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24.
Ein Ereigniß


Als Hauptmann von Dürrbeck das Café verließ, schritt er die Straße wie in einem Traum hinab. Er sah, daß ihm Leute begegneten, und wich aus alter Gewohnheit aus, aber er erkannte Niemand. So verfolgte er, hoch aufgerichtet, aber todtenbleich seinen Weg, passirte die Promenaden, bis er in den kleinen Park kam, und dort erst, an einer stillen und unbesuchten Stelle, warf er sich auf eine Bank, denn die erschöpften Glieder wollten ihn nicht weiter tragen.

Lange saß er dort, die Blicke stier am Boden haftend, bis er plötzlich in ein wildes, heiseres Lachen ausbrach und dann vor sich hin murmelte: »Bin ich denn verrückt, bin ich wahnsinnig geworden und sehe mich im Traum als eine lebendige Leiche in der Stadt herumgehen? – oder ist das Wahrheit,« setzte er mit scheuem Flüstern hinzu, »Wahrheit, daß ich mein Leben, Glück, Liebe, Hoffnung, Jugend, alles einem andern schulde und nur noch auf ein paar Stunden geborgt bekommen habe?«

Er barg das Gesicht schaudernd in den Händen, und Bilder des Schreckens und Entsetzens flutheten an seinem innern Auge vorüber, bis sie ihn zuletzt bewältigten und er scheu von seinem Sitz emporsprang. – »Flucht!« Wenn er jetzt mit dem Abendzug Rhodenburg verließ, um nie mehr hierher zurückzukehren! – Amerika! Dort in der Wildniß konnte er ungekannt leben. Oh, leben! – Rauten, der Teufel, der ihn verführt! Wenn er ihn nur gleich im Café niedergestochen hätte! Man würde ihn mit ein paar Jahren Festung bestraft haben, und das Furchtbare wäre nicht geschehen! – Weshalb hatte er auch sein Leben ausgewürfelt? Warum nicht im männlichen Kampfe Klinge gegen Klinge? Und galt überhaupt ein solcher Kampf vor menschlichen wie göttlichen Gesetzen? Wenn er, wenn jemand anders die Polizei davon benachrichtigte? – Wie ihm das in den wenigen Minuten durch den Kopf wirbelte! Aber der letzte Gedanke gab ihn sich selber wieder: der Mann erwachte.

Finster und mit zusammengezogenen Brauen kreuzte er die Arme auf der Brust, und leise flüsterte er: »Ich muß wirklich wahnsinnig geworden sein, oder würde sonst nicht auf solche feige Gedanken fallen. Es ist geschehen! Was hilft das Grübeln und Brüten darüber; kann ich's ändern? Kann es ein Mensch auf der weiten Gotteswelt? Jetzt nicht mehr! Und was nun? – Arme, arme Constanze! Oh, Du mein Gott, daß alles so – so furchtbar enden soll!«

Er blieb lange in tiefen Gedanken stehen, bis er nahende Schritte auf dem Kieswege hörte; es waren Spaziergänger, die dort des Weges kamen, ihm fremde Menschen, aber sie brachten ihn zu sich selber. Es war drei Uhr Nachmittags geworden und ihm die Stunden so rasch, so entsetzlich rasch verflogen; er hatte keine mehr zu vergeben, denn es blieben nur noch neun davon sein eigen.

Mit raschen Schritten eilte er in die Stadt zurück, betrat sein Zimmer und schloß sich dort ein, um alles, was er noch in diesem Leben zu erledigen hatte, ohne weiteres Säumen zu regeln. Es klopfte indessen mehrmals an seine Thür, aber er antwortete nicht; er durfte sich nicht mehr stören lassen, denn alles, was da draußen sich im Sonnenlicht bewegte, hatte Zeit, – er nicht mehr.

Gegen sechs Uhr faltete er den letzten Brief zusammen und ging nun daran, über sein Eigenthum zu verfügen. Es war dunkel geworden, bis er dies beendet, und wieder stand er in peinliches Sinnen versunken. – Constanze! Der Gedanke allein bewegte noch sein Herz. Sollte er sie noch einmal sehen, um von ihr zu scheiden – auf ewig? Und war er dann im Stande, ihr den qualvollen Zustand seiner Seele zu verheimlichen?

Da durchzuckte ihn ein Gedanke: heute war ja der Abend, an dem sie zum letzten Mal die Bühne betreten sollte zum Benefiz der armen Choristen, und er hatte es vergessen. Wie mochte sie ihn an dem Nachmittag erwartet und sich am Ende gar beunruhigt haben. – Beunruhigt? Arme Constanze! – Aber jetzt war ihm auch dieser Zweifel genommen. Besuchen konnte er sie nicht mehr, sie war jetzt schon lange im Theater, stand vielleicht schon auf der Bühne und ahnte, Gott sei Dank, nicht, welches traurige Ende ihrer Liebe drohte.

Wieder setzte er sich hin, um noch die letzten Worte an die Geliebte zu richten. Und hatte er alles Andere mit kaltem, ruhigem Blute beendet, jetzt flossen seine heißen Zähren, und mehrmals mußte er den Brief unterbrechen, weil quellende Thränen ihm das Auge verdunkelten. Endlich war auch das vollbracht, das Schwerste von Allem, und jetzt schien er mit dem Leben abgeschlossen zu haben. Es war neun Uhr; er ließ die Lampe auf dem Tisch brennen, zog seine Uniform aus und legte sich, sonst angekleidet, auf sein Bett. –

Im Stadttheater wurde bei drückend vollem und ausverkauftem Hause der Troubadour gegeben. Es war das letzte Mal, daß Constanze Blendheim überhaupt auftrat, und der Liebling des »Publikums« sollte sich wenigstens überzeugen, daß man sie nicht still und geräuschlos wollte scheiden sehen. Das Publikum überschüttete sie mehr noch als am letzten Abend mit Beifallsbezeigungen, und Blumen und Gedichte flatterten aus den Logen nieder. Junge Enthusiasten der Stadt hatten sogar einen Fackelzug vorbereitet, und es war beschlossen, daß man, sobald das Theater beendet war, mit den brennenden Fackeln ein Spalier die Straße entlang bis zu ihrem Hause bilden wollte, wo sie dann, in ihrer Wohnung angelangt, mit einem Ständchen begrüßt werden sollte.

Es war die letzte Scene, in der Constanze auftrat. Auf der ersten und zweiten Gallerie, selbst in den vorderen Parquetlogen saßen die Verehrer der jungen Sängerin schon wieder wurfbereit mit ihren Bouquets und Kränzen, an denen sich auch hier und da nicht unbedeutende Geschenke an Schmucksachen befanden.

Die Meldung ging indeß nach der Straße, in der ihre Wohnung lag, die letzte Scene komme, und die Fackelträger möchten sich bereit halten, denn man wußte, daß die Sängerin gewöhnlich stets gleich nach dem Schluß, noch im Costüm, in ihren Wagen sprang, um nur so rasch als möglich nach Hause zu kommen.

Constanze stand mit klopfendem Herzen hinter der Coulisse, um ihr Stichwort abzuwarten. Sie konnte schon sich gegenüber im Proscenium die Vorbereitungen zu ihrem Empfang bemerken, und doch erfüllte ihr heut Abend ein wehes Gefühl die Brust, dem sie nicht Worte und Ausdruck zu geben vermochte. War es, daß sie jetzt für immer von der Bühne schied? das Aufgeben einer Künstlerlaufbahn? Es mochte so sein, denn Constanze Blendheim war wirklich mit Leib und Seele Künstlerin, nicht eine jener theatralischen Größen, die in unserer Zeit leider die Mehrzahl bilden, und deren einziges Streben daran liegt, höhere Gagen, mehr Applaus, längeren Urlaub und größere Blumensträuße als ihre Colleginnen zu bekommen. Solch trauriger Ehrgeiz lag ihr fern; aber so hatte sie es trotzdem noch nie empfunden, und unwillkürlich dachte sie dabei auch an ihren Bräutigam, der sie gerade heute Nachmittag auf das Auffälligste vernachlässigt hatte.

Weder war er vor der Vorstellung, wie er es doch sonst fast stets that, bei ihr gewesen, noch hatte sie ihn auf dem Platze, den er gewöhnlich einnahm, gesehen, und er ihr doch fest versprochen, daß er diese, die letzte Vorstellung nicht versäumen wolle. War etwas vorgefallen? Aber was konnte eben vorgefallen sein?

Sie lehnte, tief in Gedanken versunken, an der einen Coulisse und hörte nur wie in einem Halbtraume das, was draußen auf der Bühne vorging – da flüsterten dicht neben ihr, nur durch die dünne Leinwand der einen zurückgeschobenen Coulisse geschieden, zwei der Theaterarbeiter mit einander.

»Du, hast Du's schon gehört?« sagte der Eine – »der Hauptmann von Dürrbeck hat sich eben erschossen!«

»Was?« sagte der Andere, »der Bräutigam von der Blendheim?«

»Ja wohl; eben kam ein Polizeidiener und meldete es dem Director.«

Der Opern-Regisseur stand vorn in der ersten Coulisse; der Moment war gekommen, wo Constanze hinaus mußte – aber sie kam nicht. Er eilte an der Seite hin und entdeckte sie glücklich in der dritten Coulisse.

»Fräulein Blendheim, Ihr Stichwort ist schon gegeben!«

Das junge Mädchen zuckte empor, sie war ihrer Bewegung nicht Herr, aber sie begriff, daß sie hinaus auf die Bühne mußte. Der Geist ihrer Rolle verlangte eine rasche Bewegung, das wußte sie noch, und mechanisch folgte sie dem. Mit raschen Schritten eilte sie hinaus – donnernder Applaus empfing sie: von allen Seiten flogen Kränze und Bouquets, das Publikum jubelte und schrie – was kümmerte es sich um die Scene, es dachte in diesem Augenblick an nichts als die scheidende Sängerin.

Constanze blieb stehen. Die Lampen vorn umgaben sie wie mit einem Feuerkreise, das Publikum selber fing an, sich mit ihr zu drehen, um sie her schwirrten Blumenbouquets wie farbige, feuerstrahlende Meteore, vor ihren Ohren sauste und brauste es wie das Heulen der Windsbraut durch den blätterleeren Wald – sie warf die Hände empor, als ob sie sich an irgend etwas, das sie umgab, festhalten wollte, drehte sich halb im Kreise und schlug dann bewußtlos auf ihre Kränze und Blumen nieder.

Das Publikum glaubte natürlich im ersten Augenblick, daß die freudige Aufregung dieser Ovation sie für den Moment überkommen habe, und die Rufe wurden nur noch lauter und enthusiastischer – es war ja ein zu deutliches Zeichen ihrer Dankbarkeit und Rührung! Mitten aber im tollsten Sturme fiel der Vorhang plötzlich, und als der See noch immer tobte und sein Opfer noch einmal haben wollte, trat der Regisseur heraus und bat das Publikum, Nachsicht zu haben und das Haus still zu verlassen, da Fräulein Blendheim eben eine sehr betrübende Nachricht erhalten hätte und vor Schreck das Bewußtsein verloren habe.

Todtenstille herrschte in dem weiten, menschengefüllten Raum, nur leise flüsternd wurde hier und da die Frage laut: »Was ist vorgefallen, was ist geschehen?« – Daß aber etwas geschehen sein müsse, war klar, und die zunächst der Thür Befindlichen fingen an, die Räume zu leeren.

Indessen war der Theater-Arzt mit Fräulein Blendheim beschäftigt. Er hatte vom Director die furchtbare, das unglückliche Mädchen betreffende Nachricht gehört; eine der Choristinnen, die unfern davon gestanden, als der eine Theaterdiener die Kunde brachte, bestätigte, daß es die Arme an der Stelle, wo sie sich gerade befand, gehört haben müsse und der Arzt erklärte nun, da er den Wagen vor der Thür wußte, daß die noch immer Bewußtlose augenblicklich in ihre Wohnung geschafft werden müsse. Er selber wollte sie natürlich dahin begleiten, wie er denn zur Unterstützung und Hülfeleistung auch die Garderobière mitnahm. Ihr gegenüber lag außerdem die Apotheke, und sie fand daheim natürlich bessere Bequemlichkeit und Pflege, als hier in der öden Garderobe, in der nicht einmal ein erträgliches Sopha stand.

Der Befehl war auch, kaum gegeben, schon ausgeführt. Die Kranke wurde von einigen Choristinnen aufgefaßt und in den Wagen getragen, die Tochter des Theater-Inspectors erbot sich ebenfalls, mitzufahren, und noch hatte kaum die Hälfte des Publikums das Haus verlassen, als auch die Droschke schon in die Straße einbog, in welcher sich der Fackelzug aufgestellt hatte und die Sängerin erwartete.

Durch die rasche Bewegung des Wagens und die frische Luft vielleicht, welche zu den geöffneten Fenstern einzog, war Constanze wieder zu sich gekommen. Sie sah wohl im ersten Moment erstaunt, erschreckt empor; aber nur zu rasch kam ihr die Erinnerung des Entsetzlichen, und schaudernd barg sie ihr Antlitz in den Händen, denn diese Flucht aus dem Theater schien ja nur die grauenvolle Wahrheit zu bestätigen.

Der Fackelschein rings umher – was bedeutete das nur? Jetzt bog der Wagen in die Gasse ein.

»Die scheidende Künstlerin, unser verehrtes Fräulein Constanze Blendheim, sie lebe hoch, und nochmals hoch und nochmals hoch!«

Und »hoch, hoch, hoch!« brauste es von Tausenden von Stimmen, und das Musikcorps, welches bestimmt war, ihr abwechselnd mit einem Männerquartett das Ständchen zu bringen, fiel mit einem rauschenden Tusch ein, so daß die Bewohner der benachbarten Straßen eilig herbeigestürzt kamen, um zu sehen, was es da gäbe. Die Fackelträger schwangen dabei ihre Fackeln, und der Jubel wollte kein Ende nehmen.

»Um des Heilands willen, was ist das?« rief Constanze, als der Wagen vor ihrer Thür hielt und die Sänger jetzt mit ihren klangvollen Stimmen das Mendelssohn'sche Lied begannen: »Es ist bestimmt in Gottes Rath« – »was soll das bedeuten? Wach' ich denn – träume ich?«

»Es sind Bewohner von Rhodenburg«, sagte der Arzt verlegen, »die Ihnen noch zu Ihrem Abschied von der Bühne eine Freude machen wollen.«

»Eine Freude – oh Du mein großer Gott? Aber, Doctor, um Gottes willen, was ich im Theater gehört, ist es …«

»Kommen Sie nur mit hinauf in Ihre Wohnung, bestes Fräulein – wir sind vor Ihrem Hause – dort oben …«

»Vor meinem Hause?« rief Constanze rasch und geisterbleich – der Strahl der Fackeln hatte sie geblendet, daß sie die eigene Straße nicht kannte, – »vor meiner Thür? Aber wo ist denn, wo um Gottes willen ist Dürrbeck, der mir jeden Abend an dieser Stelle gute Nacht sagt?«

»Kommen Sie nur hinauf«, drängte der Arzt; »es sind hier heute zu viele Menschen, und sehen Sie, wie sie jetzt herzudrängen. Wir müssen wirklich machen, daß wir hinein kommen, oder sie sperren uns ganz ab.«

Darin hatte er Recht, denn Jeder der jungen Leute, die keine Ahnung von dem traurigen Geschick der Sängerin hatten, wollte sie gern noch einmal sehen und drängte heran, und kaum gelang es ihr und ihren Begleitern, hindurch und in das Haus zu kommen.

Der Gesang tönte noch fort, aber indessen lief schon von Mund zu Mund das Gerücht von des Hauptmanns Selbstmord, das sich fabelhaft schnell verbreitete. Die Sänger hörten es ebenfalls; anstatt sie ihr Lied beenden zu lassen, liefen Unberufene hinzu und verkündeten die Schreckensmähr. Einer verstummte – da noch einer – plötzlich brachen sie mitten darin ab, von den Fackelträgern suchten schon hier und da einzelne ihre Fackeln zu verlöschen oder zogen sich scheu die Straße hinab – das war kein Augenblick zu Triumph und Freude, wie sie recht gut fühlten, aber unheimlich wurde die Ovation durch diese Störung, die sich äußerte, als ob der Tod in eine fröhliche Gesellschaft trat. Die Masse der Neugierigen hatte sich allerdings noch nicht verringert, eher vergrößert, aber das Musikcorps, die Sänger zogen sich scheu zurück, und lautlos zerstreuten sich auch jetzt die Fackeln, hier und da leuchtete noch eine vor – dann lag alles finster wie die Nacht, und nur die eine an der Hofapotheke angebrachte Gaslampe warf noch ihren matten Schein über den Menschenschwarm, der jetzt zu den Fenstern der unglücklichen Braut hinausstarrte.

An den benachbarten Fenstern hatte sich natürlich alles versammelt, wie nur die ersten Fackeln sichtbar wurden, und Klingenbruchs besonders hielten ihre Etage vollkommen besetzt.

»Was das für ein Wesen ist, das um so eine Theatermamsell gemacht wird!« sagte Henriette, die mit ihrer Mutter zusammen in einem Fenster lag. »Die Männer sind doch wirklich rein verrückt – mit einer Königin könnten sie's nicht ärger treiben!«

»Sie scheint viele Anbeter gehabt zu haben,« bemerkte die Frau Oberstlieutenant, »und ich begreife eigentlich den Hauptmann nicht.«

»Ich könnte mich nicht so öffentlich auf die Bühne stellen,« bemerkte die junge Dame, »und dann vor allen Menschen einem wildfremden Manne um den Hals fallen und ewige Liebe schwören, wie sie's alle Abende machen; dazu gehört doch eine merkwürdige Natur.«

»Du wirst auch sehr selten Leute aus wirklich guter Familie finden, die sich dazu hergeben,« sagte die Mutter wieder; »es ist fast immer hergelaufenes Volk.«

»Da kommt der Wagen!« rief Flora, die im Nebenfenster lag. »Oh Du meine Güte, wie sie brüllten; ich werde noch taub davon!«

Jetzt begann der Gesang, und das Ganze hatte etwas so Feierliches, daß selbst die jungen Damen einen Moment schwiegen und den Tönen lauschten. Aber das dauerte nicht lange.

»Das ist ja eine ganze Gesellschaft, die da aus dem Wagen steigt!« rief Flora. »Fräulein Blendheim giebt wohl heut Abend eine kleine Soirée – das schickt sich auch recht für eine einzelne Dame!«

»Konntest Du erkennen, wer das war, Mama?« fragte Henriette.

»Nein; aber Jemand war dabei, der von den Anderen geführt wurde – ich glaube, die Blendheim selber.«

»Sie wird wohl eine Ohnmacht gespielt haben, um ihre Rührung zu zeigen,« bemerkte die Tochter; »lauter Komödie – daß sich die Menschen nur auf so plumpe Art anführen lassen!«

Wieder horchten sie eine Weile dem Gesange.

»Hörst Du,« lachte Flora, »da ist einer stecken geblieben!«

»Ist es denn schon aus?« fragte die Mutter.

»Sie hören ja auf einmal auf – was laufen denn die Menschen da so herum?«

»Die Polizei wird den Unfug nicht geduldet haben,« bemerkte die Frau Oberstlieutenant; »siehst Du, da unten sind Polizeidiener.«

»Das wär' recht,« lachte Henriette schadenfroh; »es ist auch eine furchtbare Rücksichtslosigkeit gegen die Nachbarn. Wenn nun Jemand krank ist und muß den Spectakel mit anhören – das irritirt ja gesunde Nerven!«

»Da muß etwas vorgefallen sein,« sagte jetzt der Oberstlieutenant, der im dritten Fenster lag, indem er zurück in die Stube trat.

»Schick' doch einmal die Hanna hinunter, daß sie sich erkundigt,« schlug Flora vor. Die Hanna war aber schon unten und stand in der Hausthür, um zuzusehen, denn in die Vorderzimmer durfte sie, wie sie recht gut wußte, nicht kommen. Die Bewegung da unten wurde aber so räthselhaft – das plötzliche Abbrechen des Gesanges, das Zerstreuen der Fackeln, die Versuche, die Einige machten, ihre Fackeln auszulöschen –, daß die Damen Gewißheit darüber haben mußten. Außerdem bemerkten sie jetzt drüben in den Fenstern von Fräulein Blendheim Licht, und die Schatten verschiedener Personen glitten hastig bald her, bald hin an den niedergelassenen Rouleaux. In Ermangelung der Hanna wurde deshalb der Oberstlieutenant selber auf Kundschaft ausgeschickt, mit der stillschweigenden Bedingung, nicht eher wieder zurückzukehren, bis er etwas Positives erfahren habe, und die Damen zerbrachen sich indessen vergeblich die Köpfe, das schon von oben heraus zu bekommen.

Der Vater blieb aber nicht lange; er hatte nicht weit zu gehen gebraucht, um das zu erfahren, was da unten von Mund zu Mund lief. Er wollte das Gerücht allerdings nicht gleich glauben, es war zu undenkbar; aber von allen Seiten ward es bestätigt, und ein Unglück mußte geschehen sein, oder die Festlichkeit wäre doch wahrlich nicht auf eine so plötzliche und für die davon Betroffene sonst jedenfalls beleidigende Weise abgebrochen worden.

Als er zurückkam, war der kleine Mann aschenfahl im Gesicht.

»Nun, Papa, was ist?« stürmten ihm die beiden Töchter entgegen. »Nicht wahr, die Polizei hat dem Skandal ein Ende gemacht?«

»Kinder,« sagte der Oberstlieutenant mit fast zitternder Stimme, »ein Unglück ist geschehen …«

»Ein Unglück?« riefen alle Drei zu gleicher Zeit.

»Hauptmann von Dürrbeck hat sich erschossen!«

Die Damen standen ihm sprachlos gegenüber; nur die Frau Oberstlieutenant gewann zuerst die Sprache wieder.

»Ob ich es nicht gedacht habe,« sagte sie (ihre Seele hatte keine Ahnung davon gehabt), »das konnte nicht ausbleiben. Er muß sich in der Verbindung unglücklich fühlen. Jetzt sitzt die Mamsell da mit ihrem Fackelzug und Ständchen – Hochmuth kommt immer vor dem Fall! ist ein altes gutes Sprüchwort.«

»Veronica,« rief ihr Gatte fast entsetzt aus, »wie kannst Du um Gottes willen nur so etwas sprechen?«

»Ist es nicht die Wahrheit?«

»Und hast Du gar kein Mitleid mit der Unglücklichen?«

»Ach was,« sagte die Frau Oberstlieutenant, »derartige Leute fühlen so etwas lange nicht so tief wie Unsereiner. – Dein gutes Herz malt Dir die Geschichte nur so schwarz aus. Dürrbeck hätte aber von Anfang an so klug sein und einsehen sollen, daß die Verbindung für ihn keine passende sein konnte. Jetzt hatte er sich aber schon zu tief eingelassen, er wußte recht gut, daß die ihn nicht wieder frei gab, und da blieb ihm denn freilich keine andere Wahl, als sie zu heirathen oder sich todt zu schießen.«

Klingenbruch lief mit auf dem Rücken zusammengelegten Händen in seinem Zimmer auf und ab; er hörte gar nicht mehr, was seine Frau sprach, denn er wußte doch recht gut, daß sie sich nie widerlegen ließ. Dürrbeck – Dürrbeck sich erschossen – und weshalb? Es gab keinen vernünftigen Grund, den er sich denken konnte, denn wenn der Hauptmann nur gewollt hätte, stand er, mit einem sehr bedeutenden Vermögen, vollkommen unabhängig in der Welt, und was um Gottes willen konnte ihn zu einem so verzweifelten Schritt bewogen haben!

Aber es litt ihn auch jetzt nicht länger in seinen eigenen vier Wänden; er mußte sich selber überzeugen, und das auf der Stelle, denn er konnte trotz aller Bestätigung das Unerhörte noch nicht glauben. Bei einer andern Gelegenheit würde nun freilich seine Frau sehr starken Einspruch gethan haben, daß er noch in dieser Stunde der Nacht sein Haus verließ. Heute aber drängte es sie selber, Näheres über den in ihren Kreisen sicherlich Epoche machenden Fall zu erfahren, und dem Oberstlieutenant wurden deshalb keine weiteren Schwierigkeiten in den Weg gelegt.

Dürrbeck's Quartier war auch nicht so weit entfernt; in zehn Minuten etwa hatte er die kleine, freundliche, an der Promenade gelegene Wohnung erreicht. Es war ein kleines Haus, das der Hauptmann erst vor ganz kurzer Zeit angekauft und nicht gerade reich, aber doch ungemein wohnlich hatte einrichten lassen. Wenn Klingenbruch aber geglaubt, daß er sich ohne Weiteres würde Eingang verschaffen können, so sah er sich darin getäuscht. Er fand allerdings eine Menge von Menschen vor dem Hause, die in alberner Neugierde das Dach anstarrten, unter dem soeben ein Mord verübt worden, aber hinein wurde Niemand gelassen. Das Obercommando, das augenblicklich Rapport erhalten, hatte nämlich ohne Weiteres zwei Posten vor die Thür gestellt, welche die Zugänge bis zum nächsten Morgen besetzt halten sollten. Ein Arzt war allerdings ohne Zeitverlust entsendet worden, um nach dem Unglücklichen zu sehen und zu untersuchen, ob noch Leben in ihm sei; das aber zeigte sich bald als hoffnungslos. Der Schuß war mit furchtbarer Sicherheit auf sein Herz gerichtet gewesen, und das Leben schon lange entflohen.

Klingenbruch selber wurde von den Wachen, wenn auch mit der größten Ehrerbietung, doch mit der bestimmten Aussage zurückgewiesen, daß sie von dem commandirenden Officier strengen Befehl hätten, Niemand, weß Standes er auch sei, in die Wohnung des Todten zu lassen, daß aber den Freunden des Verblichenen morgen früh gestattet sein würde, ihn zu besuchen. Damit mußte er sich begnügen, denn er wußte selber recht gut, daß die Soldaten keinen selbstständigen Willen, sondern nur den ihnen gegebenen Befehlen zu folgen hatten. Aber er verließ den Platz doch nicht eher, bis er die näheren Einzelheiten des Unglücksfalles erfahren, und zwar durch den Burschen des Hauptmanns selber, den er kannte und der früher in seinem eigenen Corps gestanden.

Der arme Teufel war noch außer sich, die Thränen liefen ihm fortwährend an den Backen nieder, und einem Andern als dem Oberstlieutenant hätte er auch wohl kaum Rede gestanden.

»Oh, Du mein Gott,« erzählte er, »so ein lieber braver Herr, und so enden – so enden – es ist schrecklich!«

»Aber hast Du denn nicht schon seit einiger Zeit an ihm bemerkt, ob er schwermüthig oder niedergeschlagen war, Martin?«

»Der schwermüthig und niedergeschlagen?« schluchzte aber der treue Bursche, »gesungen und gepfiffen hat er den ganzen ausgeschlagenen Tag, und immer nur angeschafft, immer nur herzugeschleppt, um das ganze Haus wie ein Puppenstübchen herzurichten. Gestern Abend, ja, da kam er 'was verdrießlich nach Hause, ging eine Weile in seinem Zimmer auf und ab und legte sich dann zu Bett; heute Morgen aber war das alles wieder vorüber. Schon um sechs Uhr saß er an seinem Clavier und hat gespielt und gesungen dazu wie eine Haidelerche, und eher hätte ich ja des Himmels Einsturz vermuthet, als daß uns so 'was widerfahren könnte.«

»Und wie war er nachher?«

»Ueber Tag muß es an ihn gekommen sein. Um elf Uhr ging er aus, aber erst um halb vier Uhr kam er wieder zurück und sah merkwürdig blaß und still aus. Ich fragte ihn, ob er krank sei; aber er schüttelte nur mit dem Kopfe und sagte, er hätte viel zu schreiben und ich sollte ihn nicht stören – ich könnte auch ausgehen, setzte er hinzu, und brauche vor heut Abend zehn Uhr nicht wieder nach Hause zu kommen. Das war mir nun freilich schon merkwürdig, aber ich dachte ja doch natürlich nichts Schlimmes dabei und ging auch; aber so lange litt mich's doch nicht fort, und um acht Uhr etwa kam ich wieder zurück. Mein Hauptmann hatte sich aber eingeschlossen, und wie ich draußen horchte, hörte ich, daß er mit langsamen Schritten in seinem Zimmer auf und ab ging. Ich klopfte nun an, aber er antwortete nicht, und da ich merkte, daß er nicht gestört sein wolle, ging ich hinunter in mein Stübchen nahe bei der Hausthür und legte mich ein bischen auf mein Bett. Ich muß dabei wohl eingenickt sein, denn plötzlich fuhr ich in die Höhe, weil mir's um's Leben so war, als ob mich der Herr Hauptmann gerufen hätte, aber ich hörte nichts, alles war todtenstill, und ich wollte mich jetzt ausziehen und ordentlich zu Bette gehen. Da fiel auf einmal oben im Hause ein Schuß – Herr Oberstlieutenant, und wenn ich noch hundert Jahre alt würde, den Schuß vergess' ich in meinem ganzen Leben nicht! Ich wieder in die Stiefeln und an die Thür von meinem Hauptmann gedonnert. Alles still wie im Grabe – und jetzt packte es mich mit der Angst, und wie ich hinunter und wieder hinauf gekommen bin, weiß ich noch zur Stunde nicht; aber meine alte Muskete hatte ich erwischt, und beim dritten Stoß brach auch schon das Schloß auseinander und die Thür flog auf. Aber da – oh Du blutiger Herrgott!« – und hier übermannte es den armen Burschen; er fing laut an zu schluchzen und kam nicht weiter.

Aber Klingenbruch wußte auch jetzt genug. Er wandte sich still ab, denn Trost konnte er ja doch nicht geben, und schritt in tiefem Sinnen seiner eigenen Wohnung wieder zu. Er hatte die Thatsache bestätigt gehört; aber was den unglücklichen Menschen bewogen haben mochte, so plötzlich und ohne vorherige Anzeichen von Schwermuth oder Gram Hand an sein eigenes Leben zu legen, blieb ihm räthselhaft wie zuvor. Er konnte es nicht begreifen.



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