Theophil Gautier
Die vertauschten Paare
Theophil Gautier

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IX

Kaum hatte Benedict Arundell sein frugales Mahl beendet, als auch schon die Falltür sich öffnete und die vier schon früher beschriebenen Gesellen in schweigender Reihenfolge dem Loch entstiegen. Einer von ihnen wechselte mit Saunders ein paar Worte in einem krausen, Benedict unverständlichen Kauderwelsch, in dem sich wie in jeder unbekannten Sprache ein Satz wie ein einziges langes Wort anhörte. Der Leser mag erfahren, daß das Gespräch in einem mit Gaunerworten untermischten Gälisch geführt wurde. Zwei der Ankömmlinge hielten sich in der Nähe der Falltüre, und jetzt schritt Saunders auf Benedict Arundell zu und sagte:

»Möchten Euer Gnaden die Liebenswürdigkeit haben, uns zu folgen. Die Stunde der Abreise ist gekommen.«

»Abreise!« rief Arundell und wich unwillkürlich ein paar Schritte von der Falltür zurück.

»Ich hoffe,« sagte Saunders mit höflicher Bestimmtheit, »Mylord werden einsehen, daß es besser ist, keinen Widerstand zu leisten. Wir sind fünf starke, gut bewaffnete Kerle, ein Kampf ist also von vornherein aussichtslos. Wir werden die Befehle, die man uns gegeben hat, unter allen Umständen ausführen; im Notfall wären wir also gezwungen, Gewalt anzuwenden, selbstverständlich mit der allergrößten Rücksicht; denn es soll Euch kein Haar gekrümmt werden.«

»Ich folge Euch,« sagte Arundell, der keinen anderen Ausweg sah und heimlich bedachte, daß ihm, einmal im Freien, die Flucht eher gelingen möchte. Die kleine Schar begann also wieder nacheinander in dem dunkeln Loch zu verschwinden; Saunders, der den zurzeit willenlosen Benedict führte, folgte als letzter.

Nachdem man an die zwanzig Stufen zurückgelegt hatte, gelangte man zu demselben Gitter, das zuvor Arundells Fluchtversuch vereitelt hatte. Jetzt wandte sich Saunders an Benedict mit den Worten:

»Zu meinem größten Bedauern sehe ich mich genötigt, Euch zu knebeln – es sei denn, daß Ihr mir Euer Ehrenwort als Gentleman verpfändet, weder zu schreien, noch irgend jemanden um Hilfe anzurufen. Es sollte mir leid tun, wenn ich Euch wie einem Kalb, das von der Kuh gerissen wird, den Mund verstopfen müßte.«

Da es letzten Endes auf das gleiche herauskam, ob Benedict aus freien Stücken Schweigen gelobte oder durch einen Knebel dazu gezwungen würde, so gab er sein Wort.

»Das Versprechen, keinen Fluchtversuch zu unternehmen, will ich Euch ersparen; denn das zu verhindern, ist meine Sache,« sagte Saunders. Er steckte seinen Knebel in die Tasche zurück und zog dafür einen Schlüssel heraus, der das Gitter öffnen sollte. Einer der Matrosen leuchtete mit der Laterne, bis der Schlüssel in dem von der steten Feuchtigkeit rostigen Schlosse steckte, das eine schwächere Hand als die des mächtigen Saunders auch jetzt noch nicht aufzuschließen vermocht hätte. Dreimal drehte er den Schlüssel um, und nun öffnete sich das von zwei Matrosen aufgestoßene Gitter mit heiserem Kreischen.

Sogleich nahm die Mannschaft ihre Plätze ein. Sie legten die Ruder in vollkommener Symmetrie bereit, um auf den ersten Befehl abzustoßen. Saunders nahm mit Benedict seinen Sitz am Steuer ein.

Im selben Augenblick, da das Boot sich im Antrieb der ersten Ruderschläge in Bewegung setzte, verirrte sich ein Strahl der Laterne nach dem Schnabel des Schiffes hin und fiel auf eine in einen Mantel gehüllte, finstere Gestalt, die einen breitrandigen Hut tief in die Stirn gezogen hatte. Da aber löschte Saunders die Laterne, und die Erscheinung sank ins Dunkel zurück.

Schon nach wenigen Minuten glitt das Fahrzeug von dem finsteren Kanal in die Wasser der Themse hinaus. Der vor dem Wind zerstiebende Nebel floh in großen Fetzen über den niedrighängenden, schwarzen Himmel. Man fuhr wie in einem von Fackelrauch erfüllten Grabgewölbe dahin, dessen finstere Kuppel jeden Augenblick in schweren Blöcken auf die schlafende Stadt einzustürzen drohte, deren ebenholzschwarze Silhouetten zu beiden Seiten des Flusses kaum hier und dort von einem Lichtfünkchen belebt wurden. Es war eine Nacht des Schreckens. Die Themse wälzte ihre Wellen wie ein Meer. Die am Anker liegenden Schiffe reckten seufzend ihre Masten, wie der auf einer Folterbank ausgestreckte Delinquent seine Glieder. Fahrzeuge stießen mit dumpfem Gepolter aneinander, und die schweren Wasser fielen in sich selber zurück, mit einem Seufzer, wie er sich der vom Alp gepreßten Brust entringt. Der Wind jammerte wie ein Kind, das von einer Hexe zu scheußlichen Zwecken erdrosselt wird. Und über diesem ganzen klagenden, wortlosen, grausigen Stimmengewirr donnerte im Hintergrund die Brandung.

Die Bauten, die sich an dem Ufer entlangziehen: Magazine, Speicher, Fabriken mit flammenspeienden Kaminen, Landungsstege mit hohen, ausgebauten Geländern, Kirchen, die ihre altertümlichen normannischen Pfeiler oder ihre klassizistischen Türme über die Häuser hinausrecken – sie alle verloren das Kleinliche, das ihnen im Tageslicht anhaften mochte, und nahmen zyklopische, kolossale Dimensionen an. Die Dächer wurden zu Terrassen, Kamine zu Obelisken und Leuchttürmen, ein riesenhaftes Warenschild mit seinen ausgeschnittenen Buchstaben erweckte den Eindruck einer kostbar durchbrochenen Balustrade an einem luftig gebauten Balkon. Alle diese düsteren, riesenhaften und wirren Massen vereinigten sich zu einem Ninive, über das der Zorn Gottes im Gewölk dahinfährt. Ein Kupferstecher hätte mit seinen schwarzweißen Kontrasten eines jener schauerlichen biblischen Blätter daraus gemacht, in denen die Engländer Meister sind.

Als Sir Benedict Arundell bemerkte, daß das Boot sich ziemlich dicht am Ufer hielt und Saunders' Hand, die wie ein Eisenring um seinen Arm lag, ihren Griff mit der Zeit etwas lockerte, glaubte er der Wachsamkeit seines Wächters ein Schnippchen schlagen zu können, und er fuhr mit einem so jähen Ruck in die Höhe, daß die Jolle zu kippen drohte. Schon stand sein Fuß auf dem Bootsrand, schon fühlte er ihn vom Wasser umspült, und nur wenige Armlängen trennten ihn vom Ufer – da griffen Saunders' sehnige Hände aufs neue wie mit Eisenzangen zu und nötigten ihn mit wuchtigem Druck auf seinen Sitz zurück.

Während dieses gedankenschnellen Auftritts hatte sich der bis dahin regungslos schweigende Unbekannte blitzschnell erhoben und seinen Arm helfend ausgestreckt. Den vier Ruderern aber gelang es nur mit größter Mühe und Vorsicht, das aus dem Gleichgewicht geratene Fahrzeug gegen den Wellenstrudel flott zu erhalten. Bei seiner raschen Bewegung verschob sich der Mantel des Fremden, und Benedict glaubte die Züge seines Freundes Sidney zu erkennen. Aber der Mann warf seine Umhüllung wieder dergestalt über die Schulter, daß sein Gesicht bis zur Nase von den Falten zugedeckt wurde. Die Augen verbargen sich unter der breiten Hutkrempe, und es war hinfort unmöglich, weitere Forschungen über seine stumme Persönlichkeit anzustellen.

Mittlerweile hatte der Sturm an Wucht zugenommen. Es war, als schösse der Wind die Regenschwaden gleich eisigen Pfeilen von einem unsichtbaren Bogen ab! Die Luft war mit Wasserdämpfen übersättigt, und der in Streifen abgerissene Wogenschaum schwebte mit phosphoreszierendem Leuchten durch die Dunkelheit. Die wilde Brandung schlug fortwährend über Bord, und den Matrosen gelang es nur mit Aufbietung aller Kräfte, indem sie die Füße gegen die Bretter stemmten und mit zurückgeworfenen Leibern an den Rudern hingen, das Fahrzeug in der gewünschten Richtung zu erhalten.

Hinter zwei riesigen Wogen passierte die Jolle die Polizeiwache, deren rotes Licht wie ein trunkenes oder schlafmüdes Auge blinzelte.

»Es stürmt, als gälte es des Teufels Hörner zu entwurzeln«, brummte Saunders, und da er bemerkte, daß Benedict in seinem feuchten, dünnen Anzug fröstelte, hob er mit dem Fuß einen auf dem Schiffsboden liegenden Wettermantel hoch und warf ihn ihm über die Schulter.

»Eines ist gewiß,« fuhr er dann fort, »daß wir bei diesem Wetter nicht allzu vielen Lustjachten auf der Themse begegnen werden. Das Wetter meint es gut mit uns – vielleicht sogar etwas zu gut«, schloß er, als eine wuchtige Welle mitten in sein Gesicht klatschte.

Ganz besonders unheimlich waren die Durchfahrten unter den Brückenbogen. Dort fingen sich die Wasser mit fürchterlichem Getöse, und die Brandung überschlug sich in wilden Sturzfluten. Der Sturm fuhr von der entgegengesetzten Seite dazwischen, ohne doch die wütend aufgewühlten Wasserwirbel meistern zu können, die in den engen Durchgängen wogten.

Die Luft brüllte, das Wasser pfiff und zischte, und der Widerhall in den schweren Steingewölben steigerte den Aufruhr zu einem ohrenzerreißenden Tumult.

Das mit wunderbarem Scharfsinn und einer an Hellsicht grenzenden Wachsamkeit durch diesen Hexenkessel gesteuerte Boot schoß genau durch die Mitte des am meisten geschützten Brückenbogens hindurch. Es schaukelte wie ein Strohhalm mitten auf dem Niagara oder auf dem Maelstrom und kam alsbald auf der anderen Seite, kokett hüpfend und mit berechtigtem Stolz, wieder zum Vorschein.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Da geschah es, daß in ebendemselben Augenblick, als man die Blackfriars-Bridge passieren wollte, vom obersten Punkt des Brückenpfeilers aus eine weiße Gestalt nur wenige Meter von der Jolle entfernt, wie eine Handvoll Schwanenflaum, auf das Wasser hinunterfiel. Der »Flaum« schlug um sich, und es erschienen zwei Frauenarme über einem vom Wind geblähten Rock. Als die Jolle in voller Fahrt an dem bleichen Phantom vorübergleiten wollte, das wie eine Elfe oder Nixe im deutschen Märchen auf den dunkeln Wellen schwamm, klammerten sich verzweifelte Hände mit so leidenschaftlicher Kraft an die Schiffswand an, daß sich die Nägel der sonst zarten und schwachen Finger in das Holz hineinbohrten. Hätte einer der Insassen zufällig nach oben geblickt, so würde er im Dunkel der Nacht eine undeutliche Gestalt wahrgenommen haben, die sich über das Brückengeländer herabbeugte.

Durch die neue Belastung nach einer Seite hin legte sich die Jolle schräg; ein flacher, breiter Wasserstrahl schoß über Bord, und ein Kentern wäre unvermeidlich gewesen, wenn die Ruderer nicht mit rascher Geistesgegenwart sich auf die Gegenseite geworfen hätten.

Ein von triefendem Haar umrahmtes, wirres und so blasses Antlitz, daß es sich vom Dunkel der Nacht hell abzuheben schien, tauchte auf der Längsseite des Bootes auf; zwei weit aufgerissene, braune Augen glänzten wie verdunkeltes Silber, und vor Kälte blaue Lippen stießen mit einem unbeschreiblichen Ausdruck die Worte hervor: »Rettet mich – rettet mich!«

»Was tun?« fragte Saunders. »Wenn sie nicht locker läßt, schleppen wir einen Hemmschuh, der uns verspäten wird, oder aber wir kentern. Man könnte ihr ja die Hände abhacken; dann fiele sie in das Wasser zurück, vor dem sie so große Angst zu haben scheint, aber das wäre unfreundlich.«

»Das wäre ein unmenschliches Verbrechen!« rief Benedict, und schon hatte er die Hände der Unglücklichen ergriffen und versuchte, sie ins Innere des Bootes hineinzuziehen.

Alle Matrosen warfen sich auf die Gegenseite, und da der geheimnisvolle Mann im Vorderschiff keinen Einspruch erhob, unterstützte Saunders Benedict bei seinem Rettungswerk. Um die kleine Verspätung, die durch diesen Zwischenfall entstanden war, einzuholen, schoß die Barke jetzt mit verdoppelter Eile dahin; bald lagen sämtliche Brücken Londons zurück. Schneller als ein Pfeil glitt sie an den Reihen der Schiffe vorüber, deren Sparren mit unheimlichem Gepolter aufeinandertrafen, während die vom Wind gerüttelten Eisenketten wie Nachtvögel kreischten.

Tiefes Schweigen herrschte unter den Insassen der Jolle. Die Matrosen schienen den Atem anzuhalten; die mit Stoff umwickelten Ruder schnitten so leise ins Wasser, als tauchten sie nur in eine Nebelschicht. Der einzig vernehmbare Laut war das Zähneklappern der unglücklichen Frau, die in ihren nassen Kleidern vor Kälte schauerte.

Endlich gelangte man aus dieser Stadt von Schiffen heraus, die sich in Gruppen von London-Bridge bis zur Hunds-Insel entlangzieht; und die Matrosen tauchten nun ihre Ruder mit größerer Wucht und geringerer Vorsicht in ein ruhigeres Wasser; denn der Sturm war im Abnehmen begriffen.

Benedict, der einen Zipfel des Wettermantels, den ihm Saunders zugeworfen, über die mit weißem Musseline bekleidete junge Frau gebreitet hatte, ahnte nicht, daß er die Unglückliche am Morgen desselben Tages unter dem Portal von Sankt Margareth schon einmal gesehen, und daß ihr Brautschleier seinen Ärmel im Vorübergehen gestreift hatte. Und auch die arme Edith Harley – denn sie war es – vermutete in dem Manne, zu dessen Füßen sie sich jetzt schluchzend wand, nicht den glücklichen Bräutigam Arundell.

Ein sonderbares Geschick vereinigte in der zerbrechlichen Barke inmitten einer Sturmesnacht den Bräutigam ohne Braut, die Gattin ohne Gatten. Ein launischer Zufall hatte die Paare, die so ganz füreinander bestimmt schienen, voneinander gerissen und begann aus den abgetrennten Hälften ein neues zu formen.


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