Theophil Gautier
Die vertauschten Paare
Theophil Gautier

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XV

Wir haben die »Belle-Jenny« just in dem Augenblick verlassen, da sie aus dem Bett der Themse ins offne Meer hinaustrieb. Dem Kapitän selber mochte das »Wohin« dieser abenteuerlichen Reise unbekannt sein; denn als nun die salzige Meeresbrandung um die Schiffsplanken wogte, näherte sich Peppercul ehrerbietig dem auf einem zusammengerollten Schiffstau sitzenden Sidney mit der Frage:

»Herr, wohin befehlt Ihr die Fahrt?«

»Das wirst du erfahren, sobald wir angelangt sind, mein lieber Kapitän Peppercul.«

»O Herr, ich frage nicht aus Vorwitz«, entschuldigte sich der Kapitän. »Aber der Steuermann weiß nicht, ob er das Rad nach links oder rechts drehen soll!«

»Du hast recht,« erwiderte Sidney mit halbem Lächeln, ohne jedoch eine weitere Erklärung abzugeben.

»Der Wind hat seit gestern gedreht«, nahm Peppercul das Wort wieder auf. »Wir haben das herrlichste Wetter für die offene See. Sollten Mylords Geschäfte ihn jedoch das Baltische Meer oder den Pol vorziehen lassen, so ließ sich durch Kreuzen und Lavieren auch dieses Ziel erreichen.«

»Da uns der Wind schon ins Meer hinaustreiben will,« sagte Sidney mit trefflich gespieltem Gleichmut, »so mag der Wind seinen Willen haben!«

Sogleich gab Peppercul Befehl, die ›Belle-Jenny‹ in Windrichtung zu steuern. Die Segel wurden gelichtet, und alsbald schoß das Schiff im starken, anhaltenden Atem der Brise zwischen zwei Schaumkämmen dahin.

Da Sidney zu weiteren Reden keinerlei Neigung zeigte, zog sich Peppercul respektvoll in einige Entfernung zurück. Jack war eben damit beschäftigt, ein Tau auszubessern, als Sidneys Stimme ihn zu sich rief: »Bring mir die Frau, die wir vergangene Nacht aufgefischt haben, in meine Kabine.«

»Ich werde sie Eurer Lordschaft sogleich zur Stelle schaffen,« sagte Jack und verschwand in einer Luke wie ein Theaterteufel in der Versenkung. Während Jack sich zu Edith begab, die in einer Hängematte in den Tiefen des untersten Schiffsraumes lag, wandte sich Sidney mit sorgenvoll gefalteter Stirn seiner Kajüte zu, die er gleichzeitig mit der jungen Frau erreichte.

Aber was er erblickte, war nicht mehr die vor Frost zitternde Erscheinung, deren Blässe in der Finsternis leuchtete, sondern ein schlanker, junger Mann von mittlerer Größe in Schiffsjacke und geteerter Hose. Nur der bleiche Schimmer auf dem zarten, feinen Oval des Gesichtes war derselbe. Die Augen zeigten einen fiebrigen Glanz, und die fast farblosen Lippen hoben sich kaum von dem übrigen Gesicht ab. Eine leichte Verwirrung bewegte die traurigen Züge, und als Sidney jetzt die Augen auf sie richtete, bedeckte zarte Röte ihre Wangen. In Sidneys Mienen, der eine Frau erwartet hatte und sich nun unvermutet einem Schiffsjungen gegenübersah, malte sich ein deutliches Erstaunen. Jack aber, der sich hinter dem vermeintlichen jungen Mann hielt, begriff sogleich und gab seine Erklärung ab:

»Als wir Madame aus dem Wasser zogen, war sie mit nichts als einem weißen Fetzchen bekleidet, und da wir keine Damenroben an Bord führen, habe ich dieses rotwollene Hemd und die Hose neben ihre Hängematte gelegt. So kommt es, daß statt der aufgefischten Lady ein hübscher Schiffsmaat vor Ihrer Lordschaft steht.«

»Schon gut, Jack, du kannst gehen«, sagte Arthur Sidney, jede weitere Rede kurz abschneidend.

Mit Edith allein geblieben, prüfte er sie mit adlerscharfen Blicken; ja, es war, als durchleuchtete er mit einem Lichtstrahl ihr ganzes Wesen, um so die Gedanken in ihrem Kopfe und die Gefühle ihres Herzens zu lesen. Regungslos ließ Edith die Prüfung über sich ergehen, welche zweifellos zu ihren Gunsten auszufallen schien; denn Sidney erhob sich mit der gleichen Höflichkeit, die er ihr auch im Salon erwiesen hätte, berührte ihre Hand mit den Fingerspitzen und geleitete sie zu dem Diwan, der in einer Ecke der Kajüte angebracht war.

»Ich bitte Sie, Platz zu nehmen, Madame, Sie sind schwach und leidend; ganz abgesehen davon, daß es für jeden, der nicht auf einem Schiffe aufgewachsen ist, ein Kunststück bedeuten würde, sich bei diesem Seegang fest auf beiden Beinen zu halten.« Und in der Tat blieb der Fußboden keinen Augenblick in derselben Ebene, denn die ›Belle-Jenny‹ schoß wie ein wildes Pferd mit verhängtem Zügel durch die schäumenden Wogen.

Von Sidney geleitet, ließ sich Edith erschöpft auf den Diwan fallen. Ein Augenblick des Schweigens folgte, bis Sidney mit wohlklingender, ruhiger Stimme, die durch einen Ausdruck des Mitleids weicher als gewöhnlich klang, das Wort ergriff:

»Ich werde Sie nicht mit der Frage belästigen, ob es Verzweiflung oder ein Verbrechen war, was Sie in jener Sturmesnacht in die Themse trieb. Ein Wunder jedenfalls trieb im selben Augenblick unser Boot vorüber, das im Schutz der Nacht seinem geheimnisvollen Ziel zusteuerte. Wie vom Himmel fallen Sie mitten in unser Geheimnis hinein; Sie mischen sich wie ein deus ex machina in unsere Handlung und werden Mitwisser der Geschehnisse, die jedem Auge verborgen bleiben sollten. Ein einziger Ruderschlag hätte Sie dem wilden Wellengrabe überliefert. Meine Leute harrten nur eines Zeichens von meiner Hand!«

»O warum gaben Sie dieses Zeichen nicht?« seufzte Edith und bedeckte die Augen mit ihren durchsichtigen Händen.

»Ich konnte nicht,« entgegnete Sidney, »eine innere Stimme hielt mich davon zurück. Es erschien mir wie ein barbarischer, gottloser Frevel gegen den Willen des Geschickes selber: ein Geschöpf, das durch wunderbaren Zufall dem Leben bewahrt geblieben, zum zweitenmal dem Tode auszuliefern. Doch darf ich Ihnen nicht verschweigen, daß Ihnen dieses gerettete Dasein nicht zur freien Verfügung überlassen bleibt – jedenfalls so lange nicht, bis die große Aufgabe, der mein Leben gehört, zu Ende geführt sein wird. Das Schiff, das uns trägt, steuert fernen Ozeanen zu. Bis auf weiteres werden Sie für diese Welt gestorben sein.«

»Fürchten Sie nichts, Mylord, mich verlangt nach keiner Auferstehung!«

»Den Anzug, den Sie jetzt tragen, mögen Sie vorläufig beibehalten. Man wird Sie wissen lassen, wenn Sie sich seiner entledigen dürfen. Seien Sie indessen unbesorgt. Wir sind ehrliche Leute trotz unserer finsteren, unwirschen Art, und wir leben einem hohen Ziele.«

Sidneys Augen leuchteten bei diesen Worten; seine Stirn heiterte sich auf; sein ganzes Antlitz war verklärt. Aber als schäme er sich der offenen Regung, nahm er alsbald seine gewohnte kühle Ruhe wieder an und sagte:

»Vertrauen Sie meiner Aufrichtigkeit. Ich habe Sie dem Tode nicht entrissen, um Sie der Schande preiszugeben. Und da Verbrechen oder Selbstmord Sie in die Fluten getrieben haben, so sollen Sie versöhnt und glücklich wieder aus ihnen emportauchen! Die Gefahren, die Sie gemeinsam mit uns zu bestehen haben, sind glorreicher Art, und sollten Sie im Dienst der großen Sache untergehen müssen, so werden späte Jahrhunderte Ihr Andenken segnen.«

»Ja,« erwiderte Edith, »nun, da die Fäden alle zerrissen sind, die mich mit dem Leben verbanden, fühle ich, daß mir nur noch die Hingabe bleibt. Mein eigenes Glück ist dahin. Ich habe weder Ziel noch Hoffnung, nicht den armseligsten Daseinszweck. Alles ist mir verschlossen – sogar der Tod; denn der Himmel hielt mich über dem Abgrund fest, ohne mich sinken zu lassen! Verfügen Sie über Ihre Dienerin! Leihen Sie mir Ihren Willen! Füllen Sie mit Ihrer Seele mein verwaistes Herz! Seien Sie mein Gedanke! Von heute an schwöre ich mir ab. Ich will vergessen, wer ich war. Ich will alles, selbst meinen Namen verlernen und einen neuen von Ihnen empfangen. Ein bloßer Geist fügt sich willig jedem Ruf; ich werde an Ihrer Seite bleiben, bis Sie mir eines Tages sagen werden: Geist, ich bedarf deiner nicht mehr, kehre in dein Grab zurück.«

»Ich nehme dich an,« sagte Arthur Sidney mit feierlichem, beinahe frommem Ausdruck; »dich, die sich ohne Rückhalt preisgibt und in Treu und Glauben einem unbekannten Ziele weiht! Arme gebrochene Seele, du sollst statt des Glückes wenigstens die Ruhe finden! . . . Sie werden von nun an diesen kleinen Raum neben meiner Kabine bewohnen und vor den Augen der Mannschaft, die Sie nur in Frauenkleidern kennt, als mein Schiffsjunge gelten.«

*

So bezog Edith den engen Schlupfwinkel, und ihr Dienst, der sich auf den bloßen Anschein beschränkte, erschöpfte sich in kleinen Handreichungen, Herbeiholen des Fernrohrs oder Wegtragen eines Buches. Die ganze übrige Zeit stand sie an die Schiffsbrüstung gelehnt oder sie schwebte im Fockmast und ließ ihre Blicke mit den unendlichen Wolken wandern oder senkte sie in den Ozean, der ihr klein erschien neben der Unermeßlichkeit ihres Grames.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Indessen flog die ›Belle-Jenny‹ dahin im Raume des ehernen Kreises, den der Meereshorizont um jedes Fahrzeug zieht. Die Sonne ging auf und unter. Die weißen Schaumrosse schüttelten ihre Mähnen; Delphine spielten gleich Tritonen und Sirenen in ihrem Kielwasser. Zuweilen erschien weit, weit entfernt ein grauer, schaumgekrönter Küstenstreifen, gleich einer Wolkenbank, auf die ein Lichtstrahl fällt. Der Albatros wiegte im Flug seinen eignen Schlummer, kreiste zu Häupten des Schiffes oder streifte die Wellen: den einen Flügel ins Wasser getaucht, mit dem andern in Lüften rudernd. Mit jedem weiteren Tage wurde der Himmel klarer und die Nebel des Nordens blieben zurück wie Renner, denen der Atem ausgeht.

Und eines Tages war alles verschwunden: die Vögel und die Küsten; es blieben nur noch Meer und Himmel in ihrer stummen Majestät und sinnlosen Bewegtheit. Ein venezianisches Lied erzählt mit wunderbarer Wehmut von dem traurigen Los, ohne Liebe im Herzen aufs Meer hinaus zu müssen. Ein schöner, tiefer Gedanke: denn allein die Liebe vermag die Unendlichkeit auszufüllen. Aber diese Barcarole denkt freilich nicht an jene zerbrochene, hoffnungslose Liebe, die Edith für Volmerange im Herzen trug. Eine schwere Melancholie lag über der jungen Frau; immer schwebte ihr das glückliche Dasein vor Augen, das Gott und die Welt für sie bereitgehalten und das ein ruchloser Anschlag jählings vernichtet hatte. Und sie dachte an Lord und Lady Harley, an die furchtbare Verzweiflung des edlen Vaters und der würdigen Mutter. Dabei flossen die Tränen über ihre bleichen Wangen und waren bitterer als das Meereswasser, in das sie fielen.

Aus einem merkwürdigen Widerspruch heraus, der meine Leserinnen jedoch nicht in Erstaunen setzen wird, war Ediths Liebe zu Volmerange seit jener Schreckensnacht nur noch gewachsen. Seine wilde Zornesleidenschaft bewies ihr eine ebenso heftige Liebesglut; sein furchtbarer Rachetrieb erschütterte sie. Größere Milde hätte auf Gleichgültigkeit schließen lassen. Die Liebe, die sich Rechte über Tod und Leben anmaßt, ist nicht gewöhnlicher Natur. Wie ungeheuer mußte die Erwartung des Glücks gewesen sein, die er auf sie gesetzt hatte, daß er ihren Zusammenbruch nicht ertrug! Und was würde jetzt mit ihm geschehen? Verzweifelte er? Wurde er von Reue gepeinigt? Folgten ihm schon die Häscher auf den Fersen? Wie würde die Welt dieses furchtbare Rätsel zu lösen suchen? Solcher Natur waren die Fragen, auf die Edith sich hundert Antworten suchte, während die ›Belle-Jenny‹ bald im vollen Lauf, bald mit matten Segeln ihrem unbekannten Ziele zusteuerte.

Auch Benedict dachte häufig an Amabel; immer wenn er auf Deck an Edith vorüberkam, trafen sich ihre traurigen Blicke und ihre verwandten Schmerzen erkannten sich.

Endlich sichtete man Madeira, und Sidney entsandte ein Boot nach der Stadt, das mit frischen Vorräten und einer ganzen Frauengarderobe zurückkehrte: Kleider, Wäsche, Hüte, Schals – an alles war gedacht, nichts fehlte zu einer vollständigen Brautausstattung. Aber noch erhielt Edith keinerlei Anweisung, ihre Schiffstracht abzulegen.

Sei es, daß Benedict die bindende Verpflichtung zur Einlösung seines Schwures selber empfand, oder daß Sidney ihn für seine Pläne neu gewonnen hatte – er gab jeden Widerstand gegen die Gewalttat, die alle seine Glückshoffnungen zunichte gemacht hatte, auf und schien auch seinem Freunde keine Bitternis nachzutragen.

Tagelang saßen die beiden über einen schwebenden Tisch gebeugt, der mit Papieren und mathematischen Instrumenten bedeckt war. Nach vielem Nachdenken entwarf Arthur Sidney auf einer Schiefertafel komplizierte, mit algebraischen Zahlen versehene Zeichnungen, die Benedict mit größter Genauigkeit in Tusche ausführte. Zuweilen, ehe er sie zu Papier brachte, machte er Sidney, der ihm mit größtem Interesse zuhörte, auf das eine oder andere Bedenken aufmerksam, worauf meistens die ursprüngliche Skizze eine Änderung erfuhr. Nach vollendeter Ausarbeitung dieser Pläne machten sich die beiden Freunde an die Herstellung eines verkleinerten Modells. Sie schnitzten mit ernsthafter Miene kleine, fingerlange Holzstäbchen, deren Bestimmung nicht leicht zu erraten war. Und als auch diese Vorbereitung getroffen war, fügte Sidney mit großem Geschick die einzelnen numerierten Teile, die Benedict ihm reichte, zusammen. Auch er zeigte die lebhafteste Teilnahme am Gelingen des Werkes; und so stand denn eines Tages, als Frucht dieser seit Wochen eifrig betriebenen Studien, ein fußlanges Boot vor den Augen der beiden. Von außen glich es ganz einem jener Spielzeuge, wie die Kinder sie auf den Teichen und Bassins der Parks und königlichen Gärten schwimmen lassen. Innerlich aber zeigte es einen ganzen Apparat von Rädern, Röhren und Abteilungen.

Dieses dem bloßen Anschein nach kindliche Resultat ihrer Bemühungen schien jedoch die Freunde mit lebhafter Genugtuung zu erfüllen. Und als Sidney das letzte Stäbchen einfügte, entrang sich seiner Brust ein tiefer Seufzer der Befriedigung.

»Ich glaube, es ist uns gelungen,« sagte er, »soweit man eine Sache beurteilen kann, die erst theoretisch bewältigt wurde.«

»Wenn sich nur eine Probe anstellen ließe«, warf Benedict Arundell ein.

»Nichts leichter als das!« sagte Sidney und schlug auf eine neben ihm stehende Hammerglocke.

Wie von den Tiefen des Schiffsbauches ausgespien, wo er mit einem Kameraden tiefsinnige Betrachtungen über den spezifischen Gehalt von Arrak und Rum angestellt hatte, erschien Jack auf der Schwelle der Kabine und harrte der Befehle seines Gebieters, während er die Mütze in den Händen drehte.

»Schaff uns ein Becken mit Wasser herbei,« sagte Sidney zu Jack, der wie angewurzelt stehen blieb, als hätte er nicht recht gehört:

»Haben Eure Lordschaft wirklich ein Becken mit – Wasser befohlen?«

»Gewiß, was ist dabei verwunderlich?«

»Nichts, Mylord, ich glaubte mich verhört zu haben«, antwortete Jack; »Ihr sollt sogleich bedient werden.« Und wenige Minuten später erschien er wieder und setzte mit Hilfe seines Freundes Mackgill eine mit Wasser angefüllte Bütte auf den Boden der Kajüte nieder.

Als die Matrosen sich wieder entfernt hatten, ergriff Sidney die kleine, selbstgefertigte Schaluppe mit vorsichtiger Hand und setzte sie mit dem Ernst eines Kindes, das mit einem Kriegsschiff spielt, auf das Wasser.

Aber anstatt – wie wir erwartet hätten – zu schwimmen, senkte sich das kleine Fahrzeug ganz allmählich bis unter den Wasserspiegel, wo es stetig verharrte, ohne an den Boden des Beckens aufzustoßen. Obgleich es nun im allgemeinen nicht der Zweck eines Bootes ist, unterzugehen, waren Sidney und Benedict über dieses Resultat sichtlich entzückt; und Sidney rief voller Begeisterung: »Sieh doch, Benedict, wie es sich in der vorbestimmten Tiefe hält! Meine Berechnungen waren also richtig. O, jetzt bin ich meiner Sache gewiß!«

Seine Augen funkelten; seine Nüstern weiteten sich vom tiefen Atemzug edeln Stolzes geschwellt. Aber gleich darauf besann er sich auf seine übliche Haltung. Er streifte den Ärmel hoch, tauchte den nackten Arm ins Wasser und holte das kleine Schiff heraus, das er erst abtropfen ließ und dann sorgfältig verwahrte.

Der Erfolg dieser gemeinsamen Arbeit blieb nicht ohne Einfluß auf Benedict. Denn von diesem Tage an erhellte ein Hoffnungsstrahl seine traurigen Züge. Edith aber, die von dem Geheimnis des Bootes nichts wußte, verfiel aus ihrer anfänglichen Melancholie immer mehr in stumpfe Teilnahmslosigkeit. Wie wir schon erzählt haben, war ihre einzige Zerstreuung der graue Anblick der Unendlichkeit.

Die Reise währte nun schon an die drei Monate und schien noch immer kein Ende nehmen zu wollen. Die Kanarischen und die Kapverdischen Inseln lagen weit zurück. Als man sich der Himmelfahrtsinsel näherte, wurden Jack und Mackgill mit einem Boot nach einer genau beschriebenen Grotte ausgesandt, in der sie in einer am Eingang aufgehängten Flasche ein zusammengerolltes, mit rätselhaften Zeichen bedecktes Papier fanden, das sie Sir Arthur Sidney überbrachten. Nachdem dieser ein vielfach ausgeschnittenes Blatt seinem Portefeuille entnommen und auf den Brief gelegt hatte, las er das wirre Durcheinander fließend ab. Der Inhalt des hieroglyphischen Gekritzels mochte ihn zufriedenstellen; denn er sagte, zu Benedict gewandt: »Es ist gut, alles geht nach Wunsch.«

Wenige Tage nach dem Passieren der Himmelfahrtsinsel tauchte aus den Wassern ein graues Gebilde auf, das einer von der Sonne angezogenen Dunstwolke glich. Bald festigte sich indes die luftige Masse, und ihr Umriß zeigte sich deutlich am klaren Horizont. Eine Wolke war es nicht, nein, es war Land; es war eine Insel. Sie hob sich mehr und mehr aus dem Schoße des Meeres, zeigte aber wegen der Wölbung des Wasserspiegels vorerst nur die zackige Silhouette eines Gebirges. Bald aber offenbarte sie sich ganz: regungslos und finster, mit einem weißen Schaumgürtel angetan, lag sie inmitten der unendlichen Weite. Riesige Felsen mit Spitzen von wohl zweitausend Fuß Höhe ragten mit ihren vulkanischen Massen über das Meer hinaus, das ihre Füße beleckte und mit mänadischer Wut in den von seinem ewigen Ansturm ausgewaschenen Höhlungen schäumte, als verfolge es mit leidenschaftlichem Willen ein bestimmtes Ziel. Die Häupter der gewaltigen Granitmassen schwammen in Nebeln und vereinzelten Lichtstrahlen. Die gigantischen Schluchten, die von aller Vegetation verlassenen Abhänge, auf denen die Spuren der erkalteten Lava wie Narben hervortraten, und die von Regenstürzen zermürbten Gipfel boten einen Anblick wilder und düsterer Majestät und großartiger Schrecklichkeit. Sie mochten an dem Tage, da die Titanen den Himmel erstürmten, niedergestürzt sein. Noch trugen sie die Brandmale des Blitzgefeuers im zerklüfteten Gestein. Übermenschliche Schicksale mußten sich hier abspielen; eine unerhörte Rache, eine Qual, die das Martyrium vom Kaukasus heraufbeschwor. Unwillkürlich spähte der Blick den Felsblöcken entlang nach der kolossalischen Vision des gefesselten Prometheus. Der willigen Phantasie mochte ein menschenähnlich gebildeter Steinriese den großen Dulder, die schwebend ausgebreitete Wolke den grausamen Adler vortäuschen. Und in der Tat litt hier ein zweiter Prometheus, den Macht und Gewalttätigkeit an diesen Felsen geschmiedet hielten wie in der äschyleischen Tragödie.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Die ganze Besatzung hatte sich auf Deck zusammengefunden. Sir Arthur Sidney verschlang den Anblick der schwarzen Insel mit unbeschreiblichen Blicken, in denen Scham, Schmerz und Hoffnung sich mischten. Stumm drückte er Benedicts Hand, der sich in tiefer Ergriffenheit neben ihm hielt. Ja, selbst Kapitän Peppercul hatte eine nur halb geleerte Galone mit Rum stehen lassen – und das war für ihn das Zeichen allertiefster Ergriffenheit.

Es wurde Befehl erteilt, die Anker zu werfen: der kleinen Stadt gerade gegenüber, deren graue Häuser in einen Felsenriß hineingelagert waren. Es mochte der einzige Ort sein, den der natürliche Festungsgürtel, der sich um die Insel legte, freigelassen hatte.

Edith war sich in ihrer vollkommenen Lethargie der Fahrtrichtung des Schiffes nie bewußt geworden. Durch den Anblick der düsteren Insel seltsam bewegt, näherte sie sich jetzt schüchtern Arthur Sidney, der keinen Blick von dem großartigen Bilde verwandte. Da er ihrer nicht gewahr wurde, berührte sie mit den Fingerspitzen seinen Arm und sagte mit einer ob der ungewohnten Anrede zitternden Stimme: »Mylord, wie nennt sich diese Insel?«

»Diese Insel,« wiederholte Sidney wie aus tiefem Traum erwachend, »diese Insel heißt Sankt Helena!«


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