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Das Vogelkraut

Ein sehr reicher Mann in Bagdad hatte einen Sohn, den er sorgfältig erzog. Und als er alt geworden war, baute er sich in Damaskus einen Palast, siedelte dahin über und vermählte seinen Sohn mit einer schönen jungen Frau. Die beiden lebten sehr glücklich; aber die junge Frau ward krank, und alle Ärzte erklärten sie für verloren.

Da kam eines Tages ein alter Doktor aus Schiras in die Stadt, sah die Kranke und sagte: »Jenseits des Kaukasus, sechs Monatsreisen von hier, wächst auf einer Insel, die von bösen Geistern bewacht ist, das Vogelkraut. An diesem Kraute würde die junge Gattin genesen.«

Der Alte war über diese Auskunft untröstlich, denn er sah, daß sein Sohn sich augenblicklich zu der gefährlichen Reise rüstete. Aber der Doktor gab ihm ein Samenkorn der Baumwollstaude und sagte: »Steckt dieses Korn und pflegt den daraus emporsteigenden Strauch. Solange er grünt, ist Euer Sohn frisch und gesund; wenn er aber welkt, so will er Euch sagen: Spinne meine Baumwolle zum Leichentuch für deinen Sohn.« Darauf gab er dem trauernden Gatten ein Knäuel, das ihn führen sollte, und Aly setzte sich in den Sattel und ließ sich von dem rollenden Garne den Weg zur Stätte des Vogelkrautes weisen.

So kam er endlich an einen großen Wald, und das Knäuel stand am Eingang einer Höhle still.

Er band das Roß an einen Baum, schritt in das Innere des Berges und fand ein Feuer; daran saß ein altes Weib, das hatte Finger wie Gabeln, und Nägel daran, größer als die Austerschalen des Roten Meeres.

Zu Alys Verwunderung war die Alte sehr freundlich und sagte:

»Tritt näher, junger Mann! Mein Vater wird gleich wiederkommen, und du kannst von ihm Lehren erhalten, die dir nützlich sein werden.«

Allein Aly wollte nicht warten, weil ihm der Alte zu lange ausblieb. Und als er vor die Höhle trat, hauste draußen ein schreckliches Wetter. Ein Blitz fuhr hernieder und tötete das Roß, und während Aly sich liebevoll zu dem sterbenden Pferde neigte, zuckte ein zweischneidiges Schwert durch die Luft und zerhieb den Mann aus Damaskus in vier Teile.

Nun lebte im Schlosse seines Vaters ein Chinese, der mehr verstand, als Brot zu essen. Weil die Baumwollstaude im Garten welkte, rief dieser Chinese einen Geist und sagte: »Lieber Geist, du mußt mir helfen, meinen Herrn zu trösten und ein Mittel ersinnen, den Sohn wieder herzubringen.«

»Mein Gebieter,« antwortete der Geist, »das will ich wohl, aber was können wir mit einem gevierteilten Mann anfangen?«

Dennoch begab sich der Geist zu seinem Vogel Roch – denn jeder Geist hat einen solchen – und ließ von ihm den Leichnam herbeischaffen.

Der Chinese, der den Brunnen der Lebensquellen wußte, schöpfte Wasser daraus, legte die vier Stücke des toten Leibes aneinander, wie sie bei Lebzeiten gewesen waren, und wusch sie mit dem wundertätigen Wasser.

Da schlug das Herz wieder, da regten sich die Lider, da atmete der Mund, da wuchsen die vier Teile aneinander – und nach einer Stunde war Aly frisch und gesund. Aber seiner jungen Gattin war damit nicht geholfen. Er wollte die Reise ihr zuliebe noch einmal wagen, bat den Chinesen, daß er seinen Geist kommen ließe, und von diesem wurde er zurückgetragen zu der Stelle, an der ihn einst das verhängnisvolle Schwert getroffen hatte; denn weiter konnte ihn sein Helfer nicht bringen, weil die Geister der Insel hier herrschten.

Wieder hauste ein furchtbares Wetter; es war, als wollte die Erde spalten und als wollten die Berge stürzen, und die Höhlen stießen unaufhörlich Ströme von Rauch und Feuer aus.

In einem Käfig aber sah er einen Geier, von dem ihm der Geist auf der Fahrt erzählt hatte.

Diesen Käfig mußte Aly öffnen; denn der Vogel allein konnte ihm den Weg zu dem heilbringenden Kraute weisen.

Aber der Käfig ward von vierzig fliegenden Schwertern bewacht, die unaufhörlich in zuckenden Schlägen blitzten.

»Höre, Vogel,« rief er den Geier an; »ich will dich befreien; denn ich weiß, du bist ein von deinen Feinden verwünschter Geist. Aber du mußt versprechen, mir das Vogelkraut zu finden und mich damit nach Damaskus tragen.«

Der Vogel versprach das; aber Aly wußte, daß es ein sehr tückischer Geist war, dem er nicht trauen durfte; darum warf er ihm eine Schlinge um den Hals, wand sich durch die fliegenden Schwerter, die augenblicklich zur Erde fielen, als die Türe des Käfigs aufgehoben ward, und setzte sich auf des Geiers Rücken.

Der undankbare Vogel führte ihn nun zwar zu dem Kraute, gedachte aber bei jeder Gelegenheit zu entwischen und Aly seinem Schicksale zu überlassen.

Allein Aly wurde durch die Liebe zu seiner schönen kranken Gattin wachgehalten – sieben Wochen hatte er kein Auge geschlossen und seit drei Tagen nichts genossen als die Wurzeln des Waldes. Aber seine treue Liebe besiegte alle Beschwerden, und der Geier mußte sein Versprechen halten: Aly pflückte das Heilkraut, und im Garten des Schlosses von Damaskus setzte der Geier seinen Reiter ab.

Der alte Arzt bereitete alsbald drei Tassen Tee aus dem schwer errungenen Kraute: nach der ersten verließ die Kranke das Fieber, nach der zweiten lächelte sie halb freudig, halb traurig; nach der dritten erblühten ihre Wangen und ihr Mund wie rote Rosen in der Johannisnacht.

Und das hatte die Treue ihres Gatten geschaffen.

Das ganze Land liebte und ehrte ihn, am meisten aber die gerettete junge Frau, die ihm bis zu seinem Tode mit der gleichen Treue zur Seite stand.

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