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Wie Hassan, der Schuhflicker, Richter wurde

Ein Kaufmann in Syrien hielt ein sehr großes Warenlager, als eines Tages ein reicher Fremder in seinem Laden erschien und sagte: »Kaufmann aus Damaskus, verkaufe mir deine Waren!«

»Das soll geschehen, wenn du mir die Summe dafür zahlen willst, die ich fordere.«

»So nenne sie!«

Der Kaufmann verlangte, und der Reiche war damit einverstanden. Er ließ das ganze Warenlager auf sechzig Kamelen fortbringen und kam am andern Tage wieder, um die Geldangelegenheit zu erledigen.

Da wurde alles bezahlt, also, daß nichts übrigblieb.

Der Verkäufer aber steckte seine Goldstücke ein und sagte: »Du schuldest mir nun noch das ›Nichts‹ – das mußt du mir ebenfalls bezahlen.«

Der Reiche dachte, er hätte nicht recht gehört; weit der Verkäufer seine Forderung jedoch wiederholte, nannte er ihn ›närrisch‹ und wollte seine Wege gehen.

Der Händler schlug alsbald einen großen Lärm, sie stritten sich noch lange hin und her und liefen zuletzt zu dem Sultan, dem sie ihre Sache vortrugen.

»Her mit dem Nichts!« forderte der Verkäufer.

Und – »das Nichts ist nichts; folglich ist es nicht etwas, das ich dir bezahlen könnte!« behauptete der Käufer.

Da schüttelte der Sultan den Kopf über den sonderbaren Streit und fragte sehr verlegen: »Und was ist denn das Nichts, das du verlangst?«

Der oberste Richter aber legte den Finger an die Nase und antwortete an Stelle des Gefragten: »Die Sache ist jedenfalls nicht so leicht zu entscheiden und wird dem Gerichtshöfe noch sehr viele Schwierigkeiten und Schreibereien bereiten. Es wäre am besten, du vergönntest uns Zeit, erhabener Herrscher, sieben Wochen darüber nachzudenken.«

Während der Sultan noch unschlüssig dastand, erschien Hassan, der Schuhflicker, im Saale und rief: »Wie kann man sich über eine so einfache Sache den Kopf zerbrechen! Laßt mich den Streit schlichten, o König!«

Der Sultan war nicht wenig über diese Rede erfreut, und da er schon manches von des Schuhflickers Klugheit gehört hatte, sagte er: »Wenn du diese schwierige Sache entscheidest und ins reine bringst, so will ich dich belohnen und zu Ehren bringen. Wenn du aber eine Dummheit machst, hast du deinen König zum Narren gehabt, und ich müßte dir dafür den Kopf abschlagen lassen.«

Hassan versetzte: »Ich höre und gehorche.«

Alsdann befahl er den Leuten, ein großes Becken zu bringen, das ließ er mit Wasser füllen und mitten im Saal aufstellen.

»Händler von Damaskus,« gebot er, »tritt herzu, schließe die Hand zur Faust und tauche die Faust festgeschlossen ins Wasser.«

Es geschah, wie er befohlen.

»Ist deine Hand im Wasser festgeschlossen?«

»Jawohl!« rief der Händler.

»So ziehe sie heraus und öffne sie. Was hast du nun in der Hand?« fragte Hassan.

»Nichts!« sagte der Händler.

»So hast du dies ›Nichts‹ auch nicht mit verkauft; denn du besitzest es ja noch – du hast also dafür auch kein Geld von jenem Manne zu empfangen. Nimm also dein Nichts und ziehe deines Weges.« –

Der Sultan, wie er diesen Richtspruch vernahm, schlug Hassan, dem Schuhflicker, vergnügt auf die Achsel.

»Das hast du fein gemacht, mein Freund!« sagte er. Dann zog er einen Ring mit einem sehr hellen und sehr kostbaren Diamanten vom Finger, steckte diesen dem Hassan an und ernannte ihn augenblicklich zum Oberrichter der Stadt; denn Weisheit und Gerechtigkeit sind zwei unbezahlbare Tugenden.

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