher an die Heimath dachte, nur die geordnetsten Verhältnisse darunter vorstellen konnte! Und wie sah das hier aus, selbst nur in den wenigen Familien, die er da kennen gelernt – ging es denn schlimmer in irgend einer der südamerikanischen Republiken zu? Dort wurde alles natürlich, offen getrieben, während man es hier mit einem gesellschaftlichen Firniß überstrich, der »guter Ton« hieß und nach außen alles glänzend und spiegelglatt erscheinen ließ; im Innern aber war es faul und wurmstichig wie ein bankerottes Detailgeschäft, das seinen ganzen Waarenvorrath noch vorn in dem einzigen Schaufenster liegen hat.

Aber was half das Grübeln! Jetzt hatte er keine Zeit dazu, denn er mußte handeln, um wenigstens dem einen Verbrecher die Maske abzuziehen. Ob dann noch andere Schäden damit zum Vorschein kamen, mußte die Zeit lehren.

Am nächsten Morgen war Hans fast mit den Lerchen auf, denn eine merkwürdige Unruhe hatte ihn erfaßt und duldete ihn nicht länger im Bette.

Das Wetter hatte sich wieder aufgehellt und der Wind über Nacht den Himmel vollkommen rein gefegt, wie auch den Boden abgetrocknet.

Hans machte sich jeden Morgen selber seinen Kaffee, denn an das so späte Frühstücken war er nicht gewöhnt; dann aber ließ ihn seine Ungeduld nicht länger ruhen. Bald nach halb Sechs schon verließ er das Haus und suchte die Wohnung des Notars auf, um dort die am heutigen Morgen auszugebenden Absagebriefe zu unterschreiben. Mux bekam aber noch ganz besondern Auftrag, sie nicht früher abzuschicken, als bis er bestimmte Ordre dazu erhielt, denn Rauten mußte natürlich Verdacht schöpfen, sobald er vorzeitig Kunde davon bekam.

Das erledigt, schritt er nach Dürrbeck's Wohnung hinüber, um den Freund zu Grabe zu geleiten, und das ganze Officiercorps fast ohne Ausnahme hatte sich dazu versammelt. Auch mit militärischen Ehren wurde er hinausgeleitet, und einer seiner Kameraden wie Hans sprachen tief erschüttert an seinem Grabe. Die Geistlichkeit fehlte allerdings ganz.

Als Hans von dieser Feier bewegt nach Hause zurückkehrte, schien das Frühstück schon vorüber, und die verschiedenen Familienglieder hatten sich wieder auf ihre Zimmer zurückgezogen. Jetzt war aber auch der Zeitpunkt gekommen, wo Hans mit seinem Vater sprechen mußte, und es drängte ihn nur, vorher noch Fränzchen, sein armes Fränzchen, aufzusuchen. Er ließ sie bitten, zu ihm in den Garten herunter zu kommen und einen kurzen Spaziergang mit ihm zu machen – und er brauchte nicht lange auf sie zu warten.

»Sieh, Hans, das ist lieb von Dir,« sagte Franziska, als sie auch schon wenige Minuten später zu ihrem Bruder herunterkam; »morgen wird keine Zeit mehr sein, aber heute können wir doch noch wenigstens zum letzten Mal einen Spaziergang mitsammen machen – zum letzten Mal, Hans – wie sonderbar und unheimlich das klingt, und ich kann Dir versichern, denk' ich jetzt manchmal dran, überläuft's mich ordentlich wie mit einer Gänsehaut.«

»Wir haben manchmal die Ahnung eines drohenden Unheils, Fränzchen,« sagte Hans, indem er, die Schwester am Arme, in den Garten hinabschritt, »und wir sollten ein solches Gefühl nicht absichtlich betäuben.«

»Was meinst Du damit, Hans?« rief Franziska wirklich erschreckt. »Wieder ist das eine jener dunklen Andeutungen, wie Du sie schon einmal gethan – willst Du mich ängstigen, Hans?«

»Aengstigen? Nein, gewiß nicht, Herz. Man soll sich überhaupt nie ängstigen, sondern dem, was uns das Schicksal bringt, ruhig und fest entgegentreten. Aber erlaube mir eine Frage, mein liebes Schwesterchen – und wir haben uns eigentlich darüber noch nie gesprochen –, sage mir also: hast Du Leopold wirklich so recht von Herzen lieb?«

»Das ist eine sonderbare Frage, Hans,« sagte Franziska lächelnd; »morgen werde ich ihm als sein Weib angetraut, und heute fragst Du mich, ob ich ihn lieb habe.«

»Mißverstehe mich nicht, mein Schatz,« sagte Hans freundlich; »es werden viele Ehen geschlossen im Leben, wo sich die Leute wohl lieben, aber nicht lieb haben.«

»Den Unterschied verstehe ich nicht,« sagte das junge Mädchen ernsthaft.

»Und doch ist er so gewaltig,« sagte Hans, vor sich hin mit dem Kopfe nickend. »Was man jetzt gewöhnlich unter Liebe versteht, ist selten mehr als ein flüchtiger Rausch, eine plötzliche Neigung vielleicht, ein Gefallen, das wir an einem andern Wesen empfinden, das aber eben so gut auch wieder und eben so plötzlich weichen kann. Wenn ich aber Jemand wirklich lieb habe, dann ist das auch ein Gefühl, welches im Herzen Wurzel schlägt und sich durch Stürme und Leid nur fester in seinen Boden hineinklammert, und deshalb frage ich Dich, Fränzchen: hast Du Deinen Bräutigam wirklich recht von Herzen lieb, oder hat seine, wie ich nicht leugnen will, elegante, vielleicht selbst glänzende Erscheinung Dich so weit gewonnen, um ihm Deine ganze Zukunft anzuvertrauen?«

»Rauten ist so gut und so freundlich.«

»Du weichst meiner directen Frage aus, Fränzchen.«

»Nein, das thue ich gewiß nicht,« rief das junge Mädchen, »und ich – ich glaube bestimmt, daß ich ihn wirklich lieb habe, wenn Du denn doch einmal gerade auf dem Worte so besonders bestehst!«

»Du glaubst es, Fränzchen?« sagte Hans und sah ihr in das zu ihm aufgehobene blaue Auge. »Und wenn Du jetzt nun zum Beispiel hörtest – Du brauchst mich nicht so erschreckt anzusehen, ich rede nur eines Vergleiches halber in einer Art von Bildersprache –, also angenommen, verstehe mich wohl, Du hörtest, daß der Mann Deiner Wahl – oder hörtest es nicht allein, sondern bekämst die bestimmten Beweise dafür, daß der Mann Deiner Wahl ein schlechtes, Deiner unwerthes Subject sei – würdest Du Dich wieder von dem Gedanken losreißen können, ihm ganz und für immer anzugehören?

»Hans,« rief Franziska, machte ihren Arm von dem seinen los und sah ihn bleich und erschreckt an, »bist Du im Ernst?«

»Aber, Schatz, ich frage Dich ja nur beispielshalber. Wenn wir ein Rechenexempel ausgeführt haben, machen wir die Probe darauf, um zu sehen, ob auch alles stimmt, und so sollten wir auch die Probe auf unsere Gefühle machen, um eben derselben ganz sicher zu sein.«

»Du bist ein grundböser Mensch, Hans,« sagte Fränzchen, »sieh, wie Du mich erschreckt hast! An etwas Derartiges habe ich ja doch gar noch nicht gedacht und denken können.«

»Aber eben deshalb frage ich Dich, Herz. Wir sind uns unser selbst nie klar bewußt, weil wir eben nicht die Probe darauf machen.«

»Du hast etwas Besonderes bei der Frage,« drängte Franziska, »gestehe es mir, Hans, oder Du machst mich unglücklich.«

»Glücklich will ich Dich wissen, Herz, recht glücklich,« rief Hans bewegt, »und jedes Unheil von Dir abwenden mit treuer Bruderhand; aber ich weiß auch jetzt genug, laß es sein. Nicht den schönen Morgen wollte ich Dir verderben. Aber eine Bitte hätte ich noch, Fränzchen.«

»Eine Bitte, Hans – welche? Wenn ich sie erfüllen kann, weißt Du gewiß, wie gern es geschieht.«

»Ich weiß es und sie ist eben nicht groß,« sagte ihr Bruder. »Gestern, als ich mit mehreren Bekannten zusammen war, wurde für eine junge Frau gesammelt, die von ihrem Manne auf das Nichtswürdigste verlassen und betrogen ist, so daß sie jetzt im größten Elend schmachtet. Zufällig sah ich sie; sie ging vollkommen abgerissen und verkümmert, und war doch bessere Tage gewohnt. Da fiel es mir auf, daß sie genau Deine Gestalt hat; ich bin fest überzeugt, Deine Kleider würden ihr eben so gut passen, als ob ihr das Maß dazu genommen wäre, und ich wollte Dich nun fragen, Schatz, ob Du vielleicht noch ein anständig aussehendes Kleid und etwas Wäsche hättest um ihr nur für den Augenblick und mit dem Nothwendigsten auszuhelfen. Sei versichert, Fränzchen, daß Du ein gutes Werk damit thust.«

»Dafür,« rief Franziska, vielleicht froh, das vorige Gespräch abgebrochen zu sehen, »hättest Du allerdings zu keiner günstigeren Zeit kommen können, als gerade heute Morgen, Hans. In meiner Stube habe ich einen ganzen Pack Sachen, die ich meinem Kammermädchen geben wollte, damit die sie wieder an arme Leute verschenken könne, denn Lucie selber ist viel zu eigen, um solche Sachen zu tragen. Du kannst alles bekommen.«

»Besten Dank, mein Herz!« rief Hans. »Aber mißbrauchen will ich Deine Güte auch nicht, und in der That brauch' ich nicht mehr, als eben nur einen einzigen Anzug, aber von Kopf bis zu Füßen.«

»Und willst Du es selber aussuchen?«

»Aber Fränzchen, ich verstehe ja nichts von Damentoilette,« lachte Hans. »Lege Du ihr alles zusammen, was sie nothwendig haben muß, besonders ein noch etwas anständiges Kleid.«

»Ei, Hans,« lachte Fränzchen, »was ich ablege, könnte ich selber noch tragen, und ich hoffe doch, daß das anständig ist.«

»Sehr schön, mein Herz, desto bester also, und schlage es mir nur in ein altes Tuch ein, daß ich es fortschicken kann.«

»Vor Tisch noch, wie?«

»Wenn Du mir eine Liebe thun willst, besorgst Du es gleich. Je eher die arme Frau die Sachen bekommt, desto besser.«

»Aber dann ist unser Spaziergang schon abgebrochen.«

»Ich habe noch heute Morgen selber viel in der Stadt zu besorgen und darf das nicht hinauszögern. Machst Du es also gleich zurecht, kann ich es auch selber mit besorgen.«

»Wenn Du es wünschest, gewiß. So laß uns denn zurück zum Hause gehen, und Du wirst einmal sehen, was ich Dir für eine Garderobe zusammenstelle.«

Fränzchen hielt Wort. Sie hatte in der That eine Menge von Garderobestücken, die nicht mehr ganz gut waren, das heißt, welche die etwas sehr verwöhnte junge Dame für nicht mehr ganz gut hielt, ausgesucht und zusammengepackt. Hans schickte dann augenblicklich nach einem Packträger und sandte das Packet zu Notar Püster, indem er dort sagen ließ, Mux möge dasselbe zu der Dame von gestern Abend befördern. Aber er traute der Bestellung selbst dann noch nicht recht, sondern ging selber, um danach zu sehen, und kehrte erst, als er alles gut ausgeführt wußte, nach Hause zurück, denn jetzt war der letzte Moment gekommen, in dem er mit seinem Vater sprechen mußte.

Es war indessen in der That zehn Uhr geworden und seine Mutter und Fränzchen schon wieder bei voller Arbeit, um die zahllosen Kleinigkeiten für heut Abend noch »anzuordnen«, denn daß sie nicht selber mit Hand anlegten, verstand sich von selbst.

Der Vater war oben in seinem Zimmer, und dort hinauf stieg jetzt auch Hans mit klopfendem Herzen. Er zögerte sogar einen Moment, ehe er anklopfte; aber was konnte das nützen? Es preßte ihm nur die unumgängliche nöthige Zeit noch mehr zusammen.

»Papa,« sagte Hans, als er zu seinem Vater in's Zimmer trat, »könnte ich wohl einmal für wenige Minuten etwas mit Dir besprechen?«

Der alte Herr saß behaglich in seinem Lehnstuhl ausgestreckt. »Gern, Hans,« sagte er, »gern; komm, setz' Dich da zu mir, mein Sohn, und nun erzähle mir, was Du hast. Du machst ja ein gar so ernsthaftes Gesicht,« setzte er lächelnd hinzu – »brauchst Du etwa Geld?«

»Nein, Papa,« erwiderte Hans, dem es auf einmal war, als ob ihm Jemand mit der einen Hand die Kehle zuschnürte und mit der andern das Herz festhielt und zusammenpreßte. Er konnte keinen Athem bekommen und schritt unruhig in dem mit weichen Teppichen belegten Gemache auf und ab. »Ich brauche für mich nichts; die Sache betrifft auch eigentlich nicht mich, sondern – sondern Dich selber und Fränzchen.«

»Fränzchen?« sagte der alte Herr, indem er sich mit beiden Händen auf die Lehne seines Stuhles stützte und den Sohn erstaunt, ja fast erschreckt ansah. Es lag etwas gar so Besonderes, so Geheimnißvolles in seinem ganzen Wesen. »Wie soll ich das verstehen? Ist etwas vorgefallen?«

»Ja, Vater,« sagte Hans mit leiser, fast heiserer Stimme, indem er jetzt vor ihm stehen blieb und ihm ruhig, aber fest in's Auge sah, »es ist etwas vorgefallen, und ich bitte Dich dringend, ertrage das, was ich Dir jetzt sagen werde, wie ein Mann, denn noch ist das größte Unglück von uns abgewandt.«

»Hans,« rief der Baron mit weitgeöffneten Augen und starrte ihn dabei entsetzt an, »was hast Du? Was ist geschehen? Ich begreife nicht, was Du willst, – spanne mich nicht länger auf die Folter!«

»Nein, Vater,« flüsterte Hans, »denn je eher es jetzt gesagt wird, desto besser; also höre: Graf Rauten, der uns hier unter betrügerischen Vorspiegelungen heimgesucht – denn er heißt ganz anders und hat gar keine Güter in Galizien –, ist ein solcher Schurke, daß die deutsche Sprache keinen Ausdruck mehr für ihn findet!«

»Hans!« rief Baron von Solberg, in einem wahren Todesschreck von seinem Stuhl emporfahrend.

»Laß uns ungestört bleiben,« fuhr aber der junge Mann fort, indem er nach der Thür schritt und den Riegel vorschob. »Du sollst und mußt jetzt alles wissen, und die Ursache nur, daß wir es Dir und Mama und Fränzchen so lange verschwiegen, war die Furcht oder vielmehr die Gewißheit, Ihr würdet Euch nicht beherrschen können und der Verbrecher dann vor der Zeit gewarnt werden. Uebrigens hat sich auch alles erst in den allerletzten Tagen so entschieden herausgestellt, denn vor sehr kurzer Zeit wußte ich selber noch nichts, was mich gegen Rauten auch nur einen Verdacht hätte fassen lassen können.«

»Und wer, wer um Gottes willen weiß etwas über ihn? Was ist geschehen, Hans? Du bringst mich zur Verzweiflung, wenn Du jetzt nicht sprichst!«

»So bleibe da ruhig in Deinem Stuhl sitzen, Papa,« sagte Hans. »Ich glaube, ich habe jetzt selber eine ziemlich klare Uebersicht und will Dir mit einfachen Worten das Ganze mittheilen.« – Und nun erzählte er dem Vater, der in athemloser Spannung ihm die Worte von den Lippen zu stehlen schien, alles, was er durch Klingenbruch sowohl als Püster über Rauten gehört, wie das, was er – zum Beispiel den falschen Würfel – selber gesehen und erlebt. Zugleich fügte er hinzu, daß gerade die junge Frau, die Jener in nichtswürdiger Weise bestohlen und verlassen, jetzt in Rhodenburg eingetroffen sei, und legte ihm nun den Plan vor, den er sich mit Püster ausgedacht, um den zehnfachen Verbrecher nicht allein zu fangen, sondern auch zugleich den vollen Beweis seiner Schandtthaten gegen ihn zu haben.

Der alte Herr hatte ihm anfangs mit peinlicher Aufmerksamkeit zugehört und ein paar Mal dazwischen reden wollen, als ob er diese furchtbaren Anschuldigungen widerlegen müsse; endlich aber, als es mehr und mehr überzeugend über ihn hereinbrach, da sank ihm das Haupt auf die Brust, seine Arme hingen schlaff an den Lehnen nieder, und ein Bild der vollen Verzweiflung und Zerknirschung, saß er vor dem Sohne.

Hans hatte geendet und den Vater nur noch gebeten, auf ihren Plan einzugehen, da sie nur dadurch hoffen konnten, ihn zu überraschen und zu einem Schuldbekenntniß zu bringen. Der alte Herr hörte aber kaum, was der junge Mann jetzt zu ihm sprach, seine Augen hafteten stier am Boden, und nur leise, aus tiefster Brust heraus stöhnte er: »Mein Fränzchen, mein armes, armes, unglückliches, verrathenes Fränzchen!«

»Verrathen, ja,« sagte Hans mit finster zusammengezogenen Brauen, »aber kannst Du sie unglücklich nennen, wo wir das Schwerste von ihr abgewandt, ja sie im wahren Sinne des Wortes von diesem Teufel noch gerettet haben? Glaubst Du denn, daß dieser Mensch, der keine bestimmte Heimath auf der Welt zu haben scheint, Fränzchen auf irgend ein Gut geführt hätte? Auf welches? Wo er kein einziges selber besitzt? Nein, mit dem Gelde, das Du ihm zugesichert, und alle Kostbarkelten, wie er es jener mißhandelten Frau in Amerika ebenfalls gemacht, wäre er einfach entflohen, sie in Jammer und Elend, als das Weib eines Verbrechers in irgend einer Wildniß zurücklassend. Davor wenigstens haben wir Fränzchen noch bewahrt, sie bleibt im Vaterhause, ohne jene entsetzliche Zeit zu durchleben, und das danken wir allein dem wackern Notar Püster und seinem kleinen Factotum Mux. Jetzt, Papa, ist aber auch keine Zeit mehr zu verlieren, denn wir müssen handeln.«

»Und heut Abend die Gesellschaft! – Oh mein Gott, wenn die geputzten fröhlichen Menschen in dieses Haus des Jammers treten!«

»Erstlich, Papa,« sagte Hans, »ist es noch kein Haus des Jammers, und dann habe ich dem auch schon vorgebeugt. In der Stunde, in der wir bei Püster zusammenkommen, tragen sechs Dienstleute zu gleicher Zeit, die sich in die verschiedenen Stadtviertel vertheilen, die schon geschriebenen und adressirten Absagebriefe herum. Die Herrschaften mögen sich dann für einen halben Tag den Kopf zerbrechen, was da vorgegangen ist, erfahren werden sie es doch noch zeitig genug; aber wir sind wenigstens sicher, daß sie uns hier nicht zu solcher Zeit belästigen.«

»Und die Mutter – Fränzchen?«

»Beide dürfen um Gottes willen jetzt noch nichts erfahren, denn käme Rauten zufällig noch einmal heute Morgen hierher, so wüßte er im Nu, daß er erkannt ist, und daß er seine Maßregeln danach nähme, darauf darfst Du Dich verlassen.«

»Aber die Frauen bereiten jetzt noch immer alles zu dem heutigen Feste vor.«

»Laß sie,« sagte Hans, »es ist besser, als daß sie jetzt da drüben in Thränen säßen und nur noch mehr von peinlicher Ungewißheit gequält würden. Jetzt, Vater, schreib nur vor allen Dingen an Rauten diese wenigen Zeilen, die ich Dir hier in diesem Zettel aufgesetzt habe. Du bestellst ihn darin auf heute Morgen halb ein Uhr zu Notar Püster, um die besprochene Summe in seine Hände zu legen, da er selber morgen kaum genügend Zeit haben würde, darüber zu verfügen, weiter nichts, und sei dann versichert, daß er kommt.«

»Und ich soll jetzt schreiben, Hans? Siehst Du, wie mir die Hände zittern, wie mir alle Glieder fliegen?«

»Wenn ich schreibe,« sagte Hans nachdenkend, »könnte er Verdacht schöpfen, denn er muß sich ja überall von Gefahren umgeben wissen, und gegen mich ist er, wenn ich mich nicht sehr irre, schon überhaupt mißtrauisch geworden. – Wenn nun Fränzchen den Brief schriebe?«

»Sie würde es nie im Leben thun.«

»Sie darf gar nicht und braucht nicht zu wissen, zu welchem Zweck; aber laß das mich nur machen. Und Du bist damit einverstanden, daß wir um halb ein Uhr bei Notar Püster, im sogenannten Eckfenster zusammenkommen?«

»Und was soll ich dort?«

»Nichts, als Zeuge des Ganzen sein. Alles Andere überlasse getrost mir und dem Notar; aber jetzt habe ich auch keine Minute Zeit mehr zu verlieren, und nur die eine Bitte noch an Dich, Vater; verrathe Dich nicht, weder gegen die Mutter noch Fränzchen, denn denke, daß das Glück Deines Kindes dabei auf dem Spiele steht. Das Beste wird sein, Du riegelst wieder hinter mir zu und läßt keinen Menschen ein, bis ich selber zu Dir zurückkehre, um Dich abzuholen.«

»Ich glaube, Du hast Recht, Hans,« sagte der alte Herr, leise und mit halb gebrochener Stimme; »ich fühle außerdem, daß ich der Ruhe und Einsamkeit bedarf, um das Gräßliche erst noch einmal mit mir selber zu überdenken. Es kam alles so rasch, es brach über mich herein wie ein stürzendes Haus, ohne Zeichen, ohne Warnung, und mir ist jetzt genau so zu Muthe, als ob ich unter den Trümmern desselben begraben läge. Laß mich allein, Hans, laß mich allein, es wird dann nur um so rascher vorübergehen, und Du sollst Dich nicht beklagen dürfen, daß die Schwäche eines alten Mannes das zu Schanden gemacht hätte, was Ihr Euch vorher sorgsam aufgebaut.«

»Jetzt erkenne ich wieder meinen Vater,« sagte Hans herzlich, indem er seine Hand nahm und an seine Lippen hob. »Hab' frohen Muth, Papa; gelingt es uns, den Verbrecher zu entlarven, dann darf auch Fränzchen nicht einmal um ihn weinen, denn sie muß Gott nur danken, daß er sie vor der Verbindung mit diesem Menschen rettete.«

»Und was wird die Stadt, der Hof sagen?«

»Sie werden Dir gratuliren, daß Du einer solchen Gefahr noch rechtzeitig entgangen bist. – Und jetzt an die Arbeit. Nicht wahr, Du riegelst wieder zu? – Schön! Alles Andere überlasse jetzt mir –« und mit leichtem Herzen sprang er hinaus, denn der Moment zum Handeln war gekommen, und so fröhlich war er in dem Augenblick, daß er hätte laut aufjubeln mögen.

Nur erst als er vor Fränzchen's Zimmer kam, nahm er sich zusammen, holte sein Taschentuch heraus, wickelte es sich um den rechten Zeigefinger und betrat dann der Schwester kleines Boudoir, die er emsig beschäftigt fand, ihre Toilette für den heutigen Abend zurecht zu legen.

»Ach, Fränzchen,« sagte er, »hast Du einen Briefbogen bei der Hand?«

»Gewiß, Hans, die Menge; was willst Du? Meine ganze Reisemappe liegt ja hier schon bereit.«

»Willst Du mir einen Gefallen thun?«

»Gern; aber was hast Du mit Deinem Finger gemacht?«

»Ungeschickt war ich, geschnitten hab' ich mich eben, und nun bat mich Papa, ich möchte ein paar Zeilen an Rauten schreiben. Er selber ist gerade eifrig beschäftigt, bestimmte Werthpapiere zu ordnen, und läßt Euch auch bitten, ihn jetzt nicht zu stören.«

»Mit Vergnügen, Hans; aber ich weiß ja gar nicht, was – in des Vaters Namen?«

»Das kommt gar nicht darauf an; Du kannst es auch in dem Deinen thun. Papa will ihm Deine Mitgift schon heute auszahlen, und da die Sache in aller Form Rechtens geschehen muß, so sollst Du ihn nur bitten, punkt halb ein Uhr bei Notar Püster zu sein, wohin Papa ebenfalls kommen wird.«

»Aber wie schreibe ich das?«

»Setze Dich nur hin, Närrchen, ich dictire es Dir; also: »Mein lieber Herr Graf …«

»Aber ich werde doch an Leopold nicht ›mein lieber Herr Graf‹ schreiben sollen?« lachte Franziska.

»Also machen wir es ganz kurz,« nickte Hans – »Lieber Leopold! Vater hat sich entschlossen, Dir meine Mitgift schon heute Morgen auszuzahlen, damit Du noch Deine Verfügung darüber treffen kannst und morgen nicht gezwungen bist, an Geschäft zu denken. Sei punkt halb ein Uhr bei Notar Püster, in der ersten Etage des Eckfensters. Papa und Hans werden Dich um die nämliche Zeit dort treffen. Hochachtungsvoll …«

»Ja wohl, hochachtungsvoll!« lachte Fränzchen. »Laß Du mich jetzt nur machen, den Schluß schreibe ich selber, und sieh mir nicht auf die Hand. Du brauchst gar nicht zu wissen, wie Brautleute an einander schreiben; das magst Du selber versuchen – ich habe es ebenfalls lernen müssen.«

Mit flüchtigen Zügen warf sie noch ein paar Zeilen auf das Blatt, faltete es dann zusammen, siegelte und adressirte es und sagte jetzt: »So, hab' ich das so recht gemacht?«

»Du bist ein herziger Schatz,« rief Hans, in diesem Augenblick aber wirklich kaum im Stande, seine Bewegung zu verbergen – »Da hast keine Ahnung, welchen wichtigen Dienst Du Dir selber dabei geleistet!«

»Ich, Hans – mir? Das blieb sich doch mit dem Gelde gleich …«

»Nicht so ganz, wie Du glaubst; doch jetzt will ich den Brief rasch an seine Adresse befördern, damit er Rauten noch zu Hause trifft, denn sonst verfehlen wir uns am Ende in der Stadt.«

»Nein,« sagte Franziska; »er hat mir bestimmt erklärt, daß er bis gegen zwölf Uhr zu Hause bleiben würde, wenn ich ihm vielleicht noch etwas zu sagen hätte – also er erwartet den Brief.«

»Desto besser; und nun, mein Schatz, auf Wiedersehen!« – Damit nahm er sie in die Arme, was er sonst nur selten that, und drückte einen herzlichen Kuß auf die ihm gebotenen rosigen Lippen.

»Du bist ja heute so zärtlich, Hans!« lächelte Fränzchen.

»Ach, weißt Du, Schatz, es gehen mir doch jetzt eine Menge von Dingen durch den Kopf, aber was sich nicht ändern läßt, muß eben ertragen werden« – und ihr noch einmal freundlich zunickend, verließ er rasch ihr Zimmer und versäumte jetzt auch keinen Moment mehr, den Brief durch einen der Diener direct zu befördern.

»Der Brief ist von meiner Schwester,« sagte er dem Manne; »es liegt ihr daran, zu wissen, ob Sie den Herrn Grafen noch zu Hause getroffen haben. Bitte, bringen Sie recht bald Antwort.«

»Zu Befehl, Herr Baron!« – und durch die freundlichen Worte, welche nur selten an die Solberg'sche Dienerschaft verschwendet wurden, angefeuert, lief der Mann mehr als er ging, um den erhaltenen Auftrag auszuführen. Für den jungen Herrn wären überhaupt sämmtliche Dienstboten mit Vergnügen durch's Feuer gesprungen.

Hans verbrachte indessen eine peinliche Viertelstunde in quälender Ungeduld, bis er nämlich erfuhr, ob der Brief wirklich in Rauten's Hände gelangt sei. Es wäre zu fatal gewesen, wenn ihn der Bote nicht mehr zu Hause getroffen hätte. Er ging in seinem Zimmer mit untergeschlagenen Armen rasch auf und ab, und sprang jedesmal nach der Treppe, wenn unten die Thür klinkte. Endlich kehrte der Bote zurück; er hatte den Auftrag in unglaublich kurzer Zeit ausgeführt, und trotzdem erschien es Hans wie eine Ewigkeit.

»Nun, haben Sie ihn gefunden?«

»Ja, Herr Baron; er war gerade im Begriff, auszugehen.«

»Hat er den Brief gelesen?«

»Zu Befehl, Herr Baron; aber er meinte, eine weitere Antwort wäre nicht nöthig, er würde sich einfinden.«

Hans hätte dem Mann gern in aller Freude einen Thaler für seine Bemühungen gegeben, aber er fürchtete vielleicht Verdacht zu erregen, wenn er zu viel Interesse gerade an diesem Briefe zeigte; er mißtraute jetzt allen Menschen. »Es ist gut, ich danke Ihnen,« sagte er deshalb nur und nahm jetzt selber seinen Hut, um vorher noch einmal das Nähere mit Püster zu besprechen.



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