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10.
Kleine Ursachen


Am nächsten Tage waren die gewöhnlichen Gäste wieder bis zur Mittagsstunde in Baumann's Restauration gewesen, auch der Amerikaner mit seinem Schwager. Als diese aber das Local verließen, schloß sich ihnen Hauptmann von Dürrbeck an, und sich zu Mr. Hummel wendend, sagte er:

»Entschuldigen Sie, mein Herr, wenn ich als Fremder eine Frage an Sie richte – mein Name ist Hauptmann von Dürrbeck.«

»Sehr angenehm, Herr Hauptmann,« sagte Herr Hummel, »Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich heiße Philipp Hummel« – und dabei nahm er seine Hand und schüttelte sie kräftig – »und was wollen Sie fragen?«

»Sie waren, wie ich neulich hörte, lange in Amerika?«

»Yes,« erwiderte der Mann, indem er seinen Tabakssaft gegen das nächste Haus spritzte, »habe mich einen guten stretch darin herumgetrieben.«

»Sie kennen das Land genau?«

»Wie meine eigene Tasche.«

»Die Sache ist einfach die«, fuhr der Hauptmann fort, während er mit den beiden Herren die Straße hinabschritt: »ein Verwandter von mir, ein junger Officier, dem die Verhältnisse hier nicht mehr zusagen, möchte seinen Abschied nehmen und nach Amerika auswandern. Wir haben natürlich mit allen Kräften versucht, ihm die Idee auszureden; aber er hat sich einmal auf den Gedanken verbissen und ist nicht mehr davon abzubringen. Wohin rathen Sie ihm da, sich zu wenden, und glauben Sie überhaupt, daß er dort sein Fortkommen finden wird?«

Mr. Hummel hatte indessen sein Primchen fleißig im Munde hin und her gedreht, jetzt spuckte er wieder aus und sagte: » Well; wenn Sie mich um meine Meinung fragen, so calculire ich, daß Sie doch die volle Wahrheit hören wollen.«

»Ich bitte Sie eben darum.«

» Of course, ja, dann seh'n Sie, wenn er da meinem Rath folgen will, so bleibt er lieber hier in Germany und läßt da drüben Amerika in Frieden.«

»Und weshalb, wenn ich fragen darf? Sie müssen mich entschuldigen, aber ich nehme reges Interesse an dem jungen Manne und bin selbst entschieden gegen seine Auswanderung.«

»Und da haben Sie Recht,« sagte Herr Hummel; »junge Officiere, ob sie nun adelig sind oder nicht, passen da nicht hinüber. Sie kommen mit einem heap von fremden Ideen in das Land, Jagd ist ihr hauptsächlichster Gedanke – wenn es nicht anders geht, leben wir von der Jagd, sagen sie, im freien, herrlichen Wald – of course, – und wenn sie nachher in die richtigen swamps hinein gerathen, wo es allein noch was zu schießen giebt, und stecken dann bis an den Hals im Schlamm, dann kriegen sie's Heimweh und schimpfen auf Amerika.«

»Aber mein junger Freund ist kein leidenschaftlicher Jäger.«

»Das ist just the same thing,« sagte der Amerikaner, »eben so schlimm, dann muß er arbeiten, wenn er sich am Leben erhalten will.«

»Dazu ist er allerdings willig.«

» Yes, of course. Alle, so lange sie noch hier sind. Was sich die Herren aber hier unter Arbeit denken, giebt's da drüben nicht. Uebrigens kann er die Probe schon hier an sich machen, ob er wirklich willens ist, dort drüben so zuzugreifen, wie er wirklich zugreifen muß, wenn er nicht hungern will.«

»Schon hier? Aber wie wäre das möglich?«

»Easy enough, er soll sich nur einmal auf einen einzigen Monat bei einem Bauer als richtigen Knecht verdingen – er kann ja in eine Gegend gehen, wo ihn Niemand kennt, und Arbeit schändet nicht.«

»Nein gewiß nicht; aber da stehen uns doch wohl noch unsere alten Vorurtheile im Wege. Dort drüben wird er gewiß arbeiten.«

»Yes,« nickte Mr. Hummel, »das ist die alte Geschichte – all about alike – aufschieben thun's die Herren, so lange sie noch einen Cent in der Tasche haben, und erst wenn ihnen das Feuer auf den Nägeln brennt, dann packen sie zu, fühlen sich aber auch unglücklich dabei und schreiben Briefe voll Herzeleid nach Hause, damit sie wieder Geld geschickt kriegen.«

»Und sollte es nicht doch vielleicht möglich sein, ihm dort eine Anstellung zu verschaffen?«

» No,« sagte Mr. Hummel, entschieden mit dem Kopfe schüttelnd, »giebt's gar nicht. Solche junge gentlemen, die hier nur solche Dinge gelernt haben, die sie dort gar nicht brauchen können, laufen zu Tausenden in der country herum und müssen da erst abgeschliffen werden. Die Fäuste sind's, die herhalten müssen; den Kopf können sie daheim lassen, denn zum Speculiren taugt die Art nicht, und wo sie ihren Finger manchmal in einen solchen pie stecken, finden sie bald aus, daß er zu heiß für sie ist.«

In diesem Augenblick begegneten ihnen einige Officiere und ein Herr in Civil, Graf Rauten. Hauptmann von Dürrbeck war aber so in seine amerikanischen Gedanken vertieft gewesen, daß er die Herren gar nicht bemerkte, bis sie dicht neben ihm waren und ihn grüßten; er dankte hastig und zerstreut, Hummel aber war stehen geblieben und sah ihnen nach.

» I'll be damned, sagte er dabei, indem er mit der rechten Hand in die Linke schlug, »wenn ich den Gentleman nicht schon einmal irgendwo gesehen habe! Ich kann mich nur nicht besinnen, wo, oder es laufen zwei Menschen in der Welt herum, von denen der eine genau so aussieht wie der andere.«

»Welcher?« sagte Hauptmann Dürrbeck zerstreut und wandte sich ebenfalls. Gerade jetzt drehte Graf Rauten den Kopf nach ihnen um, wandte sich aber augenblicklich wieder ab, als er bemerkte, daß ihm die Herren ebenfalls nachschauten.

»Der Eine da, rechts – aber I don't care – hol' ihn der Teufel, aufgeblasener Mensch! So viel wie der bin ich auch und vielleicht noch ein bischen mehr.«

»Sie fürchten also, daß er sich vor der Arbeit scheuen wird?« fragte der Hauptmann, das unterbrochene Gespräch wieder aufnehmend, bei dem er noch mit allen Gedanken war.

»Wer? Der?« sagte Mr. Hummel, mit dem Daumen über die Achsel zurückzeigend. »Die pickaxt, die der schon in seinem ganzen Leben in der Hand gehabt hat, fress' ich mit Stumpf und Stiel.«

»Ich spreche von unserem jungen Auswanderer.«

» Oh, beg your pardon,« sagte Herr Hummel, »ich dachte jetzt an ganz wen Anders – ja, about der Arbeit, das hätte so weit keine Noth, das würde ihm schon gezeigt werden, und wissen Sie, wenn Einer muß, dann greift er auch am Ende zu; aber »leiken« ( to like, gern mögen) wird er's nicht und wenn er deshalb weiß, wo's ihm gut geht, so bleibt er lieber hier. Leute sind immer besser gepließt ( to be pleased, befriedigt sein), wenn sie ihren alten Gewohnheiten folgen können.«

»Also auf eine Anstellung darf er nicht hoffen?«

» Now, well,« sagte Herr Hummel, »so ganz unmöglich wäre das nicht, als Hausknecht, oder Zeitungsträger oder so was könnte er vielleicht ankommen; aber deshalb schumpt ( to jump, springen) doch Keiner in das amerikanische Leben hinein, noch dazu ein Lieutenant. Solch feine Handschuhleute haben sie plenty drüben, an denen fehlt's nicht, denen geht's aber auch jedesmal regulär schlecht und sie passen auch nicht nach Amerika.«

»Im Grunde, lieber Herr,« erwiderte nach einer kleinen Pause Hauptmann Dürrbeck, bestätigen Sie nur meine schon vorhergefaßten Befürchtungen. Ich kenne Amerika nicht selber, aber was ich darüber gehört habe, stimmt ziemlich mit Ihrer Aussage überein. Nehmen Sie meinen freundlichen Dank.«

»Oh shaw! – nonsense,« sagte Herr Hummel, indem er die ihm jetzt gebotene Hand nahm und herzlich schüttelte, »ist sehr gern geschehen, stehe Ihnen immer wieder zu Diensten, wenn Sie mehr fragen wollen.«

»Empfehle mich ergebenst, Herr Hauptmann,« sagte der Rentamts-Kassirer, der bis dahin nur schweigend und bewundernd nebenher gegangen, und da der Hauptmann hier abzog, trennten sich die Herren.


In der nämlichen Zeit, wo der Hauptmann bei dem Deutsch-Amerikaner seine Erkundigungen einzog, schritt aus dem Eckfensterhause der kleine, bucklige Schreiber quer über die Straße hinüber in die Apotheke, hielt sich aber weder unten, noch in der ersten und zweiten Etage auf, sondern stieg gleich unter das Dach, wo die Wohnungen in drei kleine Theile an ärmere Leute parzellirt waren. In dem mittleren und größeren, der die Ecke und einen Theil der Gasse inne hatte, wohnte ein Schuhmacher mit seiner Familie, rechts neben ihm ein alter Hagestolz, ein Lohndiener, und links ein junges, einzelnes Mädchen, eine Schneiderin, die aber mit ihrer Arbeit nicht ausging, sondern nur im Hause nähte. Sie nahm aber deshalb auch Weißnäherei an, und da sie außerordentlich geschickt und rasch arbeitete, hatte sie so reichlich zu thun, daß sie oft bis spät in die Nacht aufsitzen mußte. Leider wurde nun gerade diese Arbeit so schlecht bezahlt, daß sie trotzdem wenig mehr als das Nothwendigste verdiente; aber das arme Kind hatte auch nur sehr wenig Bedürfnisse, und so half sie sich ehrlich und redlich durch's Leben, wie so viele tausend arme Mädchen mehr.

Mux stieg die Treppe hinauf, bog links ab und klopfte gleich darauf an die kleine Thür, die einen schmalen Papierstreifen trug, auf dem nur die Worte standen: »Katharina Peters, Näherin.«

»Herein!« tönte eine klare Stimme, und sein Hütchen in der Hand, betrat der kleine Krüppel den Raum, der Katharina Peters' Heimath bildete.

Es war ein enges niederes Zimmer mit einem einzigen Dachfenster, nach vorn zu sogar noch etwas abgeschrägt, und einem kleinen Kämmerchen daneben, das der Abmietherin zum Schlafgemach diente; aber etwas Saubereres ließ sich nicht denken als der enge Raum. Die Dielen waren so weiß gescheuert, daß man sich ordentlich scheute, den Fuß darauf zu setzen; an dem Fenster hingen nur kurze Gardinen, aber sie sahen aus, als ob sie eben unter dem Plätteisen hervorgekommen wären, und kein Stäubchen lag auf der roh lackirten Commode, auf den ordinären Holzstühlen oder dem schmalen Tische, der in der Mitte der Stube stand und wohl zu allen möglichen Zwecken dienen mußte.

Ueberflüssiges fand sich allerdings nicht hier oben, wenn man nicht eine alte Schwarzwälder Uhr und ein paar am Fenster stehende Blumentöpfe mit Veilchen und Primeln hätte dazu rechnen wollen und am Fenster selber, in einem dunkeln Kattunkleide, die prachtvollen, dicken, kastanienbraunen Zöpfe hinten am Kopfe zusammengelegt, eine saubere, blauleinene Schürze vorgebunden und ein dünnes, weißleinenes Tuch um den Hals gelegt, saß Katharina Peters, eifrig mit ihrer Arbeit beschäftigt, und hob den Kopf, als sie den Besuch erkannte; aber ein freundliches Lächeln glitt über die Züge, und fröhlich rief sie ihm entgegen: »Alles fertig, Herr Mux; kommen Sie nur herein und setzen Sie sich da einen Augenblick auf den Stuhl. Nur drei Knöpfe habe ich noch anzunähen, und die sollen im Handumdrehen fertig sein.«

»Guten Tag, liebes Fräulein!« sagte Mux mit seiner sanften, melodischen Stimme; »ich bin nicht etwa hergekommen, um Sie zu treiben, wir haben aber jetzt gerade Mittag, und ich wollte eigentlich nur sehen, wie Ihre Arbeit fördert.

»Ach, ich bekam gar zu viel Abhaltung,« sagte die kleine Näherin, »sonst wären auch die Knöpfe schon angenäht; aber der Herr Notar soll gewiß nicht warten, wenn ich ihm einmal etwas verspreche. Er ist immer gar so lieb und freundlich gegen mich.«

»Wie sollt' er's nicht,« sagte Mux gutmüthig, »sind Sie es doch auch gegen alle Menschen.«

»Sehen Sie sich einmal da die Hemden an, Herr Mux,« sagte die Näherin, ohne aber von ihrer Arbeit aufzusehen, und die weißen, feinen Finger waren dabei rastlos thätig – »dort auf dem Tische liegen sie; es ist so feine Leinwand, und sie haben sich so gut genäht. Ich denke, der Herr Notar wird schon damit zufrieden sein.«

»Und das alles haben Sie allein mit der einzigen Hand in der kurzen Zeit fertig gebracht?« sagte Mux erstaunt.

»Ach wenn man sich recht dazu hält, kann man ein tüchtiges Stück wegarbeiten; die Finger werden's gewöhnt, und dann fördert's.«

»Und wie viel Stunden haben Sie die Nacht dabei geschlafen?«

»Ich brauche nicht viel Schlaf, Herr Mux. Wenn ich drei bis vier Stunden habe, bin ich wieder frisch für den ganzen Tag.«

»Aber Ihre Augen – wissen Sie, Fräulein, daß die in der letzten Zeit recht häßliche rothe Ränder bekommen haben?«

»Das rührt wohl nur von einer Erkältung her,« sagte das junge Mädchen und versuchte zu lächeln. »Wie wir neulich das so warme Wetter hatten, habe ich mit meinem dünnen Kleid ein paar Stunden am offenen Fenster gesessen; die Vögel draußen zwitscherten so lieb, und ich hatte sie so lange, so ewig lange nicht gehört, und da muß ich mir wohl einen Schnupfen geholt haben.«

Mux seufzte leise vor sich hin, aber er erwiderte kein Wort, und das junge Mädchen schien nun um so viel emsiger an den Knöpfen zu nähen, bis sie den letzten fest hatte und dann mit einem frohem Ausdruck in den Zügen sagte: »So, Herr Mux, das wäre auch gemacht, und bitte, sagen Sie dem Herrn Notar« – sie faltete dabei das Stück kunstgerecht zusammen und legte es zu dem Uebrigen – »aber ich kann sie Ihnen doch nicht mitgeben, ich will sie lieber selber gleich hinüber bringen.«

»Und wenn Sie damit über die Straße gehen können, glauben Sie, daß ich mich deshalb schämen soll?« erwiderte der kleine Mann. »Nein, liebes Fräulein, ich bin ja gerade nur deshalb herüber gekommen, um Ihnen die Treppen abzunehmen, und hier,« fügte er dann hinzu, als er das Geld auf den Tisch legte, »schickt Ihnen der Herr Notar auch gleich den Arbeitslohn, denn er mag nicht gern Schulden haben.

»Der Herr Notar ist so freundlich,« sagte die junge Näherin, »und ich will es auch gern und dankbar annehmen, denn von einigen Kunden ist das Geld manchmal nur zu schwer zu bekommen, und sie bedenken gar nicht, daß Unsereins von der Hand in den Mund leben muß.«

»Bleiben Ihnen denn auch Leute schuldig?« sagte Mux erstaunt.

»Ach gewiß!« seufzte die Näherin; »lieber Gott, reiche Leute können sich oft nicht denken, daß eine solche Kleinigkeit, wie fünfzehn oder zwanzig Groschen in ihren Augen sind, einem Arbeiter einmal recht fehlen dürften, wenn er sie gerade braucht, um nur das Nothwendigste und Unentbehrlichste anzuschaffen, und mahnt man sie dann gar, so werden sie auch noch ärgerlich, daß man sie mit einer solchen Unbedeutendheit belästigt; und doch muß man es ja, denn wer borgt uns

»Ach Gott, ja,« seufzte Mux, »die Leute, die im Ueberflusse schwelgen und keinem Wunsch zu entsagen brauchen, geben sich selten die Mühe, sich in das Leben der Armuth hinein zu denken. Es ist oft nicht böser Wille bei ihnen, nur das Verständniß für eine solche Lage geht ihnen ab – aber Andere müssen darunter leiden.«

Das junge Mädchen hatte indessen auf dem Tische die fertigen Hemden in einen Bogen Papier eingeschlagen und band jetzt eine Schnur darum, als ihr Blick zufällig auf das Geld fiel.

»Aber, Herr Mux,« sagte sie, »der Herr Notar hat sich geirrt, da liegt ein Thaler zu viel, so viel bekomme ich ja gar nicht.«

»Nein, mein Fräulein,« sagte der kleine Mann, »der Herr Notar irrt sich nicht so leicht in Geldsachen. Sie sollten nur wissen, wie genau er darin ist. Aber er hat mir ausdrücklich gesagt, daß Sie für den Preis die Hemden nicht machen könnten, und das noch zugelegt.«

»Aber darf ich das nehmen?«

»Gewiß dürfen Sie, und wenn Sie meinem Rathe folgen wollen, so reden Sie ihn nie darum an oder erwähnen es auch nur; er hat es nicht gern und will nie von so etwas wissen.«

»Er hat mir ja neulich schon zu viel geschickt.«

»Zu viel wohl nicht, nur mehr, als Sie gefordert hatten, und vielleicht noch immer zu wenig.«

»Lieber Gott,« sagte das junge Mädchen, »wenn ich mehr nehmen wollte als andere Arbeiterinnen, so würde ja kein Mensch etwas bei mir bestellen; es sind leider zu viel arme Mädchen, die davon leben müssen, und da drückt Eine die Andere.«

Mux hatte das Packet aufgenommen und warf den Blick im Zimmer umher; es war, als ob er das junge Mädchen noch nach etwas fragen wollte. Er konnte nämlich gar keine Anzeichen von irgend einem Mittagessen entdecken, aber er scheute sich auch, er mochte ihr nicht weh thun, denn die leiseste Andeutung auf die Art ihrer Lebensweise trieb ihr, wie er aus Erfahrung wußte, das Blut in vollen Strömen in's Antlitz.

»Adieu, liebes Fräulein!«

»Leben Sie wohl, Herr Mux, und bitte, sagen Sie dem Herrn Notar, daß ich ihm recht von Herzen danken lasse!«

Der kleine Bucklige nickte ihr freundlich zu und suchte dann die dort oben etwas dunkle Treppe herunter. Als er die erste Etage erreicht, blieb er dort vor der Thür stehen; die dünne Schnur hatte sich etwas verschoben, so daß er fürchtete, das Packet könne aufgehen. Er legte es deshalb auf das gehobene Knie, um es wieder zu befestigen, und stemmte das Knie dabei gegen die Thür, damit er besser die Balance hielte. Das wäre ihm aber beinahe schlecht bekommen, denn ohne daß er da drinnen auch nur einen Schritt oder das geringste Geräusch gehört hätte, wurde die Thür plötzlich und rasch, aber auch völlig geräuschlos geöffnet, und Mux wäre beinahe dem jüngsten Fräulein von Klingenbruch geradezu in die Arme gefallen.

»Jesus!« rief die junge Dame erschreckt, aber gar nicht sehr laut, aus. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

»Gar nichts, mein Fräulein,« erwiderte Mux, wie er nur sein Gleichgewicht wieder gewonnen hatte und immer noch etwas verblüfft; »ich wollte nur hier mein Packet etwas fester binden, als die Thür aufging. Ich konnte nichts dafür.«

»Alberner Mensch!« murmelte Flora vor sich hin, indem sie die Thür wieder schloß, und Mux mußte die letzten Worte gehört haben, deutlich genug waren sie wenigstens gewesen; aber er erwiderte nichts darauf; es war ihm selber nicht recht, daß er sich so ungeschickt benommen. Weshalb lehnte er sich auch gegen die Thür selber und nicht gegen den Pfosten! Er hatte aber die Lust verloren, an dem Packet etwas zu ändern – die junge Dame hätte noch einmal herauskommen können –, faßte es nur etwas fester unter seinen linken Arm und eilte die Treppe hinab.

Noch im Hausflur begegnete Mux ein junger Mann in einer Sammetpekesche, der aber von ihm nicht die geringste Notiz nahm und ohne Weiteres die Treppe hinaufstieg. Mux blieb einen Moment an der Hausthür stehen und sah ihm nach, und ein eigenthümliches Lächeln zuckte dabei um seine feingeschnittenen Lippen. Er nickte aber leise vor sich hin mit dem Kopfe, denn jetzt wurde ihm klar, weshalb die Thür so rasch und leise aufging und das gnädige Fräulein so böse auf ihn geworden. Aber was ging es ihn an! Und über die Straße hinüber glitt er, um dort drüben sein locker gewordenes Packet bald abzuliefern.

Auf der Treppe im Eckhause überholte er den Apotheker Semmlein mit dem alten Tischlermeister Handorf, den er recht gut kannte.

»Der Herr Notar zu Hause?« fragte ihn der Apotheker, als Mux an ihnen vorüber wollte.

»Gewiß, Herr Semmlein,« sagte Mux, »ich will Sie gleich anmelden.« Es dauerte auch nicht lange, so kam er zurück und öffnete die Thür. »Bitte, wollen Sie näher treten!«

Notar Püster ging in seiner Stube auf und ab; er blieb mitten in seinem Spaziergange stehen und sagte, als er den Apotheker erkannte: »Nun, wie geht's, Herr Nachbar?«

»Danke schön, Herr Nachbar, ausgezeichnet,« lachte der kleine Mann, »manchmal besser, als wir's verdienen, hahaha! Wie, alter Schwede?« Und dabei schüttelte er ihm die Hand, ließ sie aber auch nicht wieder los und fuhr nur fort: »Aber ich komme heut in einer andern Angelegenheit, und zwar hier mit dem Tischlermeister Handorf, einem braven rechtschaffenen Bürger von Rhodenburg, der aber meinswegen in seiner Familie Unglück gehabt hat und Sie deshalb um Rath fragen wollte.«

»Recht gern, recht gern, Herr Nachbar,« sagte der alte Notar, indem er aber doch seine Hand wieder frei zu bekommen suchte, denn es war ihm ein unangenehmes Gefühl, daß sie der Apotheker so fest hielt.

»Nun sehen Sie, Herr Nachbar,« fuhr Semmlein aber doch etwas verlegen, fort, »Sie erinnern sich vielleicht noch, was wir neulich für ein Gespräch über den nämlichen Fall hatten, und ich will gern eingestehen, daß ich damals meinswegen ungerecht gewesen bin. Ich habe den jungen Menschen selber kennen gelernt und eine ganz andere Meinung von ihm bekommen; aber – so einfach die ganze Sache auch sein mag, so – so furchtbar verwickelt ist sie außerdem, so daß sich meinswegen kein Deubel durchfinden kann, und wenn ich mir auch selber getraue, Recht von Unrecht zu unterscheiden, so muß ich Ihnen gestehen, Herr Nachbar, daß ich hier meinswegen gar nicht zu helfen weiß.«

»Und wie steht der Fall?« sagte der Notar, der zur Sache zu kommen wünschte. »Können Sie ihn mir vielleicht mit kurzen Worten mittheilen? Denn die Vorrede bringt uns nicht einen Schritt näher.«

»Ja, dann wird es das Beste sein,« sagte Herr Semmlein, »daß Ihnen Meister Handorf den einfachen Thatbestand mittheilt.« »Darum möchte ich allerdings bitten.«

»Herr Notar,« sagte da der Tischlermeister, der aber sehr blaß geworden war und die Worte nur mühsam aus der Kehle brachte, »es ist eine schwierige Sache für einen Mann, der sich sein ganzes Leben ehrlich und rechtschaffen und mit harter Arbeit durchgebracht hat, von der Schande seiner eigenen Familie zu reden; aber ich sehe wohl, daß es nicht anders möglich ist, und ich will auch das noch überwinden. Thun Sie mir den Gefallen und hören Sie mich ruhig an; es soll außerdem nicht lange dauern, und seien Sie überzeugt, daß ich so wahr und aufrichtig zu Ihnen rede, als ob ich vor meinem Gott als letztem Richter stände.«

»Das wird das Ganze außerordentlich vereinfachen,« sagte Püster; »also bitte, kommen Sie ohne Weiteres zur Sache.«

Der Tischlermeister erzählte jetzt, noch immer innerlich erregt, aber doch mit klaren Worten, wie sein Sohn Karl auf die Wanderschaft gegangen und sich endlich nach Schlesien gewandt habe. Er schilderte ihn dabei als einen braven, guten Jungen, der schon als Kind wohl wild und manchmal ungezogen gewesen sei, aber nie eine Lüge gesagt und lieber die härteste Strafe erduldet habe. Dann kam er auf jenen unglücklichen Tag zu sprechen und berichtete nun getreu, wie ihm sein eigener Sohn den Thatbestand erzählt. Das. Gericht freilich fand die Verdachtsgründe gegen ihn zu stark und begründet, und nur seiner Jugend und früheren Unbescholtenheit hatte er damals die eigentlich im Verhältniß zu dem Verbrechen äußerst milde Strafe zu verdanken.

Püster hatte ihm aufmerksam zugehört; er sah dem Manne nur fest in's Auge und fühlte sich dabei überzeugt, daß er die Wahrheit rede und selber von ihr durchdrungen sei. Als aber der Vater erschöpft schwieg, denn er hatte alles gesagt, was er wußte, nahm er nach einer längeren Pause, in der er still vor sich nieder gesehen, das Wort und sagte:

»Ich glaube, daß ich die Sache jetzt so ziemlich durchschaue; nur Eins habe ich noch nicht verstanden, und das ist: worin Sie meinen Rath verlangen. Ihr Sohn ist damals verurtheilt worden und hat seine Strafe verbüßt; kein Gesetz oder Gericht der Welt könnte ihn zum zweiten Mal zur Verantwortung ziehen. Die Sache ist also vollständig erledigt, und wenn ich nach dem Berichte Ihres Sohnes und nach dem, was Sie mir darüber sagen, auch selber an die Möglichkeit glaube, daß er vollständig unschuldig und nur nach einer Beweisführung unglücklicher Indicien verurtheilt ist, was in der Welt ließe sich jetzt noch in der Sache thun?«

»Ja, Herr Notar,« sagte der Tischlermeister, und sein Gesicht war fast noch blässer geworden, »Sie haben vielleicht Recht; aber was ich daheim leiden muß, können Sie nicht wissen, und Gott bewahre Sie davor! Der Junge ist zurückgekommen, gebrochen an Leib und Seele; er war ein braver Mensch und er ist es, wie ich zu Gott hoffe, geblieben. Seine Strafe hat er auch abgesessen und von der weltlichen Gerechtigkeit – wenn wir das Wort gebrauchen wollen – nichts mehr zu fürchten; aber glauben Sie, daß es damit abgemacht wäre? Hier in seinem Vaterland ist er gebrandmarkt auf Lebenszeit, ob er schuldig war oder nicht – er hat im Zuchthause gesessen. Die Gesellen wollen nicht mit ihm an einem Tische essen, drei davon sind mir schon ganz aus der Arbeit gegangen, und ich bekomme keine anderen dazu; wo sich der arme Mensch auf der Straße sehen läßt, laufen die Kinder hinter ihm drein und rufen ihm Spottnamen nach: Zuchthäusler und dergleichen; und als ich in unserer Innung nur die Andeutung machte, ihn hier aufzunehmen, wurde ich von allen Seiten angeschrieen, und meine Collegen versicherten, daß sie dann sämmtlich austreten würden.«

»Ja, ja,« nickte der Notar, »es ist schlimm, aber gegen ein Vorurtheil können wir nun einmal nicht ankämpfen! Die besten Menschen sind darin wie toll und blind, und da außerdem die Sache noch vollständig im Dunkeln liegt, ist nicht daran zu denken sie zu überzeugen.«

»Darin haben Sie Recht, Herr Notar,« sagte der Tischlermeister mit einem schweren Seufzer, »und das habe ich auch vollständig aufgegeben, wenn man nicht die Beweise von meines Sohnes Unschuld führen könnte.«

»Aber wie wollen Sie das möglich machen?«

»Ich bin nicht reich,« fuhr der Handwerker fort, »aber ich habe mir doch mit Fleiß und Sparsamkeit außer dem Hause, das mein eigen ist, noch ein Paar hundert Thaler erspart, die ich einmal für einen Nothpfennig betrachtete, wenn ich vielleicht krank werden, oder sonstiges Leid hereinbrechen sollte. Das Letztere ist jetzt geschehen, es hat mich in dem ruinirten Ruf meines Sohnes betroffen, und um den wieder herzustellen, gäbe ich auch den letzten Pfennig willig her.«

»Aber was können Sie davon hoffen?«

»Deshalb bin ich gekommen, um Ihren Rath zu erbitten,« sagte der Mann mit leiser, kaum hörbarer Stimme. »Ich dachte mir so: mein Sohn ist jetzt krank, die furchtbare Aufregung und die Schmach, die ihm überall angethan wird, haben ihm ein heftiges Fieber zugezogen, das ihn vielleicht noch eine Weile im Bette hält, an eine Reise dürfte er wenigstens in den nächsten Wochen noch nicht denken. Aber wenn er sich wieder erholt hat – und mit Gottes und unseres Doctors Hülfe, hoffe ich, wird das nicht mehr so lange dauern –, so wollte ich, daß er nach Schlesien an jenen Ort zurückginge, wo das Verbrechen damals verübt worden ist, um da selber genaue Nachforschung zu halten.«

»Und was soll ihm das jetzt noch nützen?«

»Er behauptet,« sagte der Vater, und der kalte Schweiß stand ihm dabei auf der Stirn, daß er den Menschen, der damals den Mord verübt haben muß – denn er hatte seinen Stock und unmittelbar nach dem Verkaufe des Stockes war die That geschehen –, wieder erkennen wolle, wo er ihn auch sähe. Wenn er sich nun einige Wochen dort aufhielte und alle die verschiedenen Plätze in der Nachbarschaft genau untersuchte, so liegt die Möglichkeit vor, daß er ihm wieder einmal begegnet, da sich Der jetzt gewiß für vollkommen sicher hält.«

»Er könnte auch meinswegen die Polizei zu Hülfe nehmen,« sagte Herr Semmlein.

Der Notar schüttelte den Kopf. »Also wirklich den glücklichen, aber immer noch unwahrscheinlichen Fall angenommen, daß er jenem wirklichen Mörder auch wirklich begegnete und ihn wieder erkennte – Zehn gegen Eins ist aber zu wetten, daß das ein fremder Vagabond war, der nach der That jene Nachbarschaft gewiß rasch genug gemieden hat –, also jenen Fall angenommen, welchen Nutzen versprechen Sie sich davon? Wie wollen Sie jenem Menschen beweisen, daß er den Mord verübt? Der Stock wäre ein Beweismittel; aber wer hat den in seiner Hand gesehen? Nur allein Ihr Sohn. Der Verbrecher verließ, nachdem er ihn an sich gebracht, den Wald nicht wieder, bis er den Mord verübt, und ließ dann wohlweislich den Stock bei dem erschlagenen Körper liegen, und der lieferte dann auch später jedenfalls das überzeugendste Beweismittel gegen den Angeklagten. Aber was weiter könnten Sie gegen ihn vorbringen? Wie Sie selber sagen, sind über sieben Jahre seit jener That verflossen, von dem geraubten Eigenthum des Erschlagenen hat der Mörder natürlich gar nichts mehr bei sich, oder wenn er es selbst hätte, wer sollte es kennen? Ihr Sohn selber nicht, und darauf hin, daß der Verbrecher selber seine That reumüthig eingestände, kann doch Ihr Sohn nicht die Reise machen. Nein, lieber Freund, das hilft Ihnen gar nichts und bringt Sie um keinen Schritt näher, die Unschuld Ihres Sohnes der Welt darzuthun, ja, er könnte möglicher Weise dort noch einmal in eine Klage wegen falscher Anschuldigung gerathen, wo ihm einen Beweis zu führen vollständig unmöglich wäre. Nur seine Aussage, daß er behauptet, er kenne den Menschen wieder, der ihm damals den Stock abgekauft und also den Juden erschlagen haben müsse, genügt bei Weitem nicht, einen Menschen, noch dazu nach so langen Jahren, vor Gericht zu stellen. Der braucht einfach zu sagen: ich habe nie in meinem Leben auf der Landstraße von einem Handwerksburschen einen Stock gekauft, und die Sache ist vollständig, abgemacht und erledigt.«

»Aber was um Gottes willen soll ich thun?« sagte der arme Mann in voller Verzweiflung. »Ich habe jetzt, nachdem ich eine Weile mit meinem Sohn verkehrt, die volle und feste Ueberzeugung, daß er wirklich und wahrhaftig unschuldig ist, und kann ich es da ruhig mit ansehen, wenn er von allen rechtlichen Menschen wie ein Aussätziger gemieden und von den Kindern auf der Straße verhöhnt wird?«

»Lieber Herr Handorf,« sagte der Notar freundlich, »es ist ein Unglück, welches schon andere Menschen ebenfalls betroffen hat, aber sich nicht ändern läßt, denn unser ganzes Wissen ist nur ein Stückwerk. Wir irren Alle, und wo sich scheinbar Beweise auf Beweise gegen einen Angeklagten häufen, da können wir eben nicht anders, als nach unserem besten Wissen und Gewissen urtheilen, und Gott nur weiß, ob wir dabei im Recht oder Unrecht sind.

»Wenn er nun meinswegen nach Amerika ginge,« sagte Herr Apotheker Semmlein.

»Ich glaube nicht, daß der Rath so übel ist,« sagte der Notar, langsam mit dem Kopfe nickend. »Hier in seiner Vaterstadt, und wenn er der bravste, redlichste Mensch der Welt wäre, ist ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Hat sich einmal ein solches Vorurtheil gebildet, so wird es unmöglich sein, es wieder auszurotten, und – seien wir ehrlich – so liegt das einmal in der Menschennatur. Wir verbinden mit dem Zuchthause alle miteinander und fast ohne Ausnahme den Begriff von Unehrlichkeit, vorausgesetzt nämlich, daß nicht ein politisches »Verbrechen,« wie es beim Gericht gewöhnlich genannt wird, die Veranlassung dazu gab. Ich kenne unter den Letzteren Menschen, die im Zuchthaus gesessen haben und am kleinen Finger mehr werth waren, als die Herren, die sie verurtheilten. Hier aber liegt die Anklage eines gemeinen Verbrechens, ja des schlimmsten, das es geben kann, vor: Raubmord, und wenn ich auch den Fall recht gern zugebe, daß ein unseliges Zusammentreffen zufälliger Umstände einen Unschuldigen zur Verbüßung einer entehrenden Strafe gebracht hat, so wird sich die Menge nie davon überzeugen lassen. Wir Menschen sind ja überhaupt nur zu gern geneigt, von unseren Nebenmenschen weit eher etwas Schlechtes als Gutes zu denken. Herr Semmlein hat ganz Recht; geben Sie Ihrem Sohne das Geld, das er bei einer vollkommen nutzlosen Reise nach Schlesien nur vergeudet haben würde, um seine Passage nach Amerika damit zu zahlen, und dort mag er dann in Frieden und Ruhe ein neues Leben beginnen.«

Der alte Tischlermeister saß still, die beiden Ellbogen auf seine Kniee gelegt, den mit weißen, kurzen Locken bedeckten Kopf gesenkt, und starrte düster und schweigend vor sich nieder. Die Worte des Notars hatten ihm auch seine letzte Hoffnung zerstört und genommen.

»Also soll mein armer Karl,« sagte er endlich, »wie ein wirklicher, abgeurtheilter und bestrafter Verbrecher das Vaterland verlassen und in einem fernen Lande eine Heimath suchen müssen? Und was dann? Bleibt ihm nicht immer die nagende Angst, auch dort wieder zufällig einmal von Jemandem erkannt und auf's Neue ausgestoßen zu werden? So lange er in dem schrecklichen Gefängnisse war, hat er das weniger gefühlt, er befand sich unter lauter Menschen, welche die nämliche Strafe trugen; jetzt aber, wo er wieder in das bürgerliche Leben eintreten soll, jetzt schließt Jeder seine Thür und sein Herz vor ihm zu, und er steht allein mitten in der ganzen Stadt und sieht, wie Alle mit Fingern auf ihn deuten!«

Der kleine Apotheker stand, die Hände gefaltet, dabei und schaute den alten Meister mit recht mitleidigen Blicken an. »Es ist meinswegen eine recht traurige Geschichte,« sagte er, »und der arme Kerl thut mir recht von Herzen leid. Es war ein braver Junge, denn ich kenne ihn von der Zeit an, wo er kaum laufen konnte; aber er muß nach Amerika,« setzte er dann rasch hinzu, »er muß meinswegen sobald wie möglich abreisen, und da drüben werden sie ihn nachher nicht mehr ärgern und quälen.«

»Jetzt kann er noch nicht,« sagte der Meister, von seinem Stuhl aufstehend, »denn das Fieber läßt ihn nicht, und ordentlich gesund muß er doch erst werden; dann glaube ich aber auch selber, daß es das einzige sein wird, was er thun kann. Er muß hier die Schmach und Schande auf sich sitzen lassen und seine Eltern, sein Vaterland verlassen, damit ihm dort im fremden Lande niemand ansehen kann, daß er die langen Jahre im Zuchthause gesessen hat. Gebrandmarkt haben sie ihn ja Gott sei Dank nicht, wie es in früheren Zeiten geschehen sein soll, daß er das Kainszeichen bis an sein Lebensende mit herumschleppen müßte. Aber wir sind schon zu lange hier gewesen, Herr Notar. Entschuldigen Sie das mit dem gebrochenen Herzens eines Vaters. Früher hatte ich selber immer keine Zeit und arbeitete von früh bis Abends unverdrossen fort, jetzt schmeckt die Arbeit so wenig mehr wie das Essen; die Gedanken sind's, die Gedanken, Herr Notar, die mir im Kopfe hobeln und sägen und hämmern – hämmern manchmal, als ob sie die Hirnschale von einander sprengen wollten. Nichts für ungut, Herr Notar, nichts für ungut« – und seinen Hut in beide Hände nehmend, den Kopf gebeugt, schritt der Handwerker, von Semmlein diesmal dicht gefolgt, zur Thür hinaus.

Mux hatte sein kleines Pult ziemlich in der Mitte der Stube, stand aber so, daß er die gegenüberliegende Häuserreihe, wenigstens das Trottoir bis zur ersten Etage, beobachten konnte. Gerade wie die beiden Nachbarn das Comptoir verließen, kam die Familie Klingenbruch, das heißt nur der Oberstlieutenant, seine Frau und Henriette, von Graf Rauten begleitet, der sie vielleicht unterwegs getroffen, die Straße herauf und blieben natürlich noch an der Thür, um ein paar Abschiedsworte zu wechseln, stehen. Semmlein konnte nicht einmal in seine eigene Hausthür, sondern drückte sich mit einer Verbeugung um die Gruppe herum und in die Apotheke hinein.

Wie sie noch dastanden, öffnete sich die Hausthür, und Mux schmunzelte, denn die schwarze Sammetpekesche erschien darin und schien nicht übel Lust zu haben, wieder zurück zu fahren, aber es ging nicht mehr. Er war schon gesehen, und das wäre jedenfalls zu auffällig gewesen; so fügte er sich denn in das Unvermeidliche, trat heraus, verbeugte sich gegen die Herrschaften – von denen ihm aber nur Henriette dankte, denn die Anderen kannten ihn gar nicht – und drückte sich dann mit raschen Schritten die Straße entlang. Henriette sah ihm aber nach, so weit sie ihm mit den Augen folgen konnte, bis ihre Eltern selber in's Haus traten und Graf Rauten sich von ihr verabschiedete.



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